Der Ansatz, betriebliche Zusammenhänge nicht mehr in Organisationsstrukturen oder Funktionen zu denken, sondern in Prozessen, also in Abfolgen von Aktivitäten, wurde seit Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelt. Besonders die Arbeiten von Michael Hammer und James Champy zum Business Process Reengineering waren Wegbereiter. Business-Process-Management (BPM) und Geschäftsprozess-Modellierung sind heute Standarddisziplinen in fast allen Unternehmen und Organisationen.
Begriffe im Case-Management
BPM orientiert sich stark an den Paradigmen der Fertigungsindustrie: Die Methode geht in der Regel von Produktionslinien - sogenannten "Swimlanes" - aus, in deren Rahmen eine Sequenz von vordefinierten Arbeitsschritten abläuft. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass sich nicht alle Geschäftsvorfälle in diesem recht starren Rahmen optimal abbilden lassen. Klassische BPM-Modellierungsansätze und -Standards offenbaren bezüglich der Anforderungen in der realen Welt immer wieder Schwächen, weil sie sich zu sehr auf den Prozessfluss konzentrieren und nicht auf die zu erledigenden Aufgaben sowie die Frage, wie die Arbeit optimal strukturiert werden kann.
In Industrien wie der Fertigung oder der Logistik passt das herkömmliche Prozessmodell gut, während sich andere Branchen, etwa Versicherungen oder Einzelhandel, eher schwer damit tun. Vor allem in einer immer stärker digitalisierten Welt benötigen Geschäftsvorfälle mehr Freiheitsgrade. Auch die Forderung nach Agilität und Flexibilität zugunsten einer kürzeren Dauer des Prozesses sind Aspekte, bei denen das klassische BPM Schwächen zeigt. Nicht alle Aktivitäten und Arbeitsschritte sind planbar, Ad-hoc-Aktivitäten lassen sich in einem starren Prozessmodell und den damit verbundenen Modellierungsstandards nur ungenügend unterbringen. Oft scheitern ambitionierte BPM-Projekte genau daran.
Was im BPM fehlt, ist die Fokussierung auf die zu erledigende Gesamtaufgabe, also auf den eigentlichen Geschäftsvorfall - den "Case". Diese Lücke schließt das Case-Management, das sich am Denken eines Anwenders orientiert. Man beginnt mit der Beschreibung des Vorgangs (Case) und den Phasen, die er bis zur fallabschließenden Bearbeitung durchläuft (Case Lifecycle). Innerhalb der einzelnen Phasen werden die Arbeitsschritte beziehungsweise Tasks oder Prozesse zusammengefasst, die notwendig sind, um einen Case in die nächste Phase seines Lifecycle übergehen zu lassen.
Prozesse sind dem Case untergeordnet
Ein solcher Case kann beispielsweise der Schadensfall bei einer Versicherung, eine Kontoeröffnung in der Bank, der Vertragsabschluss bei einem TK-Provider oder die Ankunft eines Flugzeugs sein. Der Geschäftsvorfall bildet die logische Einheit, der die Prozesse untergeordnet sind. In Abgrenzung davon beschreiben Prozesse die notwendigen Arbeitsschritte, mit denen der Case in den einzelnen Phasen des Case Lifecycle so bearbeitet wird, dass der Fall abgeschlossen werden kann. Man könnte den Case auch als zeitlich und sachlich abgeschlossenes Konglomerat von Prozessen sehen.
Cases haben meistens mehrere Bearbeiter beziehungsweise einzubeziehende Personen. Sie sind in aller Regel abteilungsübergreifend und umfassen Informationen in strukturierter und unstrukturierter Form. Sie können auch hierarchisch organisiert sein und beispielsweise in Cases und Sub-Cases unterteilt werden. Das Konzept des Case-Managements stammt ursprünglich aus dem Dokumenten-Management. Als Weiterentwicklung dieses stark auf Dokumente ausgerichteten Ansatzes deckt Dynamic-Case-Management (DCM) auch Veränderungen ab, die sich während der Bearbeitungszeit ergeben, schließt also darüber hinaus auch Rückkopplungseffekte ein.
