Ursprünglich war es eine typische virtuelle Pressekonferenz: Die Scheer Holding erklärte ihren neuen PaaS-Ansatz (Platform as a Service) und warum Prozessautomatisierung und Integration künftig nicht mehr voneinander zu trennen sind. Doch am Ende war es der mittlerweile 79-jährige Unternehmensgründer August-Wilhelm Scheer selbst, der einen anderen Akzent setzte.
Scheer sagte, er wolle "aus dem Leben sprechen" und darauf eingehen, was in seinem Werdegang als erfolgreicher Unternehmer, Wissenschaftler, Politikberater und Jazz-Musiker wichtig gewesen sei. Über allem habe sich "Timing" als besonders bedeutsames Erfolgskriterium herausgestellt - und so soll auch der Titel seines neuen Buchs lauten, das Anfang nächsten Jahres erscheinen wird.
"Mal eben gründen" ist selten erfolgreich
Vor allem als Unternehmer komme es darauf an, Gelegenheiten intuitiv zu erkennen und beim Schopf zu packen. Scheer wies darauf hin, wie essenziell für Startups das richtige Gründerteam sei und dass es eben nicht ausreiche, wenn sich drei Uni-Absolventen beim abendlichen Bier verabredeten und mit einer guten Idee auf den Weg machten. Es brauche eine "Diversität an Kompetenzen", um die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg zu vergrößern. Optimal ist aus Sicht von Scheer, wenn vier Charaktereigenschaften in einer Führungsmannschaft vertreten sind: ein Christoph Kolumbus, ein Albert Einstein, eine Jane Goodall und ein Daniel Düsentrieb.
Kolumbus steht demnach für den unbändigen Antrieb, Neues zu entdecken und zu erobern. Der Albert Einstein im Team bringt die analytischen Fähigkeiten mit, die Verhaltensforscherin Goodall die nötige Sozialkompetenz und Daniel Düsentrieb immer neue, kreative Ideen. Scheer glaubt nicht daran, dass die Firmenanteile in solch einem Team zwangsläufig gleichmäßig verteilt sein müssen. Solch ein Paritätsdenken bezeichnet er sogar als "Unsinn". Die Eigentumsverhältnisse müssten sich vielmehr im Beitrag widerspiegeln, den jedes einzelne Teammitglied einbringe.
Die wechselvolle Geschichte der IDS Scheer AG
Der Unternehmer blickte zurück auf die Gründung der IDS Scheer AG, die 1984 stattfand und in einem Börsengang am Neuen Markt im Jahr 1990 gipfelte. Mit der Spekulationsblase wuchs auch die IDS, ehe dann 1999 das Börsensegment um 90 Prozent einbrach und mit ihm auch IDS Scheer unter die Räder kam. 2009 verkaufte Scheer an die Software AG, 2014 ergab sich dann wieder eine dieser Gelegenheiten, die laut Scheer den Erfolg von Unternehmern ausmachen.
Auf der CeBIT bot ihm der damalige Software-AG-Chef Karl-Heinz Streibich quasi im Vorbeigehen an, den Beratungsbereich von IDS Scheer zurückzukaufen. "Der Keim war gelegt, der Gedanke ließ mich nicht mehr los", sagte Scheer und rief unter großem Zeitdruck - die Software AG wollte bis zum Quartalsende verkaufen - Streibich an. "Ich musste sehr schnell entscheiden. Hätte ich ein Gremium um Rat gebeten, hätte es sicher abgelehnt. Es ging um einen zweistelligen Millionenbetrag." Scheer habe dann schnell gehandelt und zum 31. März, exakt zum Quartalsende der Software AG, beim Notar unterschrieben.
Manche Geschäftsidee kommt vor ihrer Zeit - und scheitert
Aus seiner Perspektive als Wissenschaftler zog der langjährige Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik an der Universität des Saarlandes eine Reihe von Beispielen heran, die zeigen sollten, dass Timing auch bei technologischen Entwicklungen entscheidend ist. Der Professor erinnerte an Gartners Hypecycle und sagte: "Ideen setzen sich oft in mehreren Phasen nach und nach durch. Im ersten Aufguss können sie scheitern, im zweiten geht es dann besser."
