HMI 2020

"Digital ist gut – eine lebende Messe ist besser"

15.07.2020
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
Wie sieht die Fabrik der Zukunft aus? Wie beeinflusst Corona die Digitalisierung? Das waren unter anderem die Themen der Hannover Messe 2020, die jetzt virtuell in Form der Digital Days stattfand.
Besucherschlangen gab es diesmal zur Hannover Messe nicht. Sie fand 2020 rein virtuell in Form von Digital Days statt.
Besucherschlangen gab es diesmal zur Hannover Messe nicht. Sie fand 2020 rein virtuell in Form von Digital Days statt.
Foto: Deutsche Messe AG

Zum ersten Mal in ihrer 73-jährigen Geschichte fand die Hannover Messe 2020 dieses Jahr im April aufgrund der Coronakrise physisch nicht statt. Stattdessen wich man im Juli auf ein digitales Format aus: Die Hannover Messe Digital Days. Informierten sich in früheren Zeiten Hunderttausende von Besuchern auf dem Messgelände live in den Ausstellungshallen zu Themen wie Industrie 4.0 oder Digitale Transformation, so konnten sie in diesem Jahr im Rahmen der Digital Days die Diskussionen über die Zukunft des Industriestandorts Deutschland lediglich per Streaming verfolgen.

Digital Days statt realer Messe

Auch ansonsten ist das Messe-Feeling 2020 ein komplett anderes. Früher wechselte der Messebesucher einfach von Halle zu Halle, um dort live auf den Ständen Präsentationen und Demos zu den neusten Entwicklungen in Sachen Digitalisierung und Automatisierung zu bestaunen. Heuer ist statt Hallen-Hopping die Webseiten-Suche angesagt. Etliche Aussteller verlegten in der Not ihre Messestände in den virtuellen Raum und veranstalten dort ergänzende Summits.

Erstmals in ihrer 73-jährigen Geschichte gab es die HMI nur in einem digitalen Format.
Erstmals in ihrer 73-jährigen Geschichte gab es die HMI nur in einem digitalen Format.
Foto: Hannover Messe

Ein digitales Messeerlebnis, das allerdings auch nervige Aspekte hatte. Statt sich wie beim realen Messebesuch nur einmal zu registrieren, muss sich der virtuelle Messegänger das aufwändige Procedere auf jeder Website wiederholen. Oder um Friedhelm Loh, Inhaber und Vorstandsvorsitzender der Friedhelm Loh Group - zu der etwa Rittal (Rittal auf der Messe) gehört -, aus der Eröffnungsveranstaltung der Digital Days zu zitieren: "Digital ist gut - eine lebende Messe ist besser".

Corona beschleunigt zentrale Trends

Eins zeigte sich auf der Eröffnungsveranstaltung deutlich, Corona scheint keine Agenda-Changer zu sein, sondern, so Oliver Jung, Vorstandsvorsitzender der Festo Gruppe, führt dazu, "zentrale Trends zu beschleunigen". Trends zu denen, so der Eindruck auf den Digital Days, Themen wie Digitalisierung, KI, 5G-Connectivity, Industrie 4.0, Automatisierung oder auch die Frage einer europäischen Datensouveränität mit GAIA-X zählen.

Streamen statt Anstehen hieß es bei den virtuellen Veranstaltungen der Digital Days.
Streamen statt Anstehen hieß es bei den virtuellen Veranstaltungen der Digital Days.
Foto: Hannover Messe

Wie stark dabei Corona als Beschleuniger wirkt, veranschaulichte Jung am eigenen Unternehmen. So musste Festo quasi über Nacht 7.000 neue VPN-Knoten einrichten und eine Digital Customer Journey aufbauen, um den Kontakt zu den Kunden nicht zu verlieren. Ein Aufwand, der sich für Festo lohnte. Laut Jung musste das Unternehmen kein einziges Werk schließen, auch nicht in Indien.

Live Demos in Messenhallen? In Coronazeiten leider Fehlanzeige.
Live Demos in Messenhallen? In Coronazeiten leider Fehlanzeige.
Foto: Hill

Der Festo-Chef ist zudem davon überzeugt, dass mit Corona die Globalisierung ihren Höhepunkt überschritten hat und wir eine Regionalisierung der Produktion erleben werden. "Für ein Hochlohnland wie Deutschland", so mahnte Jung weiter, "bedeutet diese, dass wir mehr Automatisierung und Flexibilität benötigen. Und dies erreichen wir mit Digitalisierung und KI sowie Fabriken, die eine höhere Autonomie aufweisen und gleichzeitig besser miteinander synchronisiert sind." (Den virtuellen Messestand von Festo finden Sie hier).

Flexibilität ist Trumpf

Den Wert der durch die Digitalisierung gewonnenen Flexibilität unterstrich auch Klaus Helmrich, Mitglied des Vorstands der Siemens AG und CEO Digital Industries. So hätten etwa 40 Prozent der Serviceaufgaben zu Wartung von Fabriken und Maschinen aus dem Homeoffice erfolgen können. Entwicklung und Administration erfolgten laut Helmrich komplett aus den heimischen Arbeitszimmern. Diese Flexibilisierung, aber auch der verstärkte Einsatz autonomer Systeme sind für Helmrich die nächsten Schritte, die Unternehmen in Sachen Industrie 4.0 gehen müssen.

