Red-Hat-Chef Dinko Eror im Interview

"Die blaue IBM färbt sich immer mehr rot"

25.10.2022
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
IBMs Red-Hat-Übernahme hat 2019 jede Menge Unruhe in die Open-Source-Gemeinde gebracht. Red Hats Deutschland-Chef Dinko Eror glaubt rückblickend, dass der Deal beiden Seiten gut getan hat.
Dinko Eror führt die Geschäfte von Red Hat in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Dinko Eror führt die Geschäfte von Red Hat in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Foto: Red Hat

Nach Stationen bei EMC, Dell und Matrix 42 sind Sie nun Geschäftsführer von Red Hat mit dem Verantwortungsgebiet Deutschland, Österreich und Schweiz (DACH). Was hat Sie an dem Linux-Pionier, der ja inzwischen zu IBM gehört, interessiert?

Eror: Ich würde sagen: Die Chance, noch einmal in einer ganz anderen, offenen und partizipativen Unternehmenskultur zu arbeiten. Allein die Tatsache, wie stark die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Red Hat an den Unternehmensentscheidungen teilhaben - das ist schon etwas ganz Besonderes. In meinen vorherigen Jobs habe ich auch einen guten Zusammenhalt erlebt, aber wie bei Red Hat Zusammenarbeit und Gleichberechtigung gelebt werden, das ist doch sehr ungewöhnlich.

Zum Beispiel?

Eror: Bei Red Hat gewinnt nicht die Hierarchie, sondern immer die beste Idee. Ich muss zugeben, als mir dieses Modell damals im Einstellungsprozess vorgestellt wurde, habe ich eine leichte Skepsis gespürt, ob das in der Praxis funktionieren kann. Heute muss ich sagen: Keine Ahnung, wie die Firma das geschafft hat, aber der Umgang miteinander ist ausgesprochen angenehm. Wissen wird geteilt und Entscheidungen werden professionell getroffen.

Verlängert zu viel Mitbestimmung und Diskussion nicht die Entscheidungswege?

Eror: Mag sein, aber wenn am Ende die Entscheidungen besser werden, hat es sich gelohnt. Außerdem arbeiten wir ja nicht beim Militär oder in einem Atomkraftwerk, wo manchmal in Sekundenschnelle entschieden werden muss. Wenn wir komplexe Anforderungen vom Kunden bekommen, dann ist es für beide Seiten vorteilhaft, ein paar Tage mit dem lokalen Team darüber nachzudenken und zu diskutieren. Und manchmal geht es hinterher dann sogar schneller, weil die Mitarbeiter wissen, was zu tun ist, und Spaß daran haben, Dinge umzusetzen, weil sie von Anfang an beteiligt waren.

Red-Hat-Kultur hat IBM vorangebracht

2019 hat IBM für 34 Milliarden Dollar Red Hat übernommen, ein Riesen-Deal, und viele haben sich gefragt, wie diese beiden gegensätzlichen Kulturen wohl harmonieren werden.

Eror: Das habe ich mich, ehrlich gesagt, damals auch gefragt. Aber heute kann ich sagen, dass wir in IBM einen guten Partner haben, mit dem wir über alles reden können. Sie lassen uns auch spüren, dass das Portfolio und die Kultur von Red Hat eine hohe Bedeutung für IBM haben. Wir sehen ja seit Jahren, wie IBM den Fokus seines Geschäftsmodells auf Software und Consulting verlagert. Und da spielt Red Hat eine hervorgehobene Rolle.

Wichtig ist, dass wir in der Art und Weise, wie wir bei Red Hat agieren, völlig selbständig geblieben sind. Die Vorstände beider Unternehmen haben das damals versprochen und auch gehalten. Die wissen ja, dass Red Hat's Kultur stark von der engen Zusammenarbeit mit der Open-Source-Community geprägt ist. Das ist die DNA des Unternehmens, daran wird nicht gerüttelt.

Es gibt Stimmen im Markt, die behaupten, IBM habe sich mit der Übernahme von Red Hat und dessen Container-Orchestrierungsplattform OpenShift seine Zukunft gekauft. Sieht man das bei Red Hat auch so?

Eror: Das kann ich nicht beurteilen. Was ich aber sagen kann: Weltweit stellen Unternehmen in ihrer Softwareentwicklung auf Cloud-Native-Anwendungen um, und Red Hat OpenShift liefert Entwicklern die Plattform dafür, schneller zu werden und die On-Premises- mit der Cloud-Welt zu integrieren. Natürlich haben die Hyperscaler ähnliche Produkte im Angebot, aber dann müssten sich die Kunden einer solchen Plattform voll ausliefern. Es stellt sich die Frage, ob sich das ein Unternehmen leisten kann und möchte.

