Schlechtes Zeugnis

Deutschland analog – Experten kritisieren

20.04.2021
Von 
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Deutschland hinkt bei der Digitalisierung weit hinterher. Die Corona-Krise habe die Defizite schonungslos offengelegt, lautet das Fazit des Expertenbeirats des Bundeswirtschaftsministeriums.
Vor allem in Sachen E-Government und Digitalisierung von Behörden in Bund, Ländern und Kommunen gibt es hierzulande noch viel Luft nach oben.
Vor allem in Sachen E-Government und Digitalisierung von Behörden in Bund, Ländern und Kommunen gibt es hierzulande noch viel Luft nach oben.
Foto: Everett Collection - shutterstock.com

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie stellt den Digitalisierungsbemühungen hierzulande ein schlechtes Zeugnis aus. "Deutschland ist sowohl beim Ausbau der digitalen Infrastruktur als auch beim Einsatz digitaler Technologien und Dienstleistungen hinter viele andere OECD-Staaten zurückgefallen", heißt es in einem aktuellen Gutachten eines unabhängigen Expertengremiums aus Wissenschaftlern verschiedener Forschungseinrichtungen und Universitäten. In dem Bericht "Digitalisierung in Deutschland - Lehren aus der Corona-Krise" analysieren die Experten, warum die Digitalisierung in bestimmten Bereichen wie dem Schul- und Gesundheitswesen nur schleppend vorankommt, und geben Empfehlungen, wie der Staat die Bremsen in der digitalen Transformation lösen könnte.

"Ein klassisches Marktversagen"

Diagnostiziert werden etwa Rückstände beim Breitbandausbau, im Bereich E-Government und bei der digitalen Ausstattung von Schulen, Universitäten und des Gesundheitswesens. Auch viele Unternehmen stünden mit ihren digitalen Geschäftsmodellen noch nicht dort, wo sie sein müssten. Bei der Ursachenforschung finden die Wissenschaftler klare Worte: "In einigen Bereichen liegt ein klassisches Marktversagen vor." Dies gelte insbesondere beim Ausbau der digitalen Infrastruktur. "In vielen weiteren Bereichen scheinen dagegen verschiedene Formen von 'Organisationsversagen' zu dominieren", heißt es weiter. Vieles von dem, was während der Corona-Pandemie in kurzer Zeit umgesetzt wurde, hätte auch schon lange vor der Krise angepackt werden können.

Eine der Ursachen für das digitale Versagen könnte aus Sicht des Gremiums sein, dass Organisationen Schwierigkeiten haben, Prozessinnovationen in ihre internen Abläufe zu integrieren. Die Experten verweisen auf die Verhaltensökonomie, wonach mangelnde Veränderungsbereitschaft mit einem sogenannten Status Quo Bias zu erklären ist. Neuerungen werden demnach dann ablehnt, wenn sie "in einigen Dimensionen mit Verlusten verbunden sind, selbst wenn die Gewinne in anderen Dimensionen überwiegen." Nach Einschätzung des Beirats sind es insbesondere diese Formen des Organisationsversagens, die in Deutschland überwunden werden müssen. "Eine erfolgreiche digitale Transformation erfordert nicht nur die Implementierung digitaler Technologien, sondern auch die Anpassung von Arbeitsprozessen und das Erlernen neuer Fähigkeiten", heißt es in dem Bericht.

Darüber hinaus verweisen die Verfasser auf juristische und bürokratische Hemmnisse für die Digitalisierung. Beispielsweise werde hierzulande der Datenschutz oft als ein Wert angesehen, der in der Abwägung mit anderen Rechtsgütern absolute Priorität genieße. Das habe die Nutzung digitaler Möglichkeiten während der Corona-Krise stark eingeschränkt, wie die Corona-Warn-App und die sich immer weiter verzögernde elektronische Patientenakte gezeigt hätten. Zudem sei die Einführung einheitlicher Verfahren und Standards in der öffentlichen Verwaltung an vielen Stellen durch Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern verzögert worden.

Digitalisierungslücken behindern Kampf gegen Corona

Das Fazit des Beirats rund um den Vorsitzenden Klaus Schmidt, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist eindeutig: "Die Corona-Pandemie hat den Rückstand Deutschlands bei der digitalen Transformation in vielen Bereichen schonungslos offengelegt." Die Pandemie habe überall dort Defizite aufgezeigt, wo deutsche Institutionen - Verwaltungen, Unternehmen, Schulen, Hochschulen, Gerichte - ihren längst erkannten und ausführlich diskutierten Aufgaben zur Digitalisierung nicht nachgekommen seien. Die Folgen sind gravierend: "In der Pandemie haben diese Schwächen eine wirksame Antwort der Politik auf die Krise und die Begrenzung des ökonomischen Schadens massiv behindert."

Die Gutachter fordern einen aktiveren Einsatz der Politiker. Dabei reiche es nicht aus, nur Geld bereitzustellen. In den überwiegenden Fällen seien die Digitalisierungsrückstände mit verschiedensten Formen des Organisationsversagen zu begründen. Der Staat solle an dieser Stelle mit gutem Beispiel vorangehen. Gerade im öffentlichen Bereich seien hier erhebliche Defizite zu konstatieren. "Digitale Transformation muss mit einer Reform von Organisationen und Prozessen einhergehen", heißt es in dem Bericht. Etablierte Gesetze und Organisationsweisen müssten auf ihre Eignung in einer digitalen Welt hin überprüft und reformiert werden. Dazu seien einfache Verwaltungsabläufe, auch im föderalen Kontext, sowie klare politische und unternehmerische Führung notwendig.

