Forrester prognostiziert 2022

Der Mensch rückt in den Mittelpunkt

29.12.2021
Von 
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Auf IT-Organisationen kommen im neuen Jahr ­große Herausforderungen zu, sagt Forrester Research. Um dem ­gewachsen zu sein, müssten die CIOs ihre ­IT-Ressorts neu ausrichten.
CIOs können 2022 mehr Geld für Technik und IT ausgeben.
CIOs können 2022 mehr Geld für Technik und IT ausgeben.
Foto: studiostoks - shutterstock.com

Die Aussichten für die weltweite IT-Branche bleiben auch 2022 hervorragend. Die Analysten von Forrester gehen von einem starken globalen Wachstum der Technologieausgaben aus – plus sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Allerdings werden auch die Herausforderungen nicht weniger – Pandemie und Inflation gehören dazu, ebenso anhaltende Lieferketten-Probleme und neue ESG-Anforderungen (Environment, Social, Governance). Hinzu komme, dass die volatileren Märkte und immer anspruchsvolleren Kunden den Druck auf die Firmen erhöhten.

Im Zuge der digitalen Transformation stehen den Forrester-Aussagen zufolge immer mehr die Individuen im Mittelpunkt. Neben den Kunden, die eine passend auf sie zugeschnittene Customer Experience (CX) erwarten, dreht sich gerade in Zeiten der Coronakrise viel um die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Employee Experience (EX). Es gilt, das Personal in einer hybriden Arbeitswelt bei der Stange zu halten und dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten produktiv bleiben. Um diesen kontinuierlichen Wandel erfolgreich umzusetzen, benötigen CIOs und Tech-Verantwortliche in den Anwenderunternehmen eine zukunftssichere Strategie, die anpassungs­fähig, kreativ und widerstandsfähig ist.

Dabei wird sich aus Sicht von Forrester die Perspektive im laufenden Jahr verschieben. 2021 hätten viele CIOs noch eher kurzfristig entscheiden müssen, wie sie ihre Kunden bedienen und ihre Mitarbeiter unterstützen können. 2022 werde ein Jahr, in dem längerfristige Herausforderungen anzugehen seien. Das Ziel dabei: Eine solide, aber gleichzeitig anpassungsfähige Grundlage zu schaffen, die Freiraum für Kreativität lässt und auf deren Basis sich das eigene Unternehmen im Wettbewerb differenzieren kann. Mit folgenden Thesen läutet Forrester das IT-Jahr 2022 ein:

These 1: Menschenzentrierte Transformation

Top-CIOs werden den Sprung von einer ­digitalen zu einer menschenzentrierten Technologietransformation schaffen. Die digitale Transformation ist gekommen – und gegangen. Im Jahr 2021 sagten nur 21 Prozent derjenigen Manager, die Kaufentscheidungen ihrer Unternehmen beeinflussen, dass ihre Firmen die digitale Transformation als Schlüsselmaßnahme vorantreiben, um die Herausforderungen im Zuge der sich ändernden Geschäfts­modelle zu bewältigen. 2022 werden dies sogar weniger als 15 Prozent bekunden, prognostizieren die Forrester-Analysten.

Das bedeute aber keineswegs, dass sich die von der Pandemie beschleunigte Inbetriebnahme neuer Technologien wieder verlangsamen wird. Es brauche jedoch neue Impulse und Ideen. Forrester spricht an dieser Stelle von einer Art "digitaler Gleichförmigkeit", die sich ausgebreitet habe und den Unternehmen nicht wirklich weiterhelfe. Sinkende Renditen für IT-Investitionen würden die Verantwortlichen in den Betrieben dazu veranlassen, neue Wege zu suchen, um sich in meist gesättigten und überfüllten Märkten zu behaupten.

