Digitaler Jahres-Endspurt: Mit zwei Großevents zur digitalen Transformation neigte sich Mitte November das fünfte Jahr nach Erfindung des Begriffs "Industrie 4.0" anno 2011 seinem Ende. In Berlin fand der "1. Smart Data Jahreskongress 2016" mit EU-Kommissar Günther Oettinger statt. In Saarbrücken folgte kurz darauf der "2. Nationale IT-Gipfel 2016", den die Bundesregierung als "zentrale Plattform zur gemeinsamen Gestaltung eines zukunftsfähigen Rahmens für den digitalen Wandel" etabliert hat.
Fünf Jahre Industrie 4.0 - tatsächlich bewegt sich bei diesem digitalen Thema Nr. 1 auch analog eine Menge in Deutschland. Die Bundesregierung hat eine digitale Agenda, das Bundeswirtschaftsministerium organisiert Knowhow-Netzwerke für mittelständische Unternehmen (www.de.digital), die Verbändeplattform Industrie 4.0 will mit der US-Plattform ,Industrial Internet´ kooperieren (http://www.plattform-i40.de), Land auf Land ab organisieren Kammern Kongresse und Treffen zur Industrie 4.0.
Die Digitalisierung ist vor allem eines: schnell
Einen Knowhow-Transfer von Praktikern für Praktiker unterstützt auch mein Unternehmen. In diesem Jahr war KUKA in Augsburg Hausherr des Produktivitätskongresses FIT (Fertigungsinformationstag). Es referierten Top-Manager wie Dr. Christian Schlögel, Chief Technology Officer (CTO) KUKA AG, Günther Manz, Head of Continuous Improvement Process, Kuka Roboter GmbH und Werner Pertek, Interims-Manager bei Yanfeng Automotive.
Sie hatten eine frohe Botschaft parat: Wir können mit Industrie 4.0 Arbeitsplätze nach Deutschland zurückholen. Und auch in folgendem Urteil waren sich alle Referenten beim KUKA-Event Ende September in Augsburg einig: Deutschland ist fachlich und technologisch gut, muss aber in der Praxis viel schneller werden. Denn die Digitalisierung ist vor allem eines: schnell. Langsamkeit verzeiht der Wettbewerb nicht mehr.
Schockwellen der Digitalisierung
"Wir erleben Schockwellen der Digitalisierung. Niemand kann das Thema aussitzen", urteilte Dr. Christian Schlögel. Der Chief Technology Officer des weltweit tätigen Roboter- und Anlagenbauers KUKA: "Ganze Geschäftszweige sind schon verschwunden, weil niemand eine Antwort auf digitale Entwicklungen hatte. In den nächsten fünf Jahren werden weitere enorme Veränderungen kommen." Dr. Christian Schlögel, der die IT-Welt zwischen Paderborn (Wincor Nixdorf) und Palo Alto (SAP) kennengelernt hat, verkündete: "Wir haben in Deutschland bei Industrie 4.0 einen Vorsprung. Aber den dürfen wir nicht verspielen."
Der Wettlauf um neue Geschäftsmodelle und Prozessketten werde auch kleine und mittlere Unternehmen der Fertigungsindustrie betreffen. Gleichzeitig verändere sich der Schwerpunkt der Neuerungen laufend. Dr. Christian Schlögel: "Im Jahr 2000 lag der Fokus auf Hardware und Mechatronic. 2010 folgte die Software. Seit 2015 haben wir eine Datenzentrierung - heute muss sich jeder mit Data Analytics beschäftigen." Und bis 2020, so Dr. Schlögel weiter, werde "machine learning" - also durch künstliche Intelligenz lernende Maschinen - den Schwerpunkt bilden. "Die Personalplanung muss sich entlang dieser Entwicklungen verschieben."
Erst die Hausaufgaben, dann die Herausforderungen von morgen
Aber: Wo soll ein Unternehmen anfangen? Und muss es die gesamte Produktion auf einen Schlag umstellen? "Nein!" so die einhellige Meinung aller FIT-Referenten. Vielmehr gehe es darum, heute die Hausaufgaben zu machen und sich dann den Herausforderungen von morgen zu stellen.
Zu den Hausaufgaben gehöre es, einen für die Belegschaft "verdaubaren" Schritt-für-Schritt-Prozess zu starten, eine Problemlösungs-Kultur zu ermöglichen ("Fehler bieten die Chance, besser zu werden") und schlanke Prozesse einzuführen. "Fangen Sie keinen Flächenbrand an, sondern starten Sie mit einem Pilotprojekt", so die einhellige Meinung der Shop-Floor-Experten.
"Erst eine Prozesskette definieren, bevor man das Chaos elektrifiziert"
Wie es mit dem Einstieg in die digitale Ära klappt, berichtete Diplom-Ingenieur Werner Pertek. Der Interims-Manager ist seit sechs Jahren offiziell im Ruhestand, hat seither aber vier Fabriken optimiert. Zuletzt war er bei Yanfeng Automotive unter Vertrag, seinem ehemaligen Arbeitgeber, für den er 25 Jahre lang tätig war.
