Experten diskutieren S/4HANA

Die Zeit wird knapp

21.07.2023
Von 
Richard Ruf ist Autor und Texter in München. Im Fokus seiner Arbeit bei der Agentur "Medienstürmer" liegen vor allem die Themen Modern Work, Projektmanagement, Office-Kollaboration und Open Source.
Nicht mal vier Jahre bleiben Unternehmen für die Umstellung auf SAP S/4HANA. Experten raten dazu, die verbleibende Zeit nicht falsch einzuschätzen.
Vier Jahre für die S/4HANA-Transformation sind alles andere als ein Grund, sich zurück zu lehnen - sagen Experten.
Vier Jahre für die S/4HANA-Transformation sind alles andere als ein Grund, sich zurück zu lehnen - sagen Experten.
Foto: sirtravelalot - shutterstock.com

Bereits vor acht Jahren präsentierte SAP mit S/4HANA die Lösung, die neue Softwaregeneration, die nicht nur das bisherige Kernprodukt SAP ECC ablösen, sondern das Portfolio stärker Richtung Cloud Computing verlagern soll. Doch immer noch wollen viele Bestandskunden nicht so richtig mitspielen: Obwohl der Wartungszyklus für SAP ECC schon 2027 auslaufen soll, hat gerade einmal ein Fünftel der SAP-Anwender die Umstellung auf S/4HANA erfolgreich abgeschlossen.

Vier Jahre für die Transformation hin zu S/4HANA mag nach reichlich Zeit klingen. Experten und Branchenvertreter, die am COMPUTERWOCHE-Roundtable zum Thema SAP-S/4HANA-Transformation teilnahmen, raten jedoch dringend, den Zeit- und Ressourcenaufwand nicht zu unterschätzen. Vor allem fehlendes Fachpersonal kann Umstellungsplänen einen Strich durch die Rechnung machen.

Wie die Diskussionsrunde feststellte, fangen viele Unternehmen erst jetzt damit an, über eine Migration nachzudenken. Je näher das Wartungsende im Jahr 2027 rücke, umso mehr würden sich diese "Spätzünder-Projekte" ballen und miteinander um die knappen Ressourcen im Personal-, Beratungs- und Dienstleistungsmarkt konkurrieren. "Die Vielzahl der Anfragen erfordert schon heute eine Priorisierung", warnt Sabine Fleischer, SAP Senior Consultant/Senior Manager von Arvato Systems.

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Das Management muss Mehrwerte herausstellen

Viele Firmen fürchten nicht nur die Komplexität der Umstellung. Sie haben über die Jahre viel Zeit und Geld in ihre bestehenden ERP-Umgebungen investiert, mit dem Erfolg, dass diese mehr oder weniger reibungslos funktionieren. Es bedarf guter Argumente, um die Anwender in den Fachabteilungen von einer Umstellung zu überzeugen. Christoph Garms, Managing Director von Neptune Software, spricht von einem internen PR-Problem und fordert: "Wir als Dienstleister müssen die Unterschiede und Vorteile klarer kommunizieren."

Klare Zustimmung erhält er dabei von Philipp Rockel, Senior Sales Manager der All for One Group. Die Kommunikation in den Betrieben sei oft genauso schlecht wie das Projektmarketing. "Das Management muss eine klare Vision vorgeben, warum sich der große Aufwand lohnt und auf welchen Mehrwert sich die Anwender verlassen können", erklärt Rockel.

Die Fachabteilungen ins Boot holen

Überzeugungsarbeit wird dabei vor allem in den Fachabteilungen fällig. Besonders bei großen Konzernen mit komplexen Individualkonfigurationen stößt die Umstellung auf wenig Begeisterung. Anke Frier, Business Manager SAP Transformation Strategy bei Lufthansa Industry Solutions, sieht darin jedoch keineswegs einen Unwillen zur Veränderung. Es gehe darum, dass die Fachabteilungen den Sinn erkennen könnten und in der Migrationsphase nicht allein gelassen würden. "Die enge Zusammenarbeit zwischen IT und Fachbereich ist sehr wichtig, um gemeinsam zu identifizieren, welche kundenspezifischen Ausprägungen transformiert werden müssen und auf welche verzichtet werden kann. Dann lässt sich nachhaltig Mehrwert für das Business erzeugen", sagt Frier.

Studie "SAP S/4HANA 2023": Sie können sich noch beteiligen!

Zum Thema SAP S/4HANA führt die COMPUTERWOCHE derzeit eine Multi-Client-Studie unter IT-Verantwortlichen durch. Haben Sie Fragen zu dieser Studie oder wollen Sie Partner werden, helfen Ihnen Regina Hermann (regina.hermann@foundryco.com, Telefon: 089 36086 161) und Manuela Rädler (manuela.raedler@foundryco.com, Telefon: 089 36086 271) gerne weiter. Informationen zur Studie finden Sie auch hier zum Download (PDF).

