Alle Internetagenturen hassen Projekte und machen sie trotzdem

Der Traum der Produktfirma

12.09.2016
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Seit 1997 hat sich Alain Veuve an einer Reihe von Open-Source-Projekten, IT- und Internet-Unternehmen sowie Startups beteiligt. In Rahmen dieser Tätigkeiten hat Alain unterschiedliche internationale Unternehmen bei der digitalen Transformation sowie bei ihren E-Business-Unterfangen begleitet und beraten. Heute ist Alain ein vielzitierter Thought Leader für die digitale Transformation in Europa, der regelmäßig als Referent an Konferenzen teilnimmt. Sein Blog, alainveuve.ch, ist eine beliebte Quelle für Erkenntnisse für Entscheidungsträger innerhalb der Digital-Branche.

Strategische Grundlagen

Meistens scheitern Ideen an der grundsätzlichen strategischen Konzeption. Weit verbreitet ist zum Beispiel das Digitalisieren von bestehenden Prozessen. Auf den ersten Blick eine logische und gute Sache - nur basieren die meisten Ideen darauf, alteingesessene Prozesse und Branchenkonstellationen nun digital abdecken zu wollen. Ich halte das für bloßen Unfug.
Eine strategische Konzeption muss sich immer danach richten ein Kundenproblem zu lösen. Je einfacher und günstiger, desto besser.

Das Digitalisieren bestehender Kundenprozesse - um des Digitalisierens Willen - muss nicht immer das gewünschte Ergebnis bringen.
Das Digitalisieren bestehender Kundenprozesse - um des Digitalisierens Willen - muss nicht immer das gewünschte Ergebnis bringen.
Foto: ra2studie - shutterstock.com

Überlegen Sie ohne bestehende Lösungen und Best-Practice im Kopf zu haben: wie würde ich das Kundenproblem mit den technischen Möglichkeiten heute lösen? Und überlegen Sie eben nicht: wie kann ich einen bestehenden Lösungsweg digitalisieren?

Funktionierenden Code zu haben ist noch lange kein Produkt

Oft treffe ich auch auf Menschen, die eine Applikation bereits laufen haben. Jene meinen in der Regel, man müsse es nun nur noch ein wenig aufhübschen, die Doku schreiben, einen Support und einen Cart einrichten und dann könne es losgehen. Das ist natürlich Quatsch, werden Sie sagen. Es ist ja selbstverständlich, dass Vermarktung und Verbreitung etc. viel Aufwand und Geld bedeutet. Und so ist es auch.

Aber noch davor kommt das Hardening des Codes. Es stellen sich Fragen wie:

  • Was passiert, wenn 20.000 Kunden die Plattform nutzen?

  • Was ist, wenn wir über die Kundenbasis ein sicherheitsrelevantes Update schnell deployen müssen?

«Vielfach kann die Codebasis mit den Zielen in Businessplänen nicht mithalten.»

Starten Sie trotzdem, kann es - es muss aber nicht - relativ bald zum Crash kommen. Nämlich dann, wenn das Produkt rege genutzt wird, Sie aber permanent Qualitätsprobleme haben. Das fühlt sich dann in etwa so an, wie ein Projekt in Schieflage - einfach mit 20.000 Projekt-Stakeholdern auf Kundenseite.

Support

Support ist wichtig. Ich weiss natürlich, dass viele Start-Ups sich radikal auf autonom funktionierende Plattformen konzentrieren und aus verschiedenen Gründen möglichst wenig menschliche Interaktion wünschen. Auch VCs pushen das in der Regel. So sympathisch mir das grundsätzlich ist, so hoch gewichte ich trotzdem richtig guten Support. Dies aus zwei Gründen:

  1. Es ist eine von zwei fundamentalen Möglichkeiten die Customer Experience zu gestalten - die andere ist das Produkt selber. Es gibt nichts besseres für eine Kundenbeziehung, als ein Problem, das der Support des Anbieters zur Zufriedenheit des Kunden in kurzer Zeit gelöst hat.Es ist mir unverständlich, warum so viele Unternehmen auf der einen Seite Unsummen in ihr Image investieren und sich auf der anderen Seite die beste Gelegenheit dem Kunden ein Image zu vermitteln, entgehen lassen. Statt dessen arbeiten sie im Supportfall mit out-gesourctem, schlecht geschultem Personal und zweifelhaften Reglements.

  2. Nie ist man dem Kunden näher. In keiner Umfrage die man breit anlegt und in keiner Marktforschung. Es ist die ultimative Möglichkeit mehr über die Bedürfnisse und Sorgen der Kunden zu lernen. Das wiederum ist der Rohstoff mit dem Sie ein wirklich herausragendes Produkt erarbeiten.

Eine Produktfirma werden

Der grösste Irrtum aber ist, dass es möglich sei, organisch aus einem Agenturbusiness in ein Produktbusiness zu wachsen. Natürlich gibt es Beispiele. Sehr prominent sind zum Beispiel Magento oder auch 37Signals, aber in aller Regel funktioniert das nicht.

Denn ein Produktbusiness aufzuziehen ist extrem aufwändig und benötigt stete Arbeit. Das ist in kleinen Firmen besonders schwierig, weil Projekte eben auch gemacht werden müssen und sobald etwas nicht rund läuft wieder 100 Prozent Aufmerksamkeit benötigen. Vernachlässigt wird dadurch: wie könnte das Produkt anders sein?

Warum machen wir in der Digitalbranche Projekte?

Und so bleiben viele, auch wenn sie neue Ideen haben, dem Projektgeschäft treu. Denn es ist eben sehr einfach. Jemand der sich verkaufen kann tut sich mit jemandem der programmieren kann zusammen. Und schon steht die Agentur.
Schon klar, ich übertreibe. Aber es geht doch in diese Richtung. Da die Nachfrage derart hoch ist und die Kunden ein tiefes fachliches Niveau aufweisen, kann fast jeder mit gutem Digital-Know-How schon im ersten Monat Umsätze generieren.

Die wirkliche Herausforderung für Agenturen

Auch wenn viele Agenturinhaber einen Produktvertrieb als eine Art von höherem unternehmerischem Dasein betrachten, denke ich diese Vorstellung ist verklärt. Vielmehr erachte ich als wirkliche Herausforderung die Verselbstständigung des Geschäfts. Das heißt, das Agenturteam kann Projekte durchführen, ohne dass das Management involviert ist. Es ist für mich unglaublich, in wie vielen grösseren Agenturen ohne Führungsköpfe nichts geht. Auf dem täglichen Level wohlverstanden.

Das sollte für viele Unternehmer die Herausforderung sein, die es zu meistern gilt. Denn wenn das geschafft ist wäre da auch die Zeit und Energie sich um ein Produkt zu kümmern. Hätte. Wäre. Wenn.