Werner Pertek´s schmunzelndes Credo: "Erstmal eine saubere Prozesskette definieren, bevor man das Chaos elektrifiziert." Mit anderen Worten: Erst einen Prozess zur kontinuierlichen Verbesserung (KVP) organisieren, dann die gewünschten Kennzahlen definieren, dann eine leistungsfähige Technologie zur Datenerfassung an jeder einzelnen Maschinen zum Einsatz bringen.
Vier Zutaten für höhere Produktivität
20 Prozent Produktivitätssteigerung sind für den erfahrenen Manager Pertek das Minimum bei Werken, welche erstmals prozessoptimiert werden. Denn: "Die Gewerkschaften wollen jedes Jahr vier Prozent Lohnsteigerung. Viele Kunden wollen über Long-Term-Agreements weitere fünf Prozent jährlich. Und auch das Management will mindestens zehn Prozent Effizienzsteigerung sehen. Ich brauche also mindestens 20 Prozent, besser mehr."
Um das zu erreichen, gab Automotive-Spezialist Werner Pertek seinen Zuhörern vier Zutaten für die digitale Transformation mit auf den Weg. Zutat 1: Produktions-Management. "Konferenzräume brauchen Sie nicht. Alles findet in der Fabrikhalle statt. Auch ich habe kein Büro, sondern bin als Werkleiter ständig auf dem Shop Floor unterwegs."
Es gelte, sich auf "Bottle-Neck"-Maschinen zu konzentrieren, also Maschinen, auf die es für die ganze Produktion ankommt. Tägliche Morgen-Meetings in eigens eingerichteten KVP-Ecken sichern ordentliche Übergaben von Schicht zu Schicht.
Drei Kennzahlen reichen
Zutat 2: Prozesskennzahlen & Visualisierung. Für die kontinuierliche Verbesserung sind laut Werner Pertek wenige klare Kennzahlen notwendig (KPI - Key Perfomance Indicator), um der Datenflut Herr zu werden, die durch digitale Betriebsdatenerfassung hereinbricht. Wichtig seien drei Kennzahlen: die Gesamtanlageneffektivität OEE für einzelne Bottle-Neck-Maschinen sowie für alle Maschinen die Kennzahlen "Minuten pro Bauteil" und Downtime-Pareto-Analyse.
Werner Pertek: "Die ersten beiden Kennziffern müssen Sie parallel betrachten, OEE und "Minuten pro Bauteil" müssen parallel besser werden." Und die Downtime-Pareto-Analyse beantwortet die einfache Frage: Warum haben die Maschinen eigentlich angehalten?
Eine nutzerfreundliche Visualisierung gewährleistet, dass Werker direkt und eigenverantwortlich handeln, mit dem Teamleiter kommunizieren und ihn durch rote Alarm-Markierungen auch zum Handeln auffordern kann.
Den Ausschuss unter 1 Prozent drücken
Zutat 3: Echtzeit-Rückverfolgbarkeit. Werner Pertek: "Wenn Ihnen ein Werker sagt: ,Gestern war ein Scheißtag´, dann dürfen Sie das als Analyse nicht gelten lassen." Sonst würden schnell 50 Schichten pro Monat oder mehr für Fehlersuche und Rüsten "verballert". Vielmehr sei Geschwindigkeit bei der Abstellung von Fehlern gefragt. Für eine solche Fast-Response-Traceability werde eine Hochleistungstechnologie benötigt. "Es ist ganz wichtig, den Ausschuss unter 1 Prozent zu drücken. Das geht nur mit sauberer Fehleranalyse."
Zutat 4: Vorhersagende Wartung (predictive maintenance). Eine IT-Lösung zum Einsatz bringen, welche im Vorhinein meldet, ob eine Maschine schwach wird oder kaputtgeht. Das ist kein Hexenwerk, sondern Hightech mit Sensoren. Werner Pertek: "Predictive Maintenance ist für mich einer der größten Fortschritte bei Industrie 4.0."
"Wir können Arbeitsplätze zurück nach Deutschland holen"
Und wie überzeugt man Betriebsräte von Fabriksoftware 4.0 und modernem Shop Floor Management? Werner Pertek: "Ich sage denen: Erstens wollen wir in der Fabrik besser werden, damit mehr Aufträge reinkommen. Zweitens können wir Arbeitsplätze nach Deutschland zurückholen, die wir in den Osten verloren haben. Dazu haben wir eine echte Chance."
Aber nichts geht von allein. Günther Manz von der KUKA Roboter GmbH: "Wer altes durch neues Denken ersetzen will, muss Widerstände überwinden." Es gelte, jeden einzelnen auf die Reise zu höherer Ressourceneffizienz mitzunehmen. Die Erfahrungswerte seien, so Manz, dass 20 Prozent der Belegschaft die Lean-Reise unterstützen, 70 Prozent abwartend sind - und zehn Prozent passiv bis ablehnend."
Trotz aller Herausforderungen bleibt der Leitspruch von KUKA-Manager Günther Manz in Sachen Digitalisierung: "Lieber eine 60%-Lösung gleich als eine 100%-Lösung nie." (mb)