Die Expertenrunde betonte, dass es auch an den Beratungsunternehmen liege, den Fachabteilungen und allen anderen Stakeholdern sinnvolle Möglichkeiten zur Optimierung aufzuzeigen. "In der Vorphase der Umstellung geht es viel um das 'Show & Tell'-Prinzip, wenn wir uns intensiv mit den Prozessen in den Unternehmen beschäftigen," sagt Gunnar Weichel, Abteilungsleiter SAP Portfolio Development von q.beyond. "Wenn man den Fachabteilungen Best Practices zeigt, mit denen sich echte Einsparungen oder Vereinfachungen erzielen lassen, stößt man in aller Regel auf Akzeptanz."

Grüne Wiese oder lieber im bestellten Feld arbeiten?

Haben sich Unternehmen zur Umstellung auf S/4HANA entschlossen, stehen sie vor der großen Frage: Lieber auf Kontinuität setzen und einen Brownfield-Ansatz wählen oder doch alte Zöpfe abschneiden und auf dem Greenfield neu anfangen? Eine pauschale Antwort gibt es leider nicht. Die Vorgehensweise hängt von einer Reihe von Faktoren ab, darunter die vorrangigen Ziele, die verfügbaren Ressourcen und auch die Ausgangssituation, aus der man startet.

So sind Unternehmen mit schlanken Systemen und einem überschaubaren Portfolio an Eigenentwicklungen und Schnittstellen mit dem Brownfield-Ansatz oft besser beraten, da die Umstellung ohne größere Disruptionen verhältnismäßig schnell gelingen sollte. Für Unternehmen, die im Zuge der Transformation die eigenen Prozesse grundsätzlich hinterfragen und neue Innovationspotenziale freilegen wollen, kann der Greenfield-Ansatz ratsamer sein.

Zwar lassen sich auch im Brownfield-Modell nachträglich noch Anpassungen vornehmen. "In der Regel ist es aber deutlich besser, den Greenfield-Ansatz zu wählen", rät Steffen Würth, Head of SAP Transformation von SPIRIT/21. Es habe sich bewährt, in einer kleineren Tochtergesellschaft mit dem Greenfield-Ansatz zu beginnen, um nach einem initialen Erfolg den Rollout auf größere Bereiche vorzunehmen.

Bei der Entscheidung spielen die Kosten selbstredend eine Rolle. Gegenüber dem Brownfield-Ansatz erfordert Greenfield mehr Vorarbeit. Bestehende Prozesse vor der Umstellung müssen zunächst erfasst und verstanden werdenn. Durch den zusätzlichen Vorbereitungsaufwand, der durch den Aufbau ganz neuer Systeme entsteht, dauern Greenfield-Projekte deutlich länger.

Aus diesem Grund erwarten die Experten angesichts des steigenden Zeitdrucks vermehrt Brownfield-Projekte. Diesen Trend beobachtet Philipp Rockel (All for One Group) mit Skepsis. Für ihn geht es bei der S/4HANA-Transformation nicht nur darum, ein altes durch ein moderneres System zu ersetzen. Vielmehr bestehe die einmalige Chance, sich für die Zukunft flexibler aufzustellen. "Im Einzelfall kann Brownfield sinnvoll sein. Es ist erst einmal günstiger, kann jedoch langfristig gefährlich werden. Wer flexibel agieren und sich dauerhaft für Innovationen aufstellen will, ist mit dem Greenfield-Ansatz und einer SaaS-Lösung in aller Regel besser beraten", betont Rockel.

Bis 2027 werden sich Projekte ballen und um Ressourcen konkurrieren

Das größte Hindernis bei der SAP-Umstellung ist das fehlende Personal. Hier sieht Anke Frier von Lufthansa Industry Solutions eine große Lücke: "SAP-Projekte sind für jüngere Leute einfach nicht sexy." Für sie seien Vorhaben spannender, mit denen schnell sichtbare Mehrwerte geschaffen werden können, beispielsweise die App-Entwicklung. SAP habe es versäumt, echte Anreize für junge Fachkräfte zu schaffen, um sich mit den Lösungen auseinanderzusetzen.

Auch die Beraterunternehmen selbst kämpfen derzeit damit, mit geeigneten Talenten ihre Reihen zu schließen. "Wer zwischen Beratung, Entwicklung, Betrieb und Testing alles anbieten will, was im Transformationsprozess anfällt, muss heute sehr breit aufgestellt sein", erklärt Sabine Fleischer von Arvato Systems.

q.beyond-Mann Gunnar Weichel erwartet einen deutlichen Anstieg der Projekte in den kommenden vier Jahren. "Die Welle, die auf uns zukommt, ist noch nicht mal richtig da. Trotzdem spüren wir jetzt schon die Auswirkungen", sagt Weichel. Als Reaktion darauf erwartet er, dass Automatisierungstools in naher Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden: "Wir werden dann weniger manuell machen müssen und mit Tools arbeiten, die entweder von SAP kommen oder von uns selbst entwickelt werden."

Bleibt die Frage, ob SAP das ausgerufene Wartungsende 2027 halten kann, oder ob das Unternehmen angesichts einiger Schwergewichte, die die Umstellung bis dahin nicht abgeschlossen haben, nochmal die Fristen verlängert. Steffen Würth von SPIRIT/21 ist mit Blick auf die Vergangenheit sicher: "Da werden noch einige Termine fallen."

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