In vielen Chefetagen geht die Angst um, weil die Loyalität der Beschäftigten zu ihren Arbeitgebern sinkt. Die Rede ist von der "Great Resignation" oder dem "Big Quit", der längst nicht mehr nur in den USA grassiert. Auch in Europa gehen den Betrieben immer öfter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der Stange. Die Gründe sind unterschiedlich. Neben Corona-bedingten Umwälzungen im Arbeitsmarkt überdenken gerade jüngere Beschäftigte häufig ihren Lebensentwurf und achten stark auf eine gesunde Work-Life-Balance.
Qualtrics, Anbieter von Lösungen für das Experience-Management, will Anwenderunternehmen Tools an die Hand geben, mit deren Hilfe sich die Stimmung der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beobachten lassen soll. So könnten beispielsweise Beschäftigte, die mit Kündigungsgedanken spielten, schneller identifiziert und entsprechend Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
So zumindest die Theorie der Qualtrics-Verantwortlichen. Die SAP-Tochter hat mit Employee Experience ID ein Werkzeug vorgestellt, dass den Personalabteilungen einen einheitlichen Blick auf jeden einzelnen Beschäftigten bieten soll. Unternehmen könnten damit erkennen, wie ihre Angestellten am liebsten arbeiten, wie es um ihr "Engagement" steht, und wie das Feedback zu den Arbeitsbedingungen ausfällt.
Employee Experience ID erstellt Mitarbeiter-Profile
Die Employee Experience ID fasst die im Laufe der Zeit gesammelten Daten zur Mitarbeiter-Experience in einem Profil zusammen. Datenquellen können HR-Anwendungen, Collaboration-Tools und Feedback-Systeme sein. Mit einem anderen Tool, Employee Journey Analytics, sollen sich Schlüsselmomente identifizieren lassen, in denen Arbeitgeber idealerweise Einfluss auf ihre Mitarbeiter nehmen sollten - zum Beispielinder Eingewöhnungsphase, bei der Rückkehr aus der Elternzeit oder beim Anschaffen von neuem Arbeits-Equipment.
Anhand solcher Analysen können Unternehmen auch Trends bei bestimmten Mitarbeitergruppen erkennen. Wenn Betriebe beispielsweise feststellen, dass weibliche Angestellte im mittleren Management besonders häufig kündigen, können die Vorgesetzten wachsamer sein, Feedback einholen und Änderungen anstoßen, um für diese Gruppe eine bessere Experience zu schaffen.
Letzten Endes geht es an dieser Stelle um die Employee Journey, vergleichbar der Customer Journey im Marketing und Vertrieb. Qualtrics helfe Unternehmen zu verfolgen, wie es Mitarbeitenden im eigenen Unternehmen ergehe, sagt Jay Choi, Qualtrics EVP und Chief Product Officer für den Bereich EmployeeXM. "Unternehmen, die Top-Talente rekrutieren und an sich binden wollen, stehen unter großem Druck. Jede Beziehung basiert auf einer Reihe von Erfahrungen. Führungskräfte, die verstehen, wie das Arbeitsleben eines Beschäftigten während seiner Betriebszugehörigkeit beeinflusst wird, haben einen