Der Mensch muss stärker in den Mittelpunkt der digitalen Transformation rücken.
Der Mensch muss stärker in den Mittelpunkt der digitalen Transformation rücken.
Foto: YAKOBCHUK VASYL - shutterstock.com

Führende Unternehmen mit Tech-Weitblick werden die Kreativität ihrer Mitarbeiter freisetzen, indem sie intelligente Technologien wie Automatisierung und Prognosemaschinen einsetzen. Diese Initiativen würden nicht nur an finanziellen Resultaten gemessen. Dieser Wandel wird eine neue Ära der Transformation einleiten, sind die Marktauguren überzeugt. Sie sprechen von einer Ära, in der menschenzentrierte Tech-Initiativen im Mittelpunkt stehen und eine enge Verbindung zwischen Kunden- und Mitarbeitererfahrung herstellen.

Gelinge dies, könnten die Betriebe auf Wettbewerbsvorteile und einen Netto-Produktivitätszuwachs von drei bis fünf Prozent hoffen. Tech- Verantwortliche mit Weitblick würden im Jahr 2022 Investitionen in strategische Partnerschaften und Innovationspraktiken priorisieren, um die kreative und innovative Kapazität ihres Unternehmens zu erweitern.

These 2: Der Kampf um Talente wird schärfer

Die Panik, keine Talente mehr im Technologie­sektor zu finden, wird wachsen. Forrester rechnet damit, dass der Fachkräftemangel große Lücken in die Tech- und ­IT-­Teams reißen wird – vor allem in Unternehmen mit eher traditionell ausgerichteten Ansätzen der Personalarbeit. Gerade bei diesen Nachzüglern werde es dauern, neue Strategien zu ent­wickeln und diese Lücken zu verkleinern. In vielen Betrieben verlaufe die Umstellung auf zukunftsfähige Strategien rund um das An­heuern von Talenten zu langsam.

Mit einer Rate von 13,8 Prozent ist die Fluktuation im IT-Sektor höher als in anderen Profes­sionen, stellen die Analysten fest. Im Durchschnitt dauere es 66 Tage, um eine Stelle im technischen Bereich zu besetzen, im Vergleich zu 45 Tagen in nichttechnischen Jobs. Viele Führungskräfte würden an die Personalbeschaffung im technischen Bereich mit tradi­tionellen Methoden herangehen und damit scheitern. Die Nachfrage nach vielen technischen Skills werde das Angebot weit übersteigen, häufige Jobwechsel würden zur neuen Normalität.

Wer die besten Leute für sein Unternehmen anheuern möchte, wird kämpfen müssen.
Wer die besten Leute für sein Unternehmen anheuern möchte, wird kämpfen müssen.
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Die besten IT- und Tech-Mitarbeiter suchten nach wirklich interessanten und zukunftsträchtigen Arbeitsplätzen. Wenn sie ihren bisherigen Brötchengebern den Rücken kehrten, nähmen sie neben ihren technischen Fähigkeiten auch Kenntnisse über die geschäftlichen Strategien und über die Arbeitsweise dieser Unternehmen mit. Das sorgt laut Forrester für Frust bei den eher traditionell orientierten Unternehmen. Diese werden auf klassische Methoden zurückgreifen, um Talente anzuziehen und zu halten – zum Beispiel auf Gehaltserhöhungen. Das wird langfristige finanzielle Auswirkungen sowohl für das eigene Unternehmen als auch für den gesamten Talentmarkt haben.

Was machen moderne und zukunftsfähige Arbeitgeber anders? Laut Forrester können sie den Druck etwas mindern, indem sie Cloud-First- und plattformbasierte Architekturen verwenden und Low-Code-/No-Code-Lösungen einsetzen. Damit können mehr Anwender aus dem Business IT-Aufgaben übernehmen, was die Lage ein wenig entspannt. Manche Betriebe werden sich zudem auf Talentmarktplätzen tummeln, um traditionelle Personalvermittlungsmodelle zu ergänzen oder zu ersetzen.

