Normalerweise ist die PTC-Hausmesse in Boston vor allem für ihre Keynotes mit Lasershows, prominente Gästen und zahlreiche Live-Demos bekannt. Nicht in diesem Jahr: Wie so viele andere Konferenzen wurde auch die PTC LiveWorx 2020 als virtuelle Veranstaltung konzipiert. Die Präsentationen fanden nicht im Boston Convention & Exhibition Center statt, sondern wurden via Webcams aus diversen Homeoffices übertragen.
In seiner Keynote zeichnete CEO Jim Heppelmann zunächst auf, wie sich Business-Anwendungen durch die Cloud und Software as a Service (SaaS) Tools verändert haben. In ähnlicher Weise würden in Zukunft auch Produkt-Engineering und -Entwicklung - die heute noch weitgehend vor Ort stattfinden - in die Cloud verlagert werden. Angesichts der COVID-19-Krise, die viele Menschen dazu gezwungen hat, von zu Hause aus zu arbeiten, manifestiere sich dies mehr und mehr in der Realität, erklärte der PTC-Chef.
OnShape-Übernahme trägt Früchte
Anders als der Großteil der Knowledge Worker hätten die Entwicklungsabteilungen im Zuge der Corona-Krise Schwierigkeiten dabei gehabt, nahtlos im Homeoffice weiter zu arbeiten, so Heppelmann. Der Grund: Daten und Anwendungen lägen auf den großen Workstations, die im Büro auf dem Schreibtisch stehen und der Wechsel auf ein anderes Gerät zuhause sei nicht so einfach möglich. PTC sei allerdings schon lange vor Corona zur Schlussfolgerung gekommen, dass Engineering-Software in die Cloud gehöre, so Heppelmann, und habe daher schon im vergangenen November die 470 Millionen Dollar schwere Akquisition von OnShape abgeschlossen.
Bei OnShape handelt es sich um die erste SaaS-Produktentwicklungsplattform, die CAD mit Datenverwaltungs- und Kollaborationswerkzeugen vereint. Damit verfügt PTC aber nicht nur über ein rein SaaS-basiertes CAD- und PLM-Angebot der nächsten Generation. Das Unternehmen nutzt OnShape auch für eine Multi-User- und Multi-Tenant-SaaS-Plattform, die im gesamten PTC-Portfolio genutzt werden kann. "Wir haben diese Plattform Atlas genannt, weil sie letztlich die gesamte SaaS-Welt von PTC auf ihren Schultern tragen wird", so Heppelmann in seiner Keynote.
Mit Hilfe von Atlas plant das Bostoner Unternehmen, SaaS-Versionen aller wichtigen Softwareprodukte anzubieten. Damit entspricht PTC einem gängigen Trend, denn Branchenanalysten wie IDC prognostizieren, dass bis 2022 bereits 70 Prozent aller Fertigungsunternehmen Cloud-basierte Plattformen und Marktplätze für die gemeinsame, branchen- und kundenübergreifende Entwicklung nutzen werden. Der Wendepunkt sei dabei bereits überschritten, fügte Heppelmann an.
Wie der PTC-Chef weiter ausführte, verhilft OnShape nicht nur zu mehr Mobilität und Flexibilität, sondern unterstützt Unternehmen auch bei der gemeinsamen Entwicklung neuer Produkte: So sei es heutzutage noch erforderlich, dass in jedem Unternehmen einer Lieferkette die gleiche Version der gleichen SW-Tools installiert und verteilt sein muss, um den Datenaustausch zu erleichtern.
Das bedeutet, dass Upgrades in der gesamten Lieferkette simultan vorgenommen werden müssen, damit alle interoperabel bleiben, erklärte der PTC-Chef: "Fragen Sie einen Automobilzulieferer, wie es ihm gefällt, bestimmte Versionen von Siemens NX warten zu müssen, um mit General Motors zusammenzuarbeiten, während er unterschiedliche Versionen von Catia vorhalten muss, um mit Ford zu kooperieren. Mit OnShape ändert sich das: Jeder hat die neueste Version und nutzt immer die aktuellsten Daten."
Google Docs meets CAD
Um aufzuzeigen, wie OnShape die Zusammenarbeit in der Lieferkette unterstützen kann, verwies Heppelmann auf die Francisco-Gavidia-Universität in Ecuador. Die Universität erstellte innerhalb von wenigen Tagen zusammen mit einigen Unternehmen mit Standardmaterialien ein COVID-19-Beatmungsgerät. Die Universität und ihre Industriepartner nutzten dabei SaaS-Produktentwicklungs-Tools, um die Entwürfe schnell zu iterieren und das Beatmungsgerät mittels 3D-Druck auf den Markt zu bringen. "OnShape verhält sich wie Google Docs, aber für CAD. Wir können Prototypen innerhalb von Tagen erstellen", so der Kommentar eines Projektbeteiligten in der Videoeinspielung.