OECD mahnt Digitalisierungsinitiativen an

Auch international werden die Rufe nach einer besseren Unterstützung des digitalen Wandels lauter. Angesichts der Corona-Pandemie und ihrer dramatischen Folgen hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Volkswirtschaften weltweit dazu aufgefordert, sich "neu zu erfinden" und damit krisenfester zu werden. Speziell Deutschland müsse mehr in seine Infrastruktur investieren, beispielsweise in Breitbandnetze für die Telekommunikation. "Die Regierungen müssen jetzt handeln", sagte OECD-Generalsekretär Angel Gurria anlässlich einer Online-Konferenz in Paris. Es gehe jetzt darum, den maximalen Nutzen aus dem bevorstehenden Aufschwung nach der Pandemie zu ziehen. Laut OECD wird die Weltwirtschaft im laufenden Jahr um 5,6 Prozent zulegen, nachdem sie im vergangenen Jahr um 3,4 Prozent geschrumpft war.

Von einem konzertierten Digitalisierungsplan, geschweige denn dessen Umsetzung, ist die Politik aber offenbar weit entfernt. Im Gegenteil: Die Kritik des Expertengremiums, das den aktuellen Bericht unter der Federführung von Stefan Bechtold, Professor an der ETH Zürich, verfasst hat, lässt man im Wirtschaftsministerium abprallen und schiebt den Schwarzen Peter lieber anderen zu.

Für Irritationen sorgte erst kürzlich der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier selbst. Anlässlich der Hannover Messe schimpfte der CDU-Politiker über die Rückstände in Deutschland und verwies darauf, wie weit andere Staaten beispielsweise in Osteuropa bereits fortgeschritten seien. Er sei "notfalls auch bereit, das beste digitale Online-Team aus Estland einzufliegen zu lassen und die zu bitten, das zu vollenden, was wir in den letzten drei Jahren begonnen haben", polterte Altmaier auf einer Online-Veranstaltung der Hannover Messe Industrie (HMI). "Wir können uns nicht erlauben, noch einmal vier Jahre zu warten." Dass es in den baltischen Staaten möglicherweise an den von der Politik geschaffenen Rahmenbedingungen liegen könnte, warum die Digitalisierung gut funktioniert, davon will Altmaier allem Anschein nach nichts wissen.

Peter Altmaier brüskiert deutsche Startups

Vor allem in der lebendigen deutschen Startup-Szene kam diese Pauschalkritik gar nicht gut an. Man sei nicht nur irritiert, sondern vor allem auch enttäuscht, hieß es in einem offenen Brief mehrerer Gründer an den Wirtschaftsminister. Es fehle die Wertschätzung des Ministeriums für die hiesige Startup-Szene, kritisieren die Gründer. "Das hat zu unserem großen Bedauern auch dazu geführt, dass in der Pandemiesituation Chancen und Erleichterungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, schlichtweg liegengelassen worden sind."

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier will von eigenen Fehlern nichts wissen und schiebt die Schuld, warum es mit der Digitalisierung hierzulande nicht vorwärts geht, lieber anderen in die Schuhe.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier will von eigenen Fehlern nichts wissen und schiebt die Schuld, warum es mit der Digitalisierung hierzulande nicht vorwärts geht, lieber anderen in die Schuhe.
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"Wir sind junge Menschen, die seit vielen Jahren mit Begeisterung und Leidenschaft, gemeinsam mit unseren Teams, an der Digitalisierung in diesem Lande mitarbeiten", schreiben Markus Hertlein (CEO XignSys GmbH), Matteo Große-Kampmann (CEO AWARE7 GmbH), Mirko Mollik (CEO TrustCerts GmbH), Sebastian Zimnol (CEO WETOG GmbH) und Dr. Dieter Kramps (CEO cobago GmbH). Sie verweisen unisono auf ihre fundierten Ausbildungen, ihre Entscheidung, Unternehmen zu gründen, sowie die dort entstandenen technologischen Innovationen. "Was wir allesamt nicht verstehen, ist: Wieso werden wir von Ihnen in diese doch akuten Fragen sowohl mit unserer Lust an der Thematik als auch unserem Fachwissen nicht miteinbezogen, vielleicht nicht einmal gehört?"

Auch den Startup-Gründern ist bewusst, dass es im Bereich der Digitalisierung aufzuholen und nach vorne zu arbeiten gilt. Dabei fehle es der Politik allerdings an der richtigen Perspektive: "Ideen und Tatkraft sind vorhanden, sogar direkt vor der eigenen Haustür, in öffentlichen Verwaltungen, an den Hochschulen, in Startups. Sie müssen aber eben auch nachgefragt und gehört werden." Die Startups sind dem eigenen Bekunden nach willens hier mit anzupacken, fordern gleiches aber auch von der Politik: "Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn" zitieren sie, an Altmaiers Adresse gerichtet, aus Goethes Faust.