Flexibles Arbeiten lebt von engagierten Mitarbeitern

Agilität benötigt viele Spielregeln

22.06.2017
Von 
Jens Gieseler arbeitet als freier Journalist in Tübingen.
Agiles Management ist in aller Munde. Doch die neue Führungskultur, zum Beispiel à la Holacracy, will implementiert und gelebt werden. Das erfordert Disziplin und die Einhaltung von Rollen sowie das Kommunizieren von "Spannungen".
  • Mit der Digitalisierung hält eine neue Führungskultur Einzug und müssen Arbeitsstrukturen flexibilisiert werden.
  • Die Führung kann im Unternehmen und in Projekten zwischen den Beteiligten wechseln.
  • Es ist ein großer Lernprozess, sich von den traditionellen Rollen als Führungskraft oder Mitarbeiter zu verabschieden.

"Für uns ist das die ideale Arbeitsform", urteilt Ludwig Kannicht. Er gehört zu den 30 Gründern der Berliner Innovationsagentur Dark Horse. Die beschlossen vor rund neun Jahren: keine Hierarchien, sondern Vertrauen und eine einzigartige Unternehmenskultur, die unterschiedliche Kompetenzen vernetzt und schnell innovative Lösungen entwickeln kann. Auch wenn agiles Management aktuell in aller Beratermunde ist, der 33-jährige Psychologe, der sich sein Studium als Web-Entwickler finanzierte, ist kein Ideologe: Keine Arbeitsweise sei per se besser. Sie müsse zu Menschen und Aufgaben passen. Außerdem kann er von nervenaufreibenden Diskussionen berichten: "Unsere Entscheidungsprozesse waren in der ersten Zeit alles andere als schnell."

Agiles Management bedeutet, dass Führung und Rollen im Team nicht mehr streng hierarchisch sind, sondern je nach Projektkompetenz der Mitglieder wechseln können.
Agiles Management bedeutet, dass Führung und Rollen im Team nicht mehr streng hierarchisch sind, sondern je nach Projektkompetenz der Mitglieder wechseln können.
Foto: Vibrant Image Studio - shutterstock.com

Zum einen entwickelten die 30 Gründer, die in Potsdam gemeinsam Design Thinking studierten, eigene Entscheidungsstrukturen. Zum anderen lernten sie sich selbst durch persönliche Entwicklungsprozesse kennen und verhalten sich zunehmend anders: Ich muss nicht zu jedem Thema etwas sagen. Ich kann auf die Fähigkeiten der anderen vertrauen. Daraus entwickelt sich, dass die Führung im Unternehmen und in Projekten zwischen den Beteiligten wechselt, je nach den in der Situation gefragten Fähigkeiten. "Wir sind alle engagierte Gestalter mit einer unternehmerischen Ader", sagt Kannicht, "und wir haben viel gelernt und sind in unsere Rollen hineingewachsen."

Im aktuellen HR-Report "Kompetenzen für eine digitale Welt" nennen die knapp 600 befragten Führungskräfte aus der DACH-Region als größte Herausforderungen:

Ob in Konzernen, bei Mittelständlern oder in kleinen Firmen - kontinuierlich lösen sich die klassischen Arbeitsstrukturen zugunsten offenerer, kooperativerer und zielorientierter Formen auf. Am stärksten bei Unternehmen mit mehr als 5000 Mitarbeitern, so das Ergebnis der Studie, die das Ludwigshafener Institut für Beschäftigung und Employability (IBE) im Auftrag des Personaldienstleisters Hays betrieben hat. Der rasche Wandel zeigt sich in den Top-Themen des vergangenen Jahres: Die lauteten 2016 noch "Führung", "Unternehmenskultur" und "Mitarbeiterbindung". "Flexible Strukturen" und "Digitalisierung" hatten vor zwölf Monaten hingegen noch nicht die Priorität wie ein Jahr später.

Die wichtigsten Aufgaben für die Führungskräfte sind deshalb

  • "Managen der Komplexität in der Kooperation" (58 Prozent),

  • eine "neue Führungskultur" (53 Prozent) sowie

  • "neue Vernetzungsformen" (50 Prozent).

