Jedes Jahr, wenn die Blätter fallen, schauen die Gartner-Analysten tief in ihre Glaskugeln und orakeln, wie es weitergeht mit der Technologieentwicklung. Die Katze lassen Sie dann beim IT Symposium Xpo 2019 in Orlando aus dem Sack. Wenig später erfahren dann auch europäische CIOs und IT-Entscheider beim Symposium in Barcelona (3. bis 7. November), wohin die Reise gehen könnte.
Für 2020 hat Gartner nun in Orlando zehn strategische Technologietrends mit "substanziellem disruptivem Potenzial" ausgerufen, die entweder neu aufkommen und schnell an Bedeutung gewinnen sollen oder sich bereits in den Unternehmen zu etablieren beginnen. Folgende zehn Technologietrends werden den Analysten zufolge das kommende Jahr kennzeichnen:
Hyperautomation - Zusammenspiel der Technologien
Moderne Automatisierungs-Tools bilden zusammen mit Container-Technologien und den Möglichkeiten des Machine Learning (ML) die Voraussetzungen für Technologie-Bundles, die Menschen das Arbeitsleben signifikant erleichtern könnten. Gartner spricht von "Hyperautomation".
Sie soll alle Schritte des Arbeitslebens automatisieren helfen: das Erkennen und Analysieren von Problemen, das Designen und Prüfen von Lösungen sowie schließlich auch das Beobachten fertiger Produkte im Feld. Die breite Palette an Automatisierungsmechanismen zu verstehen, zu kombinieren und zu koordinieren ist laut Gartner der Arbeitsschwerpunkt der Hyperautomation.
Wie die Analysten ausführen, wurde mit Robotic Process Automation (RPA) die Grundlage für diese Disziplin geschaffen. RPA allein sei aber noch keine Hyperautomation. Jetzt gehe es um das Kombinieren von Tools, um überall dort unterstützend einzugreifen, wo Menschen repetitive Arbeiten verrichten.
Multiexperience - der Mensch wird durchleuchtet
Die Art und Weise, wie Anwender die digitale Welt erleben und mit ihr umgehen, wird sich laut Gartner bis 2028 fundamental verändern. Dabei spielen neue Mensch-Maschine-Schnittstellen eine entscheidende Rolle. Sprachassistenten wie Amazon Alexa oder Google Assistant werden sich als natürlichsprachige Bedienmöglichkeiten von Geräten und Maschinen weiter verbreiten. Auch Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR) verändern die Art und Weise, wie Menschen die digitale Welt wahrnehmen und mit ihr interagieren.
Gartner spricht von einer "multisensorischen und multimodalen Erfahrung". Anstelle des "technologiekundigen Menschen" trete nun die "menschenkundige Technologie". "Die Fähigkeit der Technik, mit den Menschen über ihre natürlichen Sinneswahrnehmungen zu kommunizieren, wird das Bereitstellen nuancierter Informationen verbessern", sagt Brian Burke, Research Vice President bei Gartner.
Demokratisierung des Know-hows
Wie gelingt es, dass Menschen einen vereinfachten Zugang zu technischem Fachwissen, etwa Machine Learning oder Anwendungsentwicklung, bekommen? Und wie können Firmen unter ihren Mitarbeitern geschäftsspezifisches Fachwissen, etwa im Verkaufsprozess oder zur Berechnung einer Wirtschaftlichkeitsanalyse, so verbreiten, dass schnelle Ergebnisse erzielt und der Schulungsaufwand geringgehalten wird?
Das verstärkte Aufkommen von No-code- und Low-Code-Umgebungen für die Programmierung zeigt, dass die Demokratisierung der Softwareentwicklung bereits stattfindet. Gartner erwartet nun, dass sich nicht nur "Citizen Developers", sondern auch beispielsweise "Citizen Data Scientists" oder "Citizen Integrators" durchsetzen werden.