Bei der Aachener e.Go Mobile AG wiederum unterstütze OnShape das Franchise-Modell in China und Mexiko, da es Partnern den Zugang zu Daten erlaube, ohne Kopien davon auszuhändigen, so Heppelmann weiter. Plus der Möglichkeit, gemeinsam an lokalen Anpassungen der Elektroautos zu arbeiten und den laufenden Datenzugriff zu überwachen.
Als Beispiel dafür, wie SaaS eine flexiblere Produktion ermöglicht, verwies Heppelmann auf den PTC-Partner Rockwell Automation, Lieferant für industrielle Steuerungshardware und Fertigungssoftware. Die beiden Unternehmen arbeiten gemeinsam an neuen Möglichkeiten in der Fertigungstechnik, darunter eine Art Digitaler Zwilling einer kompletten Fabrik. Dieser soll helfen, Risiken und Ausfallzeiten im Zusammenhang mit der Einrichtung neuer Produktionslinien oder Änderungen an der Linie zu reduzieren, um dann das Leistungsniveau optimieren zu können.
"Wir haben gesehen, dass wir die Zeiten für die Inbetriebnahme und Validierung einer Produktionslinie um mindestens 50 Prozent verringern konnten und die Trainings- und Validierungszeit für die Betreiber um bis zu 75 Prozent", berichtete Heppelmann.
Die Wirkungsweise, so der PTC-Chef: Wenn eine Produktionslinie eingerichtet oder modifiziert wird, werden die Daten der vielen verschiedenen Partner wie Maschinenbauer, Systemintegratoren sowie Komponenten- und Technologieanbieter in der Cloud gesammelt und zu einem Digital Twin zusammengefügt. Auf diese Weise kann die Funktionalität der Maschine schon im Design-Zustand virtuell getestet werden, anstatt auf die reale Maschine und die gesamte Produktionslinie warten zu müssen.
In der Zwischenzeit können die Automatisierungstechniker die kritischen Start- und Stopp-Punkte in der Baugruppe erfassen, ohne zurückgehen und Änderungen vornehmen oder zusätzliche Kopien von Standard-Automatisierungsentwürfen erstellen zu müssen. Änderungen können schnell wieder in andere Fertigungsgruppen übernommen werden. Und mit Emulate 3D Factory Simulation von Rockwell Automation können sie die Automatisierungssteuerungen der Maschine virtuell testen, anstatt warten zu müssen, bis die Maschine oder die gesamte Produktionslinie gebaut ist. "Auf diese Weise kann das Entwicklungsteam die gleichen agilen Prinzipien, die es bei der Softwareentwicklung anwendet, direkt in seinen Konstruktionsentwürfen nutzen", erklärte Heppelmann und wies darauf hin, dass PLM Teil des Prozesses innerhalb von Onshape ist, um Single Source of Truth in Echtzeit auf die gesamte Lieferkette auszudehnen.
Factory Insights as a Service
Auf der Liveworx-Konferenz kündigten PTC und Rockwell Automation außerdem mit Factory Insights as a Service eine schlüsselfertige Cloud-Lösung in Zusammenarbeit mit Microsoft an. Die Lösung soll Fertigungsunternehmen bei der digitalen Transformation helfen, indem es die gängigsten Anwendungsfälle der Branche unterstützt:
Überwachung der Produktionsleistung in Echtzeit;
Überwachung und Nutzung von Assets;
Connected Work Cells; sowie
digitale und AR-gestützte Arbeitsanweisungen.
Factory Insights as a Service umfasst zahlreiche Produkte von PTC und der FactoryTalk InnovationSuite von Rockwell Automation, darunter die IoT-Suite ThingWorx, die Connectivity-Lösung Kepware und die AR-Suite Vuforia. Diese wurden laut Hersteller speziell für OT-Daten aus den Automatisierungs- und Informationsangeboten von Rockwell Automation angepasst. Die Lösung nutzt außerdem Microsofts Cloud-, Industrial IoT- und Edge-Services, einschließlich Azure IoT Hub und Azure IoT Edge und soll es Fertigungsunternehmen ermöglichen, einzelne Standorte schnell miteinander zu verbinden und Projekte in ihrem Unternehmensnetzwerk zu implementieren.