Automatisieren ohne Prozessoptimierung

Automation First!

08.08.2018
Von 
Andreas Lüth ist Partner bei Information Services Group Germany (ISG) und leitet das Automationsgeschäft von ISG in Europa. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf Strategie- und Transformationsprojekten in den Bereichen Shared Services, Robotic Process & Cognitive Automation sowie Outsourcing. Seit Ende der Neunziger Jahre hat er Branchenkenntnisse vor allem im Bankensektor der Energiewirtschaft, der IT und der Fertigungsindustrie erworben. Lüth ist Kenner der lateinamerikanischen Wirtschaft.

Einsparungen erzielen und reinvestieren

Mit dem Boom der RPA-Technologien erhält das BPR-Vorgehen nun einen mächtigen Gegenspieler. Schließlich haben bereits zahlreiche RPA-Projekte eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass selbst komplexere Geschäftsprozesse innerhalb von zwei bis drei Monaten automatisierbar sind. Hinzu kommt: Die Unterbrechungen, die mit der Automatisierung bereits bestehender Prozesse einhergehen können, sind wesentlich kürzer als in den deutlich komplexeren Transformations­projekten.

Vor diesem Hintergrund muss die Frage erlaubt sein, inwiefern eine parallel zur Automatisierung erfolgende Transformation denn tatsächlich gerade jetzt erforderlich ist. Rechtfertigen die erhofften Nutzengewinne den Aufwand und die Risiken des BPR? Für den einen oder anderen mag dies ketzerisch klingen, doch jeder im Team sollte sich genau überlegen, warum der Prozess denn bislang noch nicht verbessert wurde und warum dies nun im Zuge seiner Automatisierung geschehen soll.

Berührt der zu automatisierende Prozess die Kernkompetenzen eines Unternehmens und entscheidet er unter Umständen sogar über seine weiteren Marktchancen, so wird die Antwort durchaus ein klares "Ja" sein. Automatisierung und Transformation sollten dann sehr wohl Hand in Hand gehen. Doch sind gerade solche Prozessveränderungen kom­plex und kostspielig. Um sich ausreichend Luft für ein solches Kernvorhaben zu verschaffen, lohnt es sich für das Unternehmen umso mehr, möglichst viele sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten für seine RPA-Werkzeuge zu identifizieren und diese konsequent auszunutzen. Denn innerhalb vergleichsweise kurzer, gut kalkulierbarer Zeiträume lassen sich damit Einsparungen erwirtschaften, die sich zur Gegen­finanzierung strategischer BPR-Projekte einsetzen lassen.

Die Erfahrungen der RPA-Vorreiter zeigen eindrucksvoll, welche Res­sourcen sich in diesem Zusammenhang umschichten lassen. Im Schnitt kann ein typischer Software-Bot die Arbeit von drei bis fünf Mitarbeitern übernehmen. In der Regel decken die daraus resultierenden Einsparun­gen die Kosten für die Prozessautomatisierung bereits im ersten Betriebsjahr ab. Von da an sind die zuvor noch gebundenen Mittel frei zur Allokation in echte Zukunftsprojekte.

Zu gegebener Zeit mag ein solches Zukunftsprojekt durchaus auch darin bestehen, einen zunächst nur automatisierten Ablauf dann schließlich auch inhaltlich anzufassen. Wertvolle Anhaltspunkte dafür, inwiefern sich nachgeschaltete Prozessoptimierungen lohnen, liefern die Statis­tiken der zuvor ins Feld geführten Software-Bots. Hierdurch entsteht ein detailliertes Wissen über die Performance von Abläufen, das es in dieser Form vielfach noch gar nicht gegeben hat.

Auf starke Governance achten

Last but not least: Da die Automatisierung eines bestehenden Prozes­ses weniger komplex ist und die Vorteile der Automatisierung schneller sichtbar werden, kann das erforderliche Change-Management in den Mittelpunkt des Projektes rücken. Denn wie jede andere Technologie benötigt auch RPA ein angemessenes Management der Konfiguration und des gesamten Lebenszyklus. Auch RPA-Investitionen brauchen eine starke Governance-Struktur. Nur dann lässt sich der Mehrwert der As-Is-Automatisierung absichern und ein wie auch immer gearteter Wildwuchs wirksam vermeiden.

Nicht zuletzt kommt dieses systematische Vorgehen dann auch wieder unserem deutschen Ordnungssinn entgegen. Und schlägt gleichzeitig eine tragfähige Brücke zum eher angelsächsischen Sinn für Pragmatik. Einem Sinn, der im Zeitalter der Digitalisierung mehr denn je zu einem der wichtigsten Wettbewerbsfaktoren wird. "Der kürzeste Weg, um vieles zu erledigen, ist immer nur eine Sache zu machen", brachte es bereits der schottische Reformer Samuel Smiles im 19. Jahrhundert auf den Punkt. Planvoll gesteuerte As-Is-Automatisierungen verleihen dieser zunächst vielleicht etwas hemdsärmelig klingenden Einstellung in bestechender Weise neue Relevanz. (mb)