"Für uns ist das die ideale Arbeitsform", urteilt Ludwig Kannicht. Er gehört zu den 30 Gründern der Berliner Innovationsagentur Dark Horse. Die beschlossen vor rund neun Jahren: keine Hierarchien, sondern Vertrauen und eine einzigartige Unternehmenskultur, die unterschiedliche Kompetenzen vernetzt und schnell innovative Lösungen entwickeln kann. Auch wenn agiles Management aktuell in aller Beratermunde ist, der 33-jährige Psychologe, der sich sein Studium als Web-Entwickler finanzierte, ist kein Ideologe: Keine Arbeitsweise sei per se besser. Sie müsse zu Menschen und Aufgaben passen. Außerdem kann er von nervenaufreibenden Diskussionen berichten: "Unsere Entscheidungsprozesse waren in der ersten Zeit alles andere als schnell."
Zum einen entwickelten die 30 Gründer, die in Potsdam gemeinsam Design Thinking studierten, eigene Entscheidungsstrukturen. Zum anderen lernten sie sich selbst durch persönliche Entwicklungsprozesse kennen und verhalten sich zunehmend anders: Ich muss nicht zu jedem Thema etwas sagen. Ich kann auf die Fähigkeiten der anderen vertrauen. Daraus entwickelt sich, dass die Führung im Unternehmen und in Projekten zwischen den Beteiligten wechselt, je nach den in der Situation gefragten Fähigkeiten. "Wir sind alle engagierte Gestalter mit einer unternehmerischen Ader", sagt Kannicht, "und wir haben viel gelernt und sind in unsere Rollen hineingewachsen."
Im aktuellen HR-Report "Kompetenzen für eine digitale Welt" nennen die knapp 600 befragten Führungskräfte aus der DACH-Region als größte Herausforderungen:
Arbeitsstrukturen flexibilisieren und
Mitarbeiter auf die digitale Transformation vorbereiten.
Ob in Konzernen, bei Mittelständlern oder in kleinen Firmen - kontinuierlich lösen sich die klassischen Arbeitsstrukturen zugunsten offenerer, kooperativerer und zielorientierter Formen auf. Am stärksten bei Unternehmen mit mehr als 5000 Mitarbeitern, so das Ergebnis der Studie, die das Ludwigshafener Institut für Beschäftigung und Employability (IBE) im Auftrag des Personaldienstleisters Hays betrieben hat. Der rasche Wandel zeigt sich in den Top-Themen des vergangenen Jahres: Die lauteten 2016 noch "Führung", "Unternehmenskultur" und "Mitarbeiterbindung". "Flexible Strukturen" und "Digitalisierung" hatten vor zwölf Monaten hingegen noch nicht die Priorität wie ein Jahr später.
Die wichtigsten Aufgaben für die Führungskräfte sind deshalb
"Managen der Komplexität in der Kooperation" (58 Prozent),
eine "neue Führungskultur" (53 Prozent) sowie
"neue Vernetzungsformen" (50 Prozent).
"Es sind vor allem deren mentale und soziale Kompetenzen gefragt", sagt Hays-Sprecher Frank Schabel, denn Vorgesetzte müssen in der Lage sein, kritische Mitarbeiter mitzunehmen, offen und wertschätzend zu reagieren, eine Feedback- und Fehlerkultur zu entwickeln und Möglichkeiten zum Informationsaustausch zwischen den Mitarbeitern aufbauen. Führung sei für Wissensarbeiter immer weniger fachlich begründet, sondern Führungskräfte müssten ihren Mitarbeitern methodisch als Coach oder Mentor zur Seite stehen, so Schabel.