These 3: Technische Schulden wachsen

Das rasante Innovationstempo in der IT wird die technischen Schulden vergrößern. Forrester rechnet damit, dass rund 60 Prozent aller Unternehmen mit diesem Problem zu kämpfen haben werden. Um Kunden besser bedienen und Mitarbeitende optimal unterstützen zu können, und um außerdem an Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz zu ge­winnen, setzen Unternehmen an den ver­schiedensten Stellen neue Technologien ein. Digital laufen der Handel, das Lieferketten- Management, die Kundenansprache und die Geschäftsprozess­gestaltung – um nur einige Beispiele zu nennen. Auch die Fertigungs­technologie beschleunigt ihre Digitalisierungsinitiativen. Die Unter­nehmen versuchen, den Betrieb ihrer Anlagen durch Automatisierung mithilfe des Internet of Things (IoT) und Edge Computing zu optimieren.

Diese Initiativen bringen viele Vorteile mit sich, aber sie werden langfristig auch etliche Probleme verursachen, prognostizieren die Forrester-Analysten. Als Beispiel nennen sie einen großen Telekommunikationsanbieter aus Asien. Dort hätten die mangelnde Abstimmung zwischen Business und IT sowie die Rolle der IT als Auftragsabwickler zu isolierten digitalen Diensten geführt. Das habe in der Konsequenz zu Verwirrung und Frustration aufseiten der Kunden geführt – und damit die technischen Schulden erhöht.

Nur wer seine Digitalinitiativen gut mit dem Business abstimmt, wird seine technischen Schulden tilgen können.
Nur wer seine Digitalinitiativen gut mit dem Business abstimmt, wird seine technischen Schulden tilgen können.
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Viele Unternehmen weltweit hätten mit ähn­lichen Problemen zu kämpfen. Die Tatsache, dass sie der Geschwindigkeit den Vorrang vor der Wartbarkeit einräumten, führe zu einer überhöhten technischen Verschuldung, was in der Folge die Fähigkeit zur Modernisierung ihrer IT-Organisation weiter gefährde.

In Unternehmen, die weitsichtiger in dieser Hinsicht agieren, arbeiten die IT- und Technik-Verantwortlichen eng mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus den Fachabteilungen zusammen und teilen sich die Verantwortung für die jeweiligen Projekte. Dabei geht es beispielsweise darum, eine nahtlose, durchgängige Kundenerfahrung über alle Funktionen hinweg auszuliefern. Alle Beteiligten strebten ein Gleichgewicht an – zwischen kurzen, schnell umzusetzenden Maßnahmen und langfristigen Ansätzen, um Prozesse und Geschäftsmodell digital anzupassen. Das betrifft Forrester zufolge zum Beispiel betriebliche Wertströme und die Abbildung des CX-Ökosystems. Gleichzeitig arbeiten diese Unternehmen mit Hochdruck daran, ihre technische Architektur zu modernisieren und auf die Cloud umzustellen.

These 4: Viele Transformationsvorhaben verfehlen Ziele

Stagnierende Betriebsmodelle werden dazu führen, dass viele Transformationsvorhaben ihre Ziele verfehlen. Laut den Analysten betrifft das unter anderem die Hälfte aller Produkttransformationen. Grundsätzlich befördere die wachsende Kreativität inmitten wirtschaftlicher Unbeständigkeit und Unsicherheit die Innovation. Ein übermäßiger Rückgriff auf kommerzielle Standardlösungen, die zudem noch über langsame traditionelle IT-Prozesse bereitgestellt werden, führe jedoch zu einer Art digitalen Gleichförmigkeit.

Als Reaktion darauf werden laut Forrester mehr als 40 Prozent der IT- und Tech-Organisationen 2022 ein produkt­zentriertes Bereitstellungsmodell einführen. Das Ziel: Sie wollen damit ihre Bereitstellung differenzierter digitaler Erfahrungen verbessern. Außerdem werden die IT-Abteilungen versuchen, die Autonomie ihrer Teams zu erhöhen, um einen höheren Kundennutzen zu erzielen. Der Einsatz von Praktiken und Methoden wie Agile und DevOps soll an dieser Stelle helfen.