So liefern Sie sich aber doch Red Hat und IBM aus?

Eror: Die Zusammenarbeit von IBM, Red Hat, den Cloud-Providern, unserem Partnernetzwerk und der starken Open-Source-Community ermöglicht den Firmen, sich an einen kontrollierbaren Fortschrittsprozess anzuhängen und dabei in Sachen Cloud unabhängig zu bleiben. Außerdem können Sie Ihre On-Premise-Welt relativ schnell eins zu eins in die Cloud hieven, um danach die nächsten Schritte zu gehen.

Als ich meinen Job im Juni 2022 angetreten habe, bin ich ziemlich bald auf Reisen gegangen und habe Kunden besucht, übrigens auch Ex-Kunden und Partner. Früher, bei meinen vorigen Arbeitgebern, da war ich in solchen Gesprächen auch mal der Bad Guy, wenn etwa eine Storage-Box defekt war. Hier ist das ganz anders. Ob Sie es glauben oder nicht: Red Hat ist der Freund von allen! Die Produkte stecken im Kern der Business-IT unserer Kunden.

"IBM passt sich unserer Haltung an"

Wie war die Wahrnehmung in der Open-Source-Community und auch von vielen angestammten Kunden? Da hätten sich viele diese Übernahme sicher nicht gewünscht. Das Risiko ist ja auch groß, dass IBM die Integration der Produktwelten vorantreibt, das ist ja gerade erst im Storage-Bereich passiert.

Eror: Diese Frage wird Red Hat schon seit der Ankündigung der Übernahme gestellt. Tatsächlich haben wir seitdem unsere Investitionen in die Open-Source-Community noch einmal verstärkt. Man könnte sagen: Die blaue IBM färbt sich immer mehr rot durch Red Hat - das haben sie auch selbst schon erkannt. IBM weiß, dass wir extrem loyal zur Community sind. In verschiedenen Treffen gerade mit der technischen Community zeigen wir das auch ganz deutlich.

Storage ist ein spezifischer Fall, es macht Sinn, dass diese Bereiche zusammengelegt werden. IBM ist ein Vorreiter in solchen Lösungen und auch weiterhin Weltmeister bei Patenten. Dass da Intelligenz und Technologie im Hintergrund verbunden werden, ist doch toll. Aber das hat nichts mit unserer Community-Arbeit zu tun, und IBM selbst ist ja auch in der Community sehr aktiv.

Was uns wesentlich ausmacht - Open Source, Open Culture, Open Organization - hat sich bis heute nicht mal ansatzweise geändert. IBM passt sich in dieser Frage unserer Haltung an, und das freut uns. Und wir sind damit ja auch erfolgreich, wie große Deals mit Firmen wie ABB, General Motors, Porsche, Audi oder BMW zeigen: Sie alle nutzen unsere Technologie. Manchmal ist es Red Hat OpenShift, manchmal Red Hat Enterprise Linux, manchmal beides und noch etwas anderes dazu.

Im Auto, im Zug, in der Fabrik - Linux ist überall, die Bedeutung wächst weiter, sagt Dinko Eror.
Im Auto, im Zug, in der Fabrik - Linux ist überall, die Bedeutung wächst weiter, sagt Dinko Eror.
Foto: Red Hat

Anders als in Ihren vorherigen Jobs ist bei Red Hat nicht nur der Geschäftserfolg, sondern auch die Community-Pflege wichtig. Haben Sie sich persönlich schon daran gewöhnt?

Eror: Die Vorteile der Zusammenarbeit mit der Community sind für alle Beteiligten so evident, dass es mir überhaupt nicht schwer gefallen ist, mich bei Red Hat einzufinden. In diesen Zeiten hat man keine Chance mehr, wenn man in seinen Unternehmens-Silos steckenbleibt. Zum einen ist man dann als Arbeitgeber nicht mehr interessant, denn so wollen junge Menschen nicht arbeiten. Zum anderen können Sie optimale Lösungen für Ihre Kunden nur anbieten, wenn Sie sich öffnen.

Da verändert sich übrigens auch die Wettbewerbssituation im Markt ganz erheblich. Manchmal wissen Sie an einem Tisch gar nicht mehr, wer zur eigenen Firma gehört, wer zum Wettbewerber, zum Kunden oder zum Partner. Das altbekannte Wort "Coopetition" wird immer wichtiger, bei Red Hat spüre ich das deutlich. Man muss mit vielen Leuten kooperieren, um für die Endkunden die gewünschte Lösung umzusetzen. Die ganze Welt geht in die Plattform-Ökonomie, die Banken, die Automobilhersteller, der Handel. Auch deshalb ist Open Source so wichtig, das sind alles Leute, die sowieso nichts anderes kennen als gemeinsam zusammenzuarbeiten.