Bis 2023 sollen sich vier Demokratisierungstrends beschleunigen:
Demokratisierung von Daten und Analysen - Tools, die bislang Data Scientists vorbehalten waren, werden auch von anderen Usern genutzt;
Demokratisierung der Individualentwicklung - KI-Tools vereinfachen das Entwickeln individueller Anwendungen;
Demokratisierung des Designs - Low-Code- und No-Code-Entwicklungsumgebungen bieten mehr Funktionen für eine automatisierte Software-Entwicklung, so dass auch wenig erfahrene Mitarbeiter in den Fachabteilungen damit umgehen können;
Demokratisierung des Wissens - IT-Laien erhalten Zugang zu Tools und Expertensystemen, die sie in die Lage versetzen Aufgaben zu erledigen, die über ihre jeweiligen Fähigkeiten und ihr Fachwissen hinausgehen.
Human Augmentation - die Cyborgs kommen
In Zukunft wird Technologie den Menschen helfen, ihre auf natürliche Weise begrenzte kognitive Wahrnehmung sowie ihre physische Leistungsfähigkeit auszuweiten. Das gelingt beispielsweise, indem Menschen sich einen Chip einpflanzen lassen oder sich mit intelligenten Kleidungsstücken oder Geräten (Wearables) ausstatten.
Die Medizin, die persönliche Handicaps von Patienten zu kompensieren versucht, wird hier eine wichtige Rolle spielen. Doch auch für die Arbeitswelt, wo Menschen körperliche oder geistig besonders herausfordernde Aufgaben mit technischen Helfern einfacher erledigen können, wird Human Augmentation wichtiger.
Transparenz und Rückverfolgbarkeit
Verbraucher sind sich zunehmend darüber bewusst, dass ihre persönlichen Daten einen Wert haben. Sie verlangen Kontrolle. Gleichzeitig erkennen die Unternehmen, welche wachsenden Risiken mit dem Speichern und Verwalten persönlicher Daten Dritter verbunden sind. Falls nicht, helfen Behörden mit einer immer strengeren Regulierung nach.
Transparenz und Rückverfolgbarkeit sind die entscheidenden Elemente, um dem Bedürfnis nach einem ethisch verantwortungsvollen Umgang mit Daten nachkommen zu können. Deshalb werden Technologien und Praktiken nachgefragt, die Unternehmen dabei helfen, regulatorischen Anforderungen nachzukommen und KI sowie andere moderne Technologien korrekt einzusetzen. Weil das Misstrauen unter den Menschen wächst, werden Unternehmen generell vermehrt in vertrauensbildende Maßnahmen investieren müssen.
Edge Computing - das Pendel schlägt zu dezentraler IT
Gartner spricht vom "Empowered Edge" und meint damit eine Computertopologie, in der die Informationsverarbeitung sowie das Sammeln und Bereitstellen von Inhalten dezentralisiert werden. Angesichts der immer größeren Datenmengen am Ort der Entstehung werden Daten zunehmend lokal verarbeitet und gespeichert. Das betrifft beispielsweise vernetzte Fahrzeuge oder Maschinen, die im Industrial Internet of Things (IIoT) "connected" sind. Auch ein Großteil des Netzverkehrs läuft dann lokal vor Ort, so dass sich Latenzzeiten reduzieren lassen.
"Edge Computing wird in praktisch allen Branchen und Anwendungsfällen zu einem wichtigen Faktor, da am Rand des Netzwerks zunehmend ausgefeilte und hochspezialisierte Rechen- und Speichereinheiten zum Einsatz kommen können", sagt Burke. Zu den komplexeren Edge-Devices gehören demnach nicht nur intelligente Fahrzeuge und digital modernisierte Maschinen, sondern auch Roboter und Drohnen.
Distributed Cloud - Hyperscaler als Gatekeeper
Heute werden Public-Cloud-Services normalerweise zentral von einem der großen Hyperscaler erbracht, etwa von Amazon Web Services, Microsoft, Google oder IBM. In Zukunft, so prophezeit Gartner, werden diese Services dezentralisiert und auf verschiedene Lokationen und Subunternehmer verteilt.
Dabei wird der Public-Cloud-Anbieter der Wahl aber weiter die Verantwortung tragen und Aufgaben wie Betrieb, Governance sowie Weiterentwicklung der Dienste kontrollieren. Laut Gartner bedeutet dies einen signifikanten Einschnitt: Vom zentralen Modell, das derzeit noch alle großen Anbieter verfolgten, werde nun der Übertritt in eine neue dezentrale Ära des Cloud Computing vorbereitet.
