Offener Brief an die Bundesregierung

Digitale Souveränität Deutschlands ist in Gefahr

05.12.2022
Von 
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Die deutschen IT-Mittelständler schlagen Alarm. Deutschland ist zu abhängig von ausländischen Digitaltechnologien. In einem offenen Brief fordern sie die Bundesregierung zum Handeln auf.
Gerade in Sachen Cloud sind Deutschland und Europa weit entfernt von digitaler Souveränität.
Gerade in Sachen Cloud sind Deutschland und Europa weit entfernt von digitaler Souveränität.
Foto: Lightspring - shutterstock.com

Um die digitale Souveränität Deutschlands steht es schlecht. Zu diesem Schluss kommt der Bundesverband IT-Mittelstand e.V. (BITMi). In einem offenen Brief rufen die Verantwortlichen die Bundesregierung dazu auf, der "Digitalisierung endlich die nötige Priorität zu geben und die politischen Weichen für eine selbstbestimmte digitale Transformation Deutschlands zu stellen." Nach mehr als einem Jahr Amtszeit der neuen Bundesregierung und knapp 100 Tage, nachdem die Digitalstrategie verabschiedet wurde, sei ein digitalpolitischer Aufbruch nicht in Sicht.

Als besonders besorgniserregend bezeichnete der Mittelstandsverband die steigende Abhängigkeit Deutschlands und Europas von US-amerikanischen und chinesischen Technologien. Das schade der digitalen Souveränität Deutschlands. Dabei handele es sich nicht etwa um eine diffuse Wahrnehmung, sondern um eine messbare Entwicklung, heißt es in dem Brief an die Ampelregierung. Laut BITMi bescheinigt der Digitale Dependenz Index (DDI), der den Grad der Abhängigkeit bei Software, Hardware und Eigentumsrechten erfasst, Deutschland eine hohe Verwundbarkeit.

EZB-CIO fordert mehr digitale Souveränität

Deutschlands DDI, der vom Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) an der Universität Bonn ermittelt wurde, liegt bei 0,82. Das bedeutet, dass 82 Prozent des hiesigen Bedarfs an digitalen Technologien von ausländischen Firmen beziehungsweise importierten Gütern und Services gedeckt werden. Zum Vergleich: Die USA haben einen DDI von 0,47. In China liegt der Wert bei 0,58.

In fast allen untersuchten Ländern ist die Abhängigkeit von ausländischen Digitaltechnologien hoch - nur die USA kann auf eine relativ hohe Autonomie pochen.
In fast allen untersuchten Ländern ist die Abhängigkeit von ausländischen Digitaltechnologien hoch - nur die USA kann auf eine relativ hohe Autonomie pochen.
Foto: CASSIS

Noch deutlicher wird die Abhängigkeit Deutschlands und Europas, wenn es um Plattformen und IT-Infrastrukturen, also vorrangig um die Cloud, geht. Dieser Markt wird von US-amerikanischen Anbietern kontrolliert, wie ein Blick auf die DDI-Werte zeigt. Die Vereinigten Staaten verzeichnen an dieser Stelle einen DDI von 0,07, während europäische Länder wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien bei 0,98 liegen.

Das CASSIS definiert unterschiedliche Grade digitaler Abhängigkeit:

  • Absolute Unabhängigkeit (DDI = 0): Autarkie.

  • Niedrige Sensitivität (DDI zwischen 0 und 0,25): Sehr hohe Autonomie, inländische digitale Technologien nehmen eine dominante Position ein.

  • Hohe Sensitivität (DDI zwischen 0,25 und 0,5): Inländisches Angebot liefert den Großteil der digitalen Technologien, hohe Resilienz.

  • Niedrige Vulnerabilität (DDI zwischen 0,5 und 0,75): Globale Märkte liefern den Großteil der digitalen Technologien.

  • Hohe Vulnerabilität (DDI zwischen 0,75 und 1): Sehr geringe Autonomie, ausländische digitale Technologien nehmen eine dominante Position ein.

  • Absolute Abhängigkeit (DDI = 1): Ausländische digitale Technologien bedienen die nationale Nachfrage vollständig.

Der Trend verheißt nichts Gutes. Laut CASSIS ist die digitale Abhängigkeit Deutschlands im Verhältnis zu den USA im vergangenen Jahrzehnt immer größer geworden - wie die von anderen europäischen Ländern auch. Lediglich Südkorea und China hätten die Abhängigkeit von US-amerikanischer Digital-Technik lockern können.

Gefahr für die politische Selbstbestimmung

Der BITMi spricht von alarmierenden Entwicklungen. Über 80 Prozent der Unternehmen hierzulande fühlten sich abhängig von nicht-europäischen Technologien, steht in dem Brief an die deutsche Regierung. "Von solch hohen Dependenzen gehen, wie wir bereits im Fall der Energieversorgung lernen mussten, konkrete Gefahren für unsere politische Selbstbestimmung aus. Sie dürfen deshalb nicht den Punkt erreichen, an dem sie unumkehrbar werden."

Deutschland droht zu einem reinen Anwender der Digitalisierung zu werden, warnt der BITMi-Vorsitzende Oliver Grün.
Deutschland droht zu einem reinen Anwender der Digitalisierung zu werden, warnt der BITMi-Vorsitzende Oliver Grün.
Foto: BITMi

"Mit der aktuellen Digitalpolitik droht Deutschland zu einem reinen Anwender der Digitalisierung zu werden, statt sie selbst zu gestalten", warnte BITMi-Präsident Oliver Grün. "Doch um digital souverän zu werden, müssen wir die Digitalisierung selbst gestalten." Die Wertschöpfung der Zukunft werde zu einem überwältigenden Teil im digitalen Raum stattfinden. Gelinge es Deutschland und Europa nicht, an dieser Stelle global wettbewerbsfähig zu bleiben, werde man das eigene Wohlstandsniveau zwangsläufig und absehbar verlieren. "Die digitale Souveränität, also unsere Fähigkeit, die digitale Transformation selbstbestimmt zu gestalten, darf deshalb unter keinen Umständen verloren gehen", verlangt der Verband und fordert ein Einschreiten der Politik.

"Nun braucht es die richtigen politischen Weichenstellungen, um Angebote made in Germany und made in Europe international konkurrenzfähig zu machen und ihr Potenzial nicht zu verspielen", führt Grün aus. Um dieses Potenzial zu nutzen und den digitalen Aufbruch zu schaffen, ist eine umfassende Mobilisierung von privatem und öffentlichem Kapital erforderlich. Dazu zähle auch ein verbesserter Zugang zu Wachstumskapital, zum Beispiel durch einfachere Börsengänge. Ein weiterer beachtlicher Hebel liege im Vergaberecht. "Die Wahrung der Digitalen Souveränität muss zu einem Kriterium für die Beschaffung digitaler Produkte und Dienstleitungen durch den Staat werden, ohne dabei Protektionismus zu betreiben."