Fast alle namhaften Hersteller boten dafür virtuelle Messestände.
Fast alle namhaften Hersteller boten dafür virtuelle Messestände.
Foto: Festo

Partnerschaft zwischen Siemens und SAP

Für Siemens selbst ist der nächste Schritt eine Partnerschaft mit SAP. Gemeinsam wollen Siemens und SAP einen "digitalen Faden" schaffen, um Unternehmen zu helfen, traditionelle Silos aufzubrechen und die Digitalisierung voranzutreiben. Hierzu bietet SAP die Siemens Teamcenter-Software als Herzstück für Product Lifecycle Collaboration und Produkt-Daten-Management an. Im Gegenzug übernimmt Siemens SAPs Intelligent-Asset-Management-Lösungen und die SAP Project-and-Portfolio-Management-Anwendung, um den Geschäftswert für Kunden über den gesamten Produkt- und Servicelebenszyklus hinweg zu maximieren und neue kollaborative Prozesse zwischen Herstellern und Betreibern zu ermöglichen.

Nervig! Auf vielen virtuellen Messeständen musste man sich zusätzlich zum umfassenden Registrierungsprozess der Hannover Messe erneut registrieren. Eine lobenswerte Ausnahme war etwa Rittal.
Nervig! Auf vielen virtuellen Messeständen musste man sich zusätzlich zum umfassenden Registrierungsprozess der Hannover Messe erneut registrieren. Eine lobenswerte Ausnahme war etwa Rittal.
Foto: Rittal

Die Bedeutung von Agilität und Flexibilität in Prozessen, Produktion und Lieferketten betonte auch Thomas Saueressig, Mitglied des Vorstands der SAP SE und verantwortlich für SAP Product Engineering. Allerdings sieht Saueressig nicht nur die Unternehmen gefordert, sondern auch die Politik. So mahnte er etwa den noch immer fehlenden Netzausbau in Deutschland an und forderte eine steuerliche Gleichbehandlung digitaler Angebote - etwa bei der Energie - mit der Industrie. Unterstützung erwartet er zudem beim Thema GAIA-X.

Hersteller befürworten GAIA-X

Für Saueressig ist GAIA-X eine sehr wichtige, zukunftsweisende Idee für eine souveräne Datenhaltung in Europa. Die Herausforderung dabei sei es allerdings, wettbewerbsfähige und attraktive Angebote zu schaffen. Die Bedeutung eines Raums für besseren Schutz geistigen Eigentums in Europa sieht auch Friedhelm Loh. Er zählt nicht nur zu den Gründungsmitgliedern von GAIA-X, sondern hat auch mit ONCITE ein schlüsselfertiges Edge-Cloud-Rechenzentrum entwickelt. Die Lösung speichert und verarbeitet Daten nahezu in Echtzeit in der Produktion ("on premises") und harmonisiert sie dann für Analysen auf Basis Künstlicher Intelligenz (KI).

Arbeiten 4.0? Auch für die Journalisten hieß es 2020 umdenken - Pressekonferenzen zur HMI fanden ebenfalls nur virtuell statt.
Arbeiten 4.0? Auch für die Journalisten hieß es 2020 umdenken - Pressekonferenzen zur HMI fanden ebenfalls nur virtuell statt.
Foto: Festo

Die Bedeutung eines EU-Datenökosystems wie es mit GAIA-X entsteht, beziehungsweise entstehen kann, sieht auch Ursula Morgenstern, CEO von Atos Deutschland. Gleichzeitig ist die Managerin aber auch davon überzeugt, dass in den nächsten Jahren 75 Prozent der Daten nicht mehr in der Cloud, sondern im Edge, also direkt an oder in den Maschinen verarbeitet werden.

Neue Wertschöpfungsketten für Fabriken

Für Rolf Najork, Geschäftsführer/Vorstandsvorsitzender der Robert Bosch GmbH/Bosch Rexroth AG, ist es erstaunlich, wie schnell die deutsche Industrie teilweise in der Krise die Digitalisierung anging. Für ihn muss die Fabrik der Zukunft eine flexible Produktion ermöglichen, um so eine schnelle Umstellung der Fertigung zu ermöglichen.

Herausforderungen sieht er dabei nicht nur in Sachen Connectivity, sondern auch bei den User-Schnittstellen - hier müssten etwa Vertrieb und Verkauf digitalisiert werden. Des Weiteren sollte bei der Digitalisierung der Prozessketten das Thema CO2 nicht vergessen werden, da ein angemessener ökologischer Footprint in zunehmenden Maße zu einem Wettbewerbsfaktor werde. Letztlich, so Najork, müssten sich die Fabriken neue Wertschöpfungsketten suchen.

Einig waren sich alle Teilnehmer dabei, dass gleichzeitig mit der Digitalisierung der Industrie neue Formen des Lernens gefunden werden müssen, sowohl im Berufsleben als auch davor. Hart ins Gericht ging dabei Dieter Kempf, Präsident des Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), mit der Anspruchs- und Erwartungshaltung vieler Deutschen in Zeiten der Coronakrise. Er sprach von einer "gewissen Wohlstandsverwahrlosung", denn frühere Generationen hätten viel Schlimmeres erlebt. Zumal es hierzulande ja, wie die Beispiele zeigen, gelungen sei, Wirtschaft trotz Krise noch stattfinden zu lassen.