Autonome Dinge - es geht auch ohne Menschen
Gartner meint mit "autonomous things" physische Geräte, die mithilfe von künstlicher Intelligenz selbständiger werden und eigenständig Aufgaben lösen, dir zuvor Menschen vorbehalten waren. Das populärste Beispiel ist wohl das autonome Fahren, das nicht nur Autos und Lkw, sondern auch Schiffe und Flugzeuge betrifft. Doch auch Roboter, Drohnen und diverse andere Gerätschaften können autonom agieren.
Künftig entscheiden nicht mehr starre Programmiermodelle über den Grad der Automatisierung, sondern KI- und ML-Algorithmen. Sie sorgen für lernfähige Systeme, die eine natürliche Interaktion mit der Umgebung und den Menschen ermöglichen. Gartner geht davon aus, dass autonome Dinge mit zunehmender technischer Leistungsfähigkeit, besseren regulatorischen Rahmenbedingungen und auch wachsender gesellschaftlicher Akzeptanz im unkontrollierten öffentlichen Raum eingesetzt werden.
"Wir erwarten auch einen Wandel von eigenständigen zu kollaborativen intelligenten Dingen, bei denen mehrere Geräte zusammenarbeiten - entweder unabhängig vom Menschen oder mit menschlichem Input", sagt Burke. So könnten verschiedene Robotertypen in einem koordinierten Montageprozess zusammenarbeiten. Beim Zustellen von Paketen könnten autonome Fahrzeuge ein Paket in ein Zielgebiet transportieren, wo dann Roboter oder Drohnen die endgültige Lieferung übernehmen.
Practical Blockchain - vielleicht wird's doch noch was
Immer noch hat die Blockchain-Technologie laut Gartner das Potenzial, ganze Branchen umzugestalten. In geschäftlichen Ökosystemen bietet sie die Möglichkeit, zu geringen Kosten Transaktionen vertraulich, transparent und vergleichsweise schnell vorzunehmen. Vermögenswerte lassen sich bis zur Herkunft zurückverfolgen, was die Möglichkeiten für den Handel mit gefälschten Waren erheblich reduziert.
In der Lebensmittelbranche können Lieferketten zurückverfolgt werden bis hin zum Produzenten. Das gilt genauso für Zulieferer in einer industriellen Supply Chain. Auch für das Identitäts-Management kann die Blockchain eine wichtige Rolle spielen. Smart Contracts, die via Blockchain so programmiert werden, dass beispielsweise eine geprüfte Lieferung automatisiert bezahlt wird, sind ein weiteres Einsatzszenario.
"Technische Unzulänglichkeiten wie die mangelnde Skalierbarkeit und Interoperabilität haben zur Folge, dass die Blockchain im Unternehmen nur langsam vorankommt. Die Chancen, die sich durch disruptive Eingriffe und das Generieren zusätzlicher Einnahmen ergeben, bedeuten aber, dass sich Unternehmen mit der Technologie beschäftigen sollten", empfiehlt Burke. Das gelte auch dann, wenn kurzfristig keine breite Einführung geplant sei.
AI Security
KI und Machine Learning bergen - wie gesagt - große Chancen für die Unterstützung menschlicher Entscheidungsfindung sowie für die Automatisierung und Transformation ganzer Geschäftsmodelle. Allerdings schaffen sie auch signifikante Herausforderungen für IT-Sicherheits-Teams. Durch das Internet of Things (IoT), Cloud Computing, Microservices und hochvernetzte Systeme in sogenannten Smart Spaces wächst die Menge der Angriffspunkte signifikant.
Laut Gartner sollten IT-Sicherheitschefs ihr Augenmerk vor allem auf drei Aspekte richten:
den Schutz KI-unterstützter Systeme,
die Nutzung von KI um sich besser gegen Angreifer abzusichern und
die Antizipation neuer Angriffsformen, die aufgrund von KI sehr viel ausgefeilter und wirksamer werden dürften.
Lesetipp: Kommentar zum Thema: Der Mensch im Mittelpunkt