Tim O’Reilly im Gespräch

"Das goldene Zeitalter ist vorbei"

14.07.2020
Von  und


Scott Carey ist Redakteur bei unser IDG-Schwesterpublikation Computerworld in Großbritannien. Der IT-Journalist mit dem Schwerpunkt auf Unternehmensanwendungen moderiert auch Branchenveranstaltungen. Besonders interessieren ihn die großen IT-Player und Cloud-Service-Anbieter. Er hat ein Diplom in Journalistik an der Universität Cardiff in Wales erworben. In seiner Freizeit treibt er Sport, reist viel und beschäftigt sich intensiv mit der Medienlandschaft in Großbritannien.


Florian Maier beschäftigt sich mit diversen Themen rund um Technologie und Management.
Tim O’Reilly hat sich im Laufe seiner 40 Jahre währenden Karriere zu einer Art Orakel für die Technologiebranche entwickelt. Höchste Zeit für ein Gespräch.
Wie sieht unsere Welt in der Zukunft aus? Um eine Katastrophe zu verhindern, sollte nach Ansicht von Tim O'Reilly oberste Priorität genießen, den Klimawandel aufzuhalten.
Wie sieht unsere Welt in der Zukunft aus? Um eine Katastrophe zu verhindern, sollte nach Ansicht von Tim O'Reilly oberste Priorität genießen, den Klimawandel aufzuhalten.
Foto: Vadim Sadovski - shutterstock.com

Er gilt vielen als Erfinder der Begriffe "Open Source" und "Web 2.0" und war im Laufe der letzten 40 Jahre vieles - zum Beispiel Entrepreneur, Publisher, Autor und Risikofinanzier. Auch heute befindet sich Tim O'Reilly in einer interessanten Position: Einerseits bezeichnet man ihn als "Techno-Optimist", weil er davon überzeugt ist, dass der Einsatz Künstlicher Intelligenz nicht nur "on the job" große Vorteile bringt, sondern auch wenn es darum geht, existenzielle Krisen der Menschheit - etwa den Klimawandel - zu bewältigen. Andererseits gilt O'Reilly aber auch als entschiedener Gegner der vor allem im Silicon Valley wuchernden Machzentralen, die die technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hervorgebracht hat.

Die Kollegen unserer englischsprachigen Schwesterpublikation Infoworld hatten die Gelegenheit, mit Tim O'Reilly über die Herausforderungen zu sprechen, die der Technologiebranche - und der Menschheit - in den kommenden Jahren bevorstehen.

Das Ende des goldenen Zeitalters

"Ehrlich gesagt, können wir froh sein, wenn die Roboter noch rechtzeitig kommen", sagt O'Reilly mit Blick auf eine rasant alternde Weltbevölkerung und den steigenden Druck, eine weltweite Klimakatastrophe abzuwehren. "Unsere Gesellschaft ist mit enormen Herausforderungen konfrontiert: Ungleichheit und Ungerechtigkeit spielen dabei eine große Rolle - für mich ist der Klimawandel aber die wesentliche Challenge. Entweder wir lösen dieses Problem oder wir gehen unter. Lösen können wir es nur, wenn wir jedes Quäntchen menschlicher Intelligenz darauf verwenden. Ich bin davon überzeugt, dass der Klimawandel künftig im Fokus aller Innovation stehen wird."

Dieser neue Fokus, so O'Reilly, könne für eine Welle neuer Jobs sorgen - vorausgesetzt, die Welt verabschiede sich endlich von fossilen Brennstoffen und dem in seinen Worten "Ponzi"-ähnlichen System der Startup-Bewertungen. Dabei geht er nicht so weit, einen neuen Sozialismus zu propagieren, besteht aber darauf, dass das System "im Sinne der Menschheit gestaltet werden muss."

Die Frage ist nur: Wie kann das in der Praxis aussehen? Wie lässt sich eine weltweite Workforce mit den nötigen Skills ausstatten, um den Klimawandel zu stoppen, während die Erträge dieser Bemühungen der Allgemeinheit - und nicht nur einigen Technologiereisen und Vorständen im Silicon Valley - zugutekommen?

Für O'Reilly ist die wesentliche Voraussetzung dafür, die künftigen Möglichkeiten intelligenter Technologien mit menschlichen Fähigkeiten kombinieren zu können, ein völlig neues Grundlagenset: "Das goldene Zeitalter, in dem man Programmierer wurde und damit einen Job sicher hat, ist vorbei. Programmieren ist heute etwas wie die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können. Man muss es einfach können, um voranzukommen - egal in welchem Bereich." Jeder Wissenschaftler sei heutzutage auch Programmierer - so O'Reilly weiter - und Coding-Kenntnisse würden heute etwa auch Journalisten, HR-, Marketing- oder Sales-Spezialisten zugutekommen.