- Der Sportdirektor eines Vereins
Der Sportdirektor eines Vereins stellt den Kader zusammen und gestaltet die Spiel- und Terminpläne für Wettkämpfe und Trainings. Er instruiert Talentscouts, kauft Spieler ein und stellt Bewegungsfreiheit für erforderliche Transfers sicher. Sein Ziel: Menschen zu finden und zu binden, die die Weiterentwicklung des Unternehmens konstant antreiben. Er erweitert die Suchkriterien für die Rekrutierung, stellt Mitarbeiter mit verschiedensten Hintergründen ein und ermöglicht Familien- und altersgerechte Arbeitszeitmodelle. - Führung in der Digitalisierung
Die Studie "Die Haltung entscheidet. Neue Führungspraxis für die digitale Welt" stammt von LEAD (Mercator Capacity Building Center for Leadership & Advocacy) in Kooperation mit der Unternehmensberatung Company Companions sowie der School of Public Policy (Central European University, Budapest) und dem Center for Leadership and Values in Society (Universität St. Gallen). Die Autoren empfehlen acht Rollen als Orientierungshilfen. - Die Landschaftsgärtnerin
Die Landschaftsgärtnerin gestaltet und pflegt Grünanlagen. Sie versteht das gesamte Ökosystem und weiß, wann welche Pflanzen im Jahreszeitenwechsel an welcher Stelle ihre Wirkung entfalten und wie alles zusammenspielt. Ihr Ziel: Das Unternehmen langfristig auf zustellen, wenn Krise und Veränderung zum Normalfall geworden sind. Sie ermöglicht schnelles „Prototyping“, geht unkonventionelle Partnerschaften ein und bricht Silos mittels heterogener, cross-funktionaler Teams auf. - Die Seismologin
Die Seismologin muss wissen, wo die Erde beben könnte. Dafür analysiert sie Daten, registriert feinste Erschütterungen und erkennt Spannungen frühzeitig. Sie erliegt aber nicht der Illusion, die Zukunft genau vorhersagen zu können. Ihr Ziel: Grundlagen für gute Entscheidungen in einer unübersichtlichen Welt zu schaffen. Sie etabliert „Situation Rooms“ zur Entwicklung von Handlungsstrategien, greift über digitale Plattformen auf verborgenes Wissen zu und schult ihre Intuition als zusätzliche "Datenquelle". - Der Zen-Schüler
Der Zen-Schüler ist in Ausbildung und Vorbereitung. Er lernt, reflektiert und prüft sich selbst. Achtsamkeit, Mitgefühl und Offenheit sind seine Tugenden, er pflegt eine disziplinierte (spirituelle) Praxis. Sein Ziel: Das finden, woran er sich festhalten kann, wenn sich alle an ihm festhalten. Er nutzt Coaching- und Mentoring-Programme, schafft physische Räume für den Ausgleich und richtet den Blick nach innen. - Der DJ
Der Discjockey bringt mit seiner Musik die Menschen zum Tanzen. Er setzt einen Rahmen, der motiviert, anregt und gemeinsame Energie erzeugt. Zugleich hat er ein offenes Ohr für Anregungen und sensible Antennen für das richtige Stück im richtigen Moment. Sein Ziel: Eine Kultur der Zugewandtheit zu schaffen – aber mit dem Fokus auf Ergebnisorientierung. Dafür baut er Empathie als Führungskompetenz auf, schafft Räume, in denen Menschen gerne arbeiten, und agiert als Vorbild für Zugewandtheit und Leistungsorientierung. - Die Intendantin eines Theaters
Die Intendantin eines Theaters wählt die Stücke für die Aufführung aus. Sie entwickelt den roten Faden und prägt die gesellschaftliche Wirkungskraft ihres Hauses. Die Künstler und deren Expertise bindet sie dabei ein. Ihr Ziel: in Zeiten großer Unsicherheit und Unplanbarkeit Orientierung zu geben. Über ein „Strategy Board“ schafft sie die Voraussetzung für Richtungsentscheidungen schaffen, erhöht mittels interaktiver Beteiligungsformen die Einigkeit über die Richtung – und hat den Mut zu klaren Ansage in der Krise. - Die Trainerin
Die Trainerin leitet eine Mannschaft taktisch, technisch und konditionell an. Sie bestimmt Trainingsablauf, Mannschaftsaufstellung und Strategie. Sie muss für Misserfolge geradestehen, Erfolge lässt sie ihrem Team. Ihr Ziel: Die Mitarbeiter zu mehr Verantwortungsübernahme zu befähigen. Dafür entwickelt sie über zeitgemäße Lernformate Kompetenzen entwickeln, baut gegenseitiges Vertrauen auf und führt Anreize zur Übernahme von Verantwortung ein. - Der Blogger
Der Blogger kommentiert Geschehnisse – zugespitzt, aufrüttelnd und meist aus einer persönlichen Sichtweise. Er will die Welt verstehen, erklären und übersetzen. Er lebt vom direkten Feedback der Leser. Sein Ziel: Veränderungsbereitschaft in die DNA des Unternehmens zu schreiben. Er kaskadiert die Geschichte der Veränderung in die Firma, moderiert gemeinsame Lernprozesse und gibt sichtbare Veränderungsanstöße.
Derartig offen und kooperativ hat IT Design aus Tübingen schon immer gearbeitet, findet Christoph Adamczyk. Doch vor rund zwei Jahren mit 80 Mitarbeitern wurden die Teams mit mehr als zehn Mitarbeitern zu groß und die Entscheidungswege zwischen mehreren Abteilungen zu kompliziert, so der Prokurist und Betriebswirtschaftler. Ziel des Unternehmens, das sich um CRM-Software und Projekt-Portfolio-Management kümmert sowie eine eigene Lean-PPM-Software entwickelt, war eine Organisationsform, in der sich noch kundenorientierter arbeiten lässt.
Holacracy - eine neue Arbeitsstruktur
Während die CRM-Truppe eine kooperative, aber immer noch hierarchische Lösung für sich fand, stieß die zweite Abteilung auf das Buch "Holacracy" - eine agile Arbeitsstruktur. Ein Gründer, Führungskräfte und Mitarbeiter besuchten einen zweitägigen Workshop und überzeugten sich von diesem Weg. Statt Führung von oben stehen jetzt "Spannungen" im Vordergrund. Wem etwas auffällt, gleich ob es ein Produkt oder den Kundenservice verbessern oder Arbeitsabläufe verändern würde, der kann es vorbringen. "Sich von den alten Rollen als Führungskraft oder Mitarbeiter zu verabschieden, ist ein großer Lernprozess", sagt der 40-Jährige. Die einen sind gefordert loszulassen, die anderen mehr Verantwortung zu übernehmen.
Spannungen und Rollen bestimmen die Arbeit
Wer allerdings denkt, dass die Meetings der 40 PPM-Mitarbeiter nun im kreativen Chaos versinken, der täuscht sich gewaltig. "Wir haben jetzt wesentlich mehr Regeln als zuvor", sagt Adamczyk. Einerseits wird zwischen Governance-Meetings unterschieden, in denen an der Organisation gearbeitet wird, und wöchentlichen operativen Treffen, in denen über alltägliche Spannungen gesprochen und entschieden wird. Ein Mitarbeiter informiert über seine Arbeit und benötigt zusätzlich Unterstützung von einem Kollegen. Letzteres wird als Spannung verstanden. Zudem bekommen die Mitarbeiter eine bestimmte Rolle zugeteilt, innerhalb derer sie sich äußern dürfen. Allerdings kann derjenige seine Rolle jederzeit zurückgeben und die Priorität zwischen seinen Rollen selbst setzen.
Die Erfahrungen des PPM-Teams beschreibt der Prokurist nach einem knappen Jahr als positiv: "Unsere Entscheidungen sind prioritätsgetrieben." Außerdem erfolgen die Veränderungen in kleinen Schritten, dadurch agiert das Team flexibler. Funktioniert eine Veränderung, dann ist es gut. Funktioniert sie nicht, kann sie in der kommenden Woche wieder gekippt werden.
Der Fehlgriff des Jahres - preisverdächtig
Die gleiche Erfahrung machen auch die Kollegen von Dark Horse. "Wir wälzen nicht lange ein Problem hin und her, sondern suchen nach einer schnellen Lösung", erzählt Kannicht. Die muss nicht sofort der Weisheit letzter Schluss sein, sondern vielleicht nur der erste Schritt. Um die Angst vor falschen Ideen zu nehmen, vergeben die Gründer einmal jährlich einen Award für den größten Fehlgriff - nach dem Motto: lieber großartig scheitern, als sich bequem im alten Sumpf zu suhlen. Doch wer in der Diskussion den Eindruck hat, dass eine Entscheidung wirklich grottenschlecht ist, kann die sogenannte Notbremse ziehen. Das Veto bedeutet allerdings, dass sich der Bremser an einer besseren Lösung beteiligen muss. (pg)