CW: IBM hat angekündigt, mit dem Cloud-Dienst "Watson Analytics" die Auswertung komplexer Geschäftszahlen und -prognosen radikal zu vereinfachen. Was ist und wie steht es um Big Data im Rechnungswesen?
Dieter Kempf: Mit Big Data umschreiben wir die sofortige und gleichzeitige Analyse großer unstrukturierter und strukturierter Datenmengen. Im Rechnungswesen liegen außer im Dokumenten-Management vorrangig strukturierte Informationen vor. Daher ist Big Data Analytics in diesem Bereich trotz relativ großer Datenmengen leichter abbildbar als beispielsweise im Gesundheitsbereich, wo mehr bildverarbeitende Systeme in Echtzeit eingesetzt werden. Darin erzeugte Daten müssen dann mit strukturierten Daten in einen Kontext gesetzt werden - das ist viel aufwendiger. Im Rechnungswesen hingegen haben wir es zwar mit großen Datenvolumina zu tun, doch die Anforderungen an die Datenbankschnelligkeit sind überschaubar. Big Data im Rechnungswesen ist also einfacher zu bewerkstelligen, weil viel weniger Bilddaten zu verarbeiten sind. Ändern könnte sich dies aber durch ZUGFeRD.
CW: ZUGFeRD ist ein Ende Juni 2014 vom Bundeswirtschaftsministerium und Bitkom bekannt gegebenes Standardformat für elektronische Rechnungen. Wird es zum neuen europäischen Standard?
Dieter Kempf: Ich hoffe und ich glaube es, weil es ein einfaches, systematisches und marktgängiges Verfahren verwendet und zu einer durchgängigen elektronischen Prozesskette führt. Die Verknüpfung bleibt immer erhalten, selbst wenn strukturierte Daten wie der Buchungssatz und unstrukturierte Daten wie das PDF-Rechnungsdokument getrennt werden.
ZUGFeRD bietet große Chancen für die Archivierung. Unverrückbar hängt am Buchungssatz die Bilddatei, die PDF-Rechnung aus dem Dokumenten-Management-System. Alle wesentlichen Informationen des Belegs wie Rechnungssteller oder Betrag werden als XML-Code an ein äußerlich gewöhnliches PDF-Dokument angehängt. Die hinterlegten Daten fließen automatisch in die Buchhaltung ein. Erkennungsfehler, die sich bisher aus schlecht lesbaren PDF-Bildern ergaben, sind folglich ausgeschlossen. ZUGFeRD bietet große Chancen für eine rein elektronische Archivierung.
CW: Funktioniert das bereits heute?
Dieter Kempf: Mit den Herbst-Releases geben wir bei Datev die ZUGFeRD-Verarbeitung in unseren Programmen frei. Es gibt keine technischen Lücken.
Das Rechnungswesen kann rein elektronisch laufen
CW: Wird sich damit das Ersetzende Scannen durchsetzen, so dass Unternehmen keine Papierbelege mehr vorhalten müssen?
Dieter Kempf: Das Ersetzende Scannen ist im Prinzip eine Übergangslösung, bei der Papierbelege digitalisiert und dann weiterverarbeitet aber auch archiviert werden. Bereits in unseren Mustergerichtsverfahren konnten wir zeigen, dass diese digitalisierten Dokumente dieselbe Beweiskraft haben wie das Original auf Papier. Benötigt wird Ersetzendes Scannen, solange Rechnungen auf Papier versandt werden. Wir können aber bereits heute auch rein elektronische Prozesse im Rechnungswesen darstellen. Mit dem ZUGFeRD-Verfahren ist es technisch leicht möglich, den Buchungssatz unveränderbar mit dem Beleg zu verbinden. Damit sollten die letzten Vorbehalte der Finanzverwaltung gegen die Nutzung einer digitalen Datei statt eines Papierdokuments entfallen. Technisch gibt es keinen Grund mehr, an digital archivierten Belegen zu zweifeln - seien es nun Scans oder original elektronisch übermittelte Rechnungsinformationen. Große Papierarchive sollten künftig in jedem Fall der Vergangenheit angehören.
CW: Mit ZUGFeRD dürften die IT-Anforderungen im Rechnungswesen stark steigen.
Dieter Kempf: Derzeit ist Big Data Analytics im Rechnungswesen eher harmlos. Wenn wir bei ZUGFeRD-Daten auch den unstrukturierten - also den Bilddatenteil einer PDF-Rechnung - auswerten, dann bekommen wir komplexere Anforderungen. Doch das ist alles machbar. In der Analyse läuft die Rechnungswesen-IT relativ problemlos. Wenn wir hier die Daten erweitern, etwa um Börsenkurse oder andere betriebswirtschaftliche Daten, wo sich große Mengen strukturierter Daten in Sekundenbruchteilen verändern, dann sind wir auf einem deutlich höheren Komplexitätslevel.