"Wir sind noch weit vom Ziel entfernt"

O'Reilly zeigt sich trotz wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit, der Auflösung der Privatsphäre und der Desinformationskrisen im Silicon Valley weiterhin optimistisch, wenn es um das Potenzial neuer Technologien geht. Woher nimmt er diesen Optimismus? "Es ist ganz klar, dass wir erst jetzt um das enorme Risikopotenzial wissen, dass diese Technologien mit sich bringen - das Risiko für falsche, missbräuchliche Zwecke eingesetzt zu werden."

Die Lösung der Probleme sieht O'Reilly dabei nicht allein als Sache von Regierungsinstitutionen. Zwar sei etwa die Entscheidung des US-Kongresses, Gesichtserkennungstechnologien regulieren zu wollen, ein erster Schritt in die richtige Richtung - reiche aber bei weitem nicht aus, um der Gefahren Herr zu werden: "Wenn es darum geht, eine grundlegende Governance-Struktur für die Technologien zu schaffen, die unsere Gesellschaft wirklich nachhaltig verändern können, sind wir noch weit vom Ziel entfernt."

Tim O'Reilly: "Ethische Prinzipien müssen stärker in die Governance unserer Unternehmen einfließen."
Tim O'Reilly: "Ethische Prinzipien müssen stärker in die Governance unserer Unternehmen einfließen."
Foto: Tim O'Reilly

Dass komplexe Probleme komplexe Lösungen erfordern, zeigt das Beispiel der kürzlich stark eingebrochenen Werbeeinnahmen von Facebook: Bekannte Brands wie beispielsweise Unilever, Starbucks oder Ben & Jerrys zogen ihr Marketing-Budget im Zuge der Diskussion um die Hate-Speech-Richtlinien des Social-Media-Giganten ab. Nach Ansicht von Tim O'Reilly habe Facebook dabei einfach nur getan, was der Konzern am besten kann: Aufmerksamkeit generieren und diese in von Algorithmen getriebene Anzeigenverkäufe umwandeln. Genau diese Praktiken seien vom Markt bisher ausschließlich belohnt worden. "Wenn man versteht, wie algorithmische Systeme funktionieren, stellt man fest, dass es sich um Systeme handelt, die Inhalte kuratieren und Wahlmöglichkeiten repräsentieren. Wir brauchen einen ganz anderen Ansatzpunkt, wenn wir über solche Dinge sprechen - auch wenn es um Gesichtserkennungstechnologien geht: Das sind nur einzelne Punkte auf einer technologischen Roadmap, die die Privatsphäre der Menschen immer weiter einschränkt."

Zwar gebe es kein Wundermittel, um die Probleme zu lösen - dennoch könnten die Prioritäten der großen Technologieunternehmen mit Hilfe verschiedener Maßnahmen wieder mehr mit denen des gesellschaftlichen Gemeinwohls in Einklang gebracht werden: "Ethische Prinzipien müssen stärker in die Governance unserer Unternehmen einfließen. Wir müssen das als ganzheitliches Problem auffassen, das eine ganzheitliche Lösung erfordert", sagt O'Reilly.

"Der Open-Source-Markt ist gefordert"

Seit der Entstehung der Open-Source-Bewegung ist diese vor allem geprägt von Meinungspluralismus. Das beginnt bereits bei der Frage, wie Open Source zu definieren ist. Ein zentraler Gedanke eint die Gemeinschaft jedoch: Quellcode sollte für Jedermann öffentlich zugänglich sein - mit dem Ziel einer kontinuierlichen technologischen Optimierung.

Als langjährige Gallionsfigur der Gemeinschaft schreibt O'Reilly der Open Source Community auch eine tragende Rolle zu, wenn es um die Lösung der technologisch-gesellschaftlichen Probleme geht: "Der Open-Source-Markt ist in der heutigen Welt stark gefordert - und zwar auf einem völlig anderen Level als noch in der PC-Ära. Betrachtet man die Gebiete, auf denen Open Source seine Vorteile voll ausspielt - beispielsweise in der Wissenschaft - wird deutlich, dass es dort nicht in erster Linie um Profitmaximierung geht, sondern darum, Benefits für das Gemeinwohl zu erschließen."

Er habe bereits in frühen Open-Source-Tagen davor gewarnt, sich zu sehr auf den Quellcode zu versteifen, da Daten irgendwann die neue Quelle für Lock-Ins werden: "Die Diskussion innerhalb der Open-Source-Gemeinschaft sollte sich darum drehen, welche Gefahren entstehen können, wenn einige Wenige die Kontrolle über die Algorithmen erlangen, die darüber bestimmen, welche Daten wir zu sehen bekommen."

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer UK-Schwesterpublikation Infoworld.