Linux ist quicklebendig

Welche Rolle spielt der Linux-Markt noch für Red Hat?

Eror: Linux ist quicklebendig, die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende erzählt. In der neuen Edge-Welt werden abgespeckte Linux-Versionen in der Kombination mit Kubernetes eine entscheidende Rolle spielen. Ich glaube, dass sich Windows in den letzten Jahren immer mehr in Richtung Office, Business, Backend-IT bewegt hat. Alles, was einen Touch von Engineering hat, ist Richtung Linux gegangen. In den letzten paar Jahren sind da ganz neue Linux-basierte Lösungen entstanden: Betriebssysteme im Auto, im Zug, in der Fabrik.

Ich vergleiche das immer gerne mit dem Fußball: Der Spieler auf dem Platz ist sozusagen der Endpunkt am Edge, er hat nur ein paar Millisekunden, um zu entscheiden, was er mit dem Ball macht. Den Trainer am Spielfeldrand kann man sich als das Rechenzentrum vor Ort vorstellen, er muss Informationen schnell aufnehmen und verarbeiten. Und dann gibt es die Cloud, wo sich Trainer und Spieler zusammensetzen, alles analysieren und über die zukünftige Richtung reden.

Was heißt der Edge-Trend für das Produktportfolio von Red Hat? Bieten Sie mehr Branchenlösungen an?

Eror: Wir haben schon heute Edge-Lösungen und Mini-Kubernetes-Angebote für Unternehmen und wir werden unsere Aktivitäten dort weiter massiv verstärken. Red Hat Edge ist unser Portfolio-Ansatz für den Edge-Computing-Markt, mit dem wir Unternehmen bei der Bereitstellung von Rechen-, Netzwerk- und Speicherkapazitäten für Anwendungen außerhalb ihres Rechenzentrums oder ihrer Cloud-Footprints unterstützen.

Es wird niemals alles in der Public Cloud betrieben

Ihren Ausführungen zufolge gehört die Zukunft einer hybriden IT-Welt mit Public- und Privat-Cloud-Anteilen, aber auch noch mit On-Premises-Systemen. Ist das eine Übergangserscheinung und am Ende landen doch alle zu 100 Prozent in der Public Cloud?

Eror: Unsere Strategie ist klar: Wir setzen auf die Hybrid Cloud. Das ist auch meine persönliche Überzeugung und es entspricht meinen Erfahrungen aus unzähligen Kundengesprächen. Die Cloud ist nicht erst seit gestern da. Mittlerweile hat sich für alle Beteiligten, vermutlich sogar für die Hyperscaler, herauskristallisiert, dass niemals alles in der Public Cloud betrieben werden kann. Die großen Cloud-Provider arbeiten ja auch gerne mit uns zusammen, weil sie OpenShift kennen und wissen, dass die Verbindung zu den On-Prem-Systemen einfach darstellbar ist.

Die Verbindung Edge, On-Prem und Cloud, das ist für mich die "Super-Cloud". Das wird zu einer ganz neuen Dimension führen, wo man sich als Endanwender nicht mehr Gedanken machen muss, wo was läuft, aber wo sichergestellt wird, dass es optimal, sicher und schnell läuft. Da muss man auch von Applikation zu Applikation schauen. Wenn Sie eine richtig datenintensive App haben, dann ist On-Prem vielleicht unter Berücksichtigung von Performance und Kosten immer noch die beste Lösung. Wenn die Applikation nicht so datenintensiv ist, dann ist es leichter in die Public Cloud zu gehen.

Ein weiteres Standbein neben Linux und Containertechnologie ist Ihr Automatisierungsportfolio, dass Sie unter der Marke Ansible anbieten. Welche Strategie verfolgen Sie hier?

Eror: Wenn Sie sich anschauen, wie knapp gutes IT-Personal geworden ist, dann wird klar, dass Automatisierung der einzige Ausweg aus dieser Misere ist. Als ich zu Red Hat kam, hatte ich - zugegebenermaßen - eine Wissenslücke, was das Automatisierungsportfolio angeht. Gerade wenn wir in das Multi-Cloud-Zeitalter übergehen, ist es ganz wichtig, dass alles aus einer Hand gemanagt werden kann. Aus meiner Sicht hat Red Hat Ansible Automation Platform hier das Zeug zu einem Defacto-Standard.

Wird IBM die Ansible-Produkte von Red Hat mit den eigenen Automatisierungslösungen integrieren?

Eror: Das kann ich nicht sagen, das müssen andere im Unternehmen entscheiden. Aber da bisher alle strategischen Entscheidungen sehr durchdacht waren, mache ich mir da keine Gedanken.