Um ihre Ziele zu treffen, müssen CIOs Technologieprojekte wie Produkte behandeln.
Um ihre Ziele zu treffen, müssen CIOs Technologieprojekte wie Produkte behandeln.
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Forrester nennt das Unternehmen Enterprise Holdings Inc. (EHI) als Beispiel für diesen Ansatz. Dort wurde eine neue Funktion für das Produktmanagement geschaffen, um diesen Wandel zu unterstützen. Die Verantwortlichen sind der Meinung, dass "Technologie wie Produkte verwaltet werden muss und nicht wie IT-Projekte, die entwickelt und gestartet werden und dann in einem Regal liegen", resümieren die Berater.

Forrester befürchtet aber, dass nur wenige Unternehmen diese Neuausrichtung richtig hinbekommen werden. Im Jahr 2021 hätten gerade einmal 21 Prozent der Softwareentwicklungs­teams angegeben, die Schaffung eines multidisziplinären Produktteams gehöre zu ihren drei wichtigsten Prioritäten für 2022. Nur 31 Prozent hätten erklärt, verstärkt Dev­Ops-Tools und -Verfahren einsetzen zu wollen. Viele Bemühungen würden ins Stocken geraten, weil die Unternehmen keine klare Produktstrategie definiert hätten und nicht in der Lage seien, Teams, Talente und Prozesse entsprechend zu verändern. Außerdem fehle es ihnen schlichtweg an Produktmanagern.

These 5: Mehr CIOs müssen den Umsatz im Blick haben

Zu wenige Führungskräfte in den IT- und Tech-Abteilungen sind auf den Umsatz fixiert. Forrester zufolge hat gerade einmal jeder zehnte CIO diese Kennzahl auf seinem Radar. Doch gerade wenn es darum gehe, das Unternehmenswachstum voranzutreiben, müssten alle im Unternehmen mit anpacken. Die meisten IT- und Tech-Führungskräfte in Betrieben, die sich im Wachstums- oder Hyperwachstumsmodus befinden, stehen den Analysten zufolge unter erheblichem Druck, für ihren Betrieb etwas zu leisten. Sie müssen schneller werden, neue Arbeitsweisen einführen und sich auf Ziele einstellen, die auf die Erfüllung der Kundenbedürfnisse und -anforderungen ausgerichtet sind.

Forrester zitiert Mike McNamara, CIO bei der einzelhandels-Kette Target: „Früher ging es darum, Geld zu sparen. Jetzt geht es darum, Geld zu verdienen“. Obwohl die meisten Führungskräfte aus dem technischen Bereich dieser Aussage wahrscheinlich zustimmen würden, dürften höchstens zehn Prozent von ihnen im Jahr 2022 die direkte Umsatzgenerierung als Teil ihrer individuellen KPIs angeben. Die meisten IT-Führungskräfte halten an den alten Methoden zur Messung der Tech-Leistung fest: Ihre Balanced Scorecards konzentrieren sich auf Betriebsstabilität, Kostensenkung und Serviceeffizienz statt auf umsatzbasierte Kunden- und Geschäftsergebnisse. Auch im Jahr 2022 werden die meisten CIOs weiterhin als isolierte Versorger und Auftragsempfänger arbeiten und anhand traditioneller Maßstäbe gemessen werden.

Moderne, zukunftsorientierte Betriebe werden sich indes anders ausrichten, glaubt Forrester. Deren CIOs würden gemeinsam mit ihren Partnern auf der Business-Seite für abgestimmte Geschäftskennzahlen und Ziele verantwortlich sein, vor allem um das künftige Umsatzwachstum zu beschleunigen.