"Es sind vor allem deren mentale und soziale Kompetenzen gefragt", sagt Hays-Sprecher Frank Schabel, denn Vorgesetzte müssen in der Lage sein, kritische Mitarbeiter mitzunehmen, offen und wertschätzend zu reagieren, eine Feedback- und Fehlerkultur zu entwickeln und Möglichkeiten zum Informationsaustausch zwischen den Mitarbeitern aufbauen. Führung sei für Wissensarbeiter immer weniger fachlich begründet, sondern Führungskräfte müssten ihren Mitarbeitern methodisch als Coach oder Mentor zur Seite stehen, so Schabel.

Derartig offen und kooperativ hat IT Design aus Tübingen schon immer gearbeitet, findet Christoph Adamczyk. Doch vor rund zwei Jahren mit 80 Mitarbeitern wurden die Teams mit mehr als zehn Mitarbeitern zu groß und die Entscheidungswege zwischen mehreren Abteilungen zu kompliziert, so der Prokurist und Betriebswirtschaftler. Ziel des Unternehmens, das sich um CRM-Software und Projekt-Portfolio-Management kümmert sowie eine eigene Lean-PPM-Software entwickelt, war eine Organisationsform, in der sich noch kundenorientierter arbeiten lässt.

Holacracy - eine neue Arbeitsstruktur

Während die CRM-Truppe eine kooperative, aber immer noch hierarchische Lösung für sich fand, stieß die zweite Abteilung auf das Buch "Holacracy" - eine agile Arbeitsstruktur. Ein Gründer, Führungskräfte und Mitarbeiter besuchten einen zweitägigen Workshop und überzeugten sich von diesem Weg. Statt Führung von oben stehen jetzt "Spannungen" im Vordergrund. Wem etwas auffällt, gleich ob es ein Produkt oder den Kundenservice verbessern oder Arbeitsabläufe verändern würde, der kann es vorbringen. "Sich von den alten Rollen als Führungskraft oder Mitarbeiter zu verabschieden, ist ein großer Lernprozess", sagt der 40-Jährige. Die einen sind gefordert loszulassen, die anderen mehr Verantwortung zu übernehmen.

Spannungen und Rollen bestimmen die Arbeit

Wer allerdings denkt, dass die Meetings der 40 PPM-Mitarbeiter nun im kreativen Chaos versinken, der täuscht sich gewaltig. "Wir haben jetzt wesentlich mehr Regeln als zuvor", sagt Adamczyk. Einerseits wird zwischen Governance-Meetings unterschieden, in denen an der Organisation gearbeitet wird, und wöchentlichen operativen Treffen, in denen über alltägliche Spannungen gesprochen und entschieden wird. Ein Mitarbeiter informiert über seine Arbeit und benötigt zusätzlich Unterstützung von einem Kollegen. Letzteres wird als Spannung verstanden. Zudem bekommen die Mitarbeiter eine bestimmte Rolle zugeteilt, innerhalb derer sie sich äußern dürfen. Allerdings kann derjenige seine Rolle jederzeit zurückgeben und die Priorität zwischen seinen Rollen selbst setzen.

Die Erfahrungen des PPM-Teams beschreibt der Prokurist nach einem knappen Jahr als positiv: "Unsere Entscheidungen sind prioritätsgetrieben." Außerdem erfolgen die Veränderungen in kleinen Schritten, dadurch agiert das Team flexibler. Funktioniert eine Veränderung, dann ist es gut. Funktioniert sie nicht, kann sie in der kommenden Woche wieder gekippt werden.

Der Fehlgriff des Jahres - preisverdächtig

Die gleiche Erfahrung machen auch die Kollegen von Dark Horse. "Wir wälzen nicht lange ein Problem hin und her, sondern suchen nach einer schnellen Lösung", erzählt Kannicht. Die muss nicht sofort der Weisheit letzter Schluss sein, sondern vielleicht nur der erste Schritt. Um die Angst vor falschen Ideen zu nehmen, vergeben die Gründer einmal jährlich einen Award für den größten Fehlgriff - nach dem Motto: lieber großartig scheitern, als sich bequem im alten Sumpf zu suhlen. Doch wer in der Diskussion den Eindruck hat, dass eine Entscheidung wirklich grottenschlecht ist, kann die sogenannte Notbremse ziehen. Das Veto bedeutet allerdings, dass sich der Bremser an einer besseren Lösung beteiligen muss. (pg)