Scheer nannte die künstliche Intelligenz als Beispiel, die in den Expertensystemen ihre zwar viel beachteten, aber letztlich erfolglosen Vorläufer hatte. Ähnlich verhielt es sich mit dem Computer-integrated Manufacturing (CIM), das eine rechnergestützte Fertigung zum Ziel hatte und erst heute unter dem Begriff "Industrie 4.0" einen würdigen Nachfolger gefunden habe.
Vor allem die Rechenpower und die Netzbandbreiten seien in den Pionierjahren der IT eine Bremse für viele gute, innovative Ideen gewesen, die heute endlich umsetzbar seien. Es gebe Inzwischen auch die nötigen Standards, bessere Möglichkeiten, strukturierte und unstrukturierte Massendaten zu verarbeiten und auch die geeigneten Methoden und Werkzeuge, um geeignete Algorithmen zu schreiben.
Scheer sagt: "Deutschland braucht ein Digitalministerium"
Auch als Lobbyist und politischer Ratgeber betont Scheer die Bedeutung des Timings, besonders im Rückblick auf seine Amtszeit als Präsident des ITK-Verbands Bitkom (2007 bis 2011). Damals sei es schwierig gewesen, die deutsche Wirtschaft von der Relevanz digitaler Technologien zu überzeugen. "Auch die Politik war noch nicht reif genug, die Bedeutung dieser Branche zu erkennen." Man habe sich an den klassischen Industrien festgehalten, immerhin war Deutschland sehr erfolgreich, sogar Exportweltmeister.
Scheer sieht die Politik inzwischen auf einem besseren Weg, fordert aber immer noch eine klarere Zuständigkeit für Digitalthemen. Anstatt die verschiedenen Ressorts selbständig digitale Weichenstellungen vornehmen zu lassen, bedürfe es einer zentralen Klammer, eines Digitalministeriums, mit entsprechend hoher Verantwortung.
Zuletzt war Scheer auch als Jazz-Musiker (Bariton-Saxophon) über viele Jahre auf der Bühne und ist es heute noch. "Dass in der Musik Timing extrem wichtig ist, versteht sich wohl von selbst", sagte der Saarländer, der mit seiner Stiftung nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Musik fördert: Seit 2001 unterstützt er die Hochschule für Musik Saar, indem er dort eine Professur für Jazz finanziert.
Wolfram Jost, langjähriges Vorstandsmitglied der Darmstädter Software AG, ist seit Frühjahr 2019 Mitglied der Geschäftsführung der Scheer Holding GmbH. Vor der Presse erklärte er die Strategie des Unternehmens, in der es darum gehe, Kunden beim Digitalisieren übergreifender Kernprozesse „Ende zu Ende“ zu unterstützen. Die Betriebe hätten verstanden, dass sie wieder verstärkt selbst Software entwickeln, vor allem aber ihre Systeme integrieren müssten, um schneller zu werden und besser auf Kundenanforderungen reagieren zu können. Laut Jost werden Business-Anwendungen heute mit dem Wissen gebaut, dass sie schnell anpassbar sein müssten. Platform as a Service habe sich daher als Ansatz durchgesetzt, Low-Code-Technologien stünden vor einer Blütephase. Die neue PaaS-Plattform von Scheer diene eben dazu: neue, differenzierende Geschäftsmodelle besonders schnell umzusetzen. In einer Plattform würden Prozess-Automatisierung, Integration, Anwendungsentwicklung und das API-Management zusammengeführt. Chief Data Scientist Sharam Dadashnia zeigte die Scheer-PaaS-Umgebung mitsamt Management-Cockpit und demonstrierte, wie Anwender nicht nur Prozesse designen, sondern auch die zugehörigen Daten aus den verschiedenen Quellsystemen integrieren können. „Wir kommen vom Prozess her, schauen uns die zugehörigen Daten an, integrieren die richtigen Datenquellen und führen dann eine intelligente Automatisierung durch“, so Dadashnia. |