Beispiel: Effiziente Abläufe im Flughafen
Dynamic-Case-Management unterstützt eine hierarchische Strukturierung der Geschäftsvorfälle – hier am Beispiel eines Flughafen-Managements zu sehen, von der Landung bis zum erneuten Start eines Flugzeugs. Das DCM strukturiert den Case in einzelne Teilvorgänge wie beispielsweise die Reinigung oder das Betanken. Dabei erlaubt das Case-Management im Idealfall ein flexibles Reagieren auf unvorhergesehene Ereignisse wie schlechte Wetterbedingungen oder technische Probleme. Abweichungen und Varianten werden im System erkannt, und der Geschäftsvorfall wird automatisiert an die neuen Rahmenbedingungen angepasst.
Zu Veranschaulichung des Vorgehens beim DCM soll hier einmal nicht, wie meist üblich, der Schadensfall eines Versicherungsunternehmens dargestellt werden, sondern ein Beispiel aus einer anderen Branche: die Ankunft eines Verkehrsflugzeugs an einem internationalen Airport. Konkret bezieht sich das Beispiel auf die Implementierung von DCM am Londoner Airport Heathrow, einem der verkehrsreichsten Flughäfen der Welt mit jährlich rund 65 Millionen Reisenden und mit 75.000 Mitarbeitern.
Zielsetzung des Projekts waren effizientere Airport Operations. Die Betreibergesellschaft des Flughafens setzt heute DCM als Basis für ihre Airport-Collaborative-Decision-Management-Lösung ein. Mit Hilfe der Lösung wird die Entscheidungsfindung und die Zusammenarbeit der Mitarbeiter - beispielsweise im Tower oder beim Bodenpersonal - unterstützt. Die Abfertigung eines Flugzeugs von der Landung bis zum erneuten Start wird im System als ein Case abgebildet. DCM hilft dabei, den kompletten Vorgang in einzelne Teilvorgänge wie die Reinigung und die Betankung des Flugzeugs oder auch die Gepäckbeförderung zu strukturieren.
Dabei erlaubt DCM - und das ist besonders wichtig - ein flexibles Reagieren auf unvorhergesehene Ereignisse, etwa auf schlechte Wetterbedingungen oder technische Probleme, die gerade im Flugwesen immer auftreten können. Abweichungen und Varianten werden vom System erkannt und der Air-to-Air-Case sowohl manuell als auch automatisiert an die neuen Rahmenbedingungen angepasst. Dafür werden zum Beispiel neue Sub-Cases - wie etwa ein Auftrag an einen Techniker zur Behebung eines Problems - hinzugefügt, oder es werden veränderte Anforderungen an Ressourcen dynamisch angepasst. Dabei kann es sich beispielsweise um zusätzliche Gepäckwagen für den Transport der Koffer handeln oder um die Zuweisung einer anderen Rollbahn für ein Flugzeug.
System überwacht Abarbeitung der Aufgaben
Anstehende Aufgaben werden automatisiert und regelbasiert an die richtige Stelle weitergeleitet. Die fristgerechte Bearbeitung von Aufgaben wird wiederum durch das System überwacht und bei Überschreitung der Service-Level-Vereinbarungen gegebenenfalls eskaliert. Das System erhält Daten aus den operativen Systemen des Flughafens, mit deren Hilfe die Entscheidungsfindung unterstützt oder weiter automatisiert werden kann.
Mit dieser DCM-Lösung konnten die Betreiber von Heathrow den Anteil der pünktlichen Abflüge von 68 Prozent auf 85 Prozent erhöhen. Damit verringerten sich auch die Strafgebühren, die für verspätete Abflüge gezahlt werden müssen. Insgesamt ließen sich die diversen Ressourcen am Flughafen effizienter nutzen und damit auch die Umweltbilanz verbessern. Zu guter Letzt steigern die geringere Zahl an Verspätungen und die reibungslosere Abwicklung der Prozesse außerhalb des Flugzeugs, etwa die Bereitstellung des Gepäcks, auch die Zufriedenheit der Fluggäste. Das Beispiel zeigt, dass sich DCM auch für die Lösung komplexer Aufgaben eignet. (ba)