CW: Wie schnell wird sich Big Data Analytics in der mittelständischen Wirtschaft durchsetzen?
Dieter Kempf: Im Rechnungswesen werden sich aufgrund von ZUGFeRD durchgängige Systeme Zug um Zug behaupten. Eine stärkere Entwicklung sehe ich aber beim Thema Industrie 4.0 und dem Internet der Dinge. Da wird sich in mittelständischen Betrieben außerhalb des Rechnungswesens viel mehr tun - insbesondere bei produzierenden Unternehmen. Und nicht nur dort: In wenigen Jahren kann ich mir auch IT-gesteuerte dynamische Preisanpassungen im Handel vorstellen.
Für das Speichern und Auswerten der enormen Datenmengen braucht man allerdings auch Datenbanken, die damit umgehen können. SAP ist hier mit der In-memory-Datenbank HANA sicher den richtigen Weg gegangen.
CW: Spielt Business Intelligence Software im Mittelstand heute überhaupt eine Rolle?
Dieter Kempf: Im Rechnungswesen weniger, aber in der Produktionsplanung und -steuerung durchaus. Wenn beispielsweise eine Losgröße von eins angepeilt wird, dann kann diese sehr hilfreich sein.
CW: Halten Sie es für sinnvoll, Datenströme aus Social-Media-Aktivitäten zu analysieren?
Dieter Kempf: Natürlich gibt das, je nach Ziel und Zweck der Analyse, Sinn. Stellen Sie sich vor, Sie wollen ein T-Shirt mit dem Konterfei des gerade beliebtesten Fußballspielers auf den Markt bringen. Dann wäre es schon ganz probat die Frage der Beliebtheit über die Einträge in Social-Media-Plattformen zu klärn und dann auch gleich noch auf diesen Plattformen einen Bestellvorgang zu ermöglichen.
Anderes Beispiel aus der Autobranche: Ich könnte mir vorstellen, dass Kunden über Social Media- Technologien beispielsweise am Design von Rücklichtern beteiligt werden. Warum nicht individuelle Rücklichter für das eigene Fahrzeug bestellen? Verknüpft man diese Anforderungen mit den Möglichkeiten von Industrie 4.0 dann lässt sich das sogar einigermaßen kostengünstig umsetzen. Bei Bauteilen, bei denen es nicht um Fahrzeugsicherheit geht, könnte man sich sogar vorstellen, dass der Kunde sie irgendwann an seinem 3D-Drucker ausdrucken kann.
Data Scientists werden gebraucht
CW: Wie können Unternehmen die Informationsfülle sinnvoll auswerten? Brauchen sie spezielle Fachkräfte, etwa Data Scientists?
Dieter Kempf: Ja, solche Experten können den Spezialisten in den Fachabteilungen zuarbeiten. Ich stelle mir das so vor, wie das Zusammenspiel zwischen einem Radiologen und einem Internisten. Den einen braucht man für die clevere Gestaltung der Datenmengen, die Abgrenzung und Abstimmung sowie für modellierende Aufgaben. Den anderen für die Interpretation des entstehenden Bildes.
- Big Data: Neue Berufsbilder
In den teilweise euphorischen Einschätzungen von Markforschern und IT-Unternehmen ist immer wieder die Rede von neuen Berufsbildern, die Big Data mit sich bringen soll. Dazu zählen unter anderem folgende Tätigkeiten: - Data Scientist
Er legt fest, welche Analyseformen sich am besten dazu eignen, um die gewünschten Erkenntnisse zu erzielen und welche Rohdaten dafür erforderlich sind. Solche Fachleute benötigen solide Kenntnisse in Bereichen wie Statistik und Mathematik. Hinzu kommen Fachkenntnisse über die Branche, in der ein Unternehmen beziehungsweise tätig ist und über IT-Technologien wie Datenbanken, Netzwerktechniken, Programmierung und Business Intelligence-Applikationen. Ebenso gefordert sind Verhandlungsgeschick und emotionale Kompetenz, wenn es um die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen geht. - Data Artist oder Data Visualizer
Sie sind die "Künstler" unter den Big-Data-Experten. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Auswertungen so zu präsentieren, dass sie für Business-Verantwortliche verständlich sind. Die Fachleute setzen zu diesem Zweck Daten in Grafiken und Diagramme um. - Data Architect
Sie erstellen Datenmodelle und legen fest, wann welche Analyse-Tools Verwendung finden und welche Datenquellen genutzt werden sollen. Auch sie benötigen ein umfassendes Know-how auf Gebieten wie Datenbanken, Datenanalyse und Business Intelligence. - Daten-Ingenieur
Diese Aufgabe ist stark auf die IT-Infrastruktur ausgerichtet. Der Dateningenieur ist das Big-Data-Analysesystem zuständig, also die Hard- und Software sowie Netzwerkkomponenten, die für das Sammeln und Auswerten von Daten benötigt werden. Eine vergleichbare Funktion haben System- und Netzwerkverwalter im IT-Bereich. - Information Broker
Er kann mehrere Rollen spielen, etwa die eines Datenhändlers, der Kunden Informationen zur Verfügung stellt, oder die eines Inhouse-Experten, der Datenbestände von unterschiedlichen Quellen innerhalb und außerhalb des Unternehmens beschafft. Außerdem soll er Ideen entwickeln, wie sich diese Daten nutzbringend verwenden lassen. - Data Change Agents
Diese Fachleute haben eine eher "politische" Funktion. Sie sollen bestehende Prozesse im Unternehmen analysieren und anpassen, sodass sie mit Big-Data-Initiativen kompatibel sind. Nur dann lässt sich aus solchen Projekten der größtmögliche Nutzen ziehen. Wichtig sind daher ausgeprägte Kommunikationsfähigkeiten, Verständnis für Unternehmensprozesse sowie Kenntnisse im Bereich Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement (Six Sigma, ISO 9000).
CW: Cyberkriminalität wird zur wachsenden Gefahr für Unternehmen. Wie steht um den Datenschutz im deutschen Mittelstand?
Dieter Kempf: Die Frage der Gefährdung hängt davon ab, wie interessant die Produkte des Unternehmens sind - vor allem für Wettbewerber. Das Unternehmen sollte Vorsorge treffen, nicht ausgespäht zu werden, unabhängig davon, wer dies vorhat. Der Innentäter stellt das größte Risiko dar - auch durch eventuelle Unachtsamkeiten.
Die Diskussion um die geheimdienstlichen Aktivitäten vernebelt etwas die Sicht darauf, wo die realen Gefahren heute liegen. Das Bewusstsein in deutschen Betrieben steigt, ist aber gerade im Mittelstand immer noch unterentwickelt. Oft ist die Kompetenz für das Absichern nicht vorhanden. Wenn Sicherheit keine Chefsache ist, dann wird das dafür Nötige eher nebenbei erledigt.
CW: Es liegt der Entwurf eines IT-Sicherheitsgesetzes vor, das rund 18.000 deutsche Unternehmen vor allem aus den Branchen Telekommunikation, Luft- und Raumfahrt betreffen soll. Was halten Sie als Bitkom-Präsident davon?
Dieter Kempf: Wir stimmen dem Gesetzentwurf in wesentlichen Teilen zu. Die Politik hat hier unsere Vorschläge auch weitgehend übernommen - etwa die Möglichkeit, anonyme Meldungen abzugeben. Eine Ausnahme soll lediglich für Betreiber sogenannter sicherheitskritischer Infrastrukturen gelten. Allerdings muss noch definiert werden, was denn derartige sicherheitskritische Infrastrukturen sind und welche Arten von Vorfällen gemeldet werden müssen.
CW: Bis wann rechnen Sie mit einer Verabschiedung des IT-Sicherheitsgesetzes?
Dieter Kempf: Im Spätherbst. Schauen wir einmal, was in der Endfassung stehen wird.
CW: Eine weitere rechtliche Verschärfung steht ebenfalls kurz vor der endgültigen Verkündigung: der aktuell vorliegende 8. Entwurf des BMF-Schreibens „Grundsätze zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff“ (GoBD). Wird er die Endfassung sein?
Dieter Kempf: Vermutlich ja. Uns gefällt nicht alles, was drin steht, doch manches, etwa die Kontierungspflicht auf dem Beleg, konnte noch verhindert werden. Deutliche Verschärfungen sind etwa bei der Unveränderbarkeit, der Historisierung und der Aufbewahrung von Stamm- und Finanzbuchführungsdaten zu erwarten. Die GoBD werden die Anforderungen an die laufende Buchhaltung erhöhen. Mangels Übergangsregelungen werden die neuen Vorgaben nach der Veröffentlichung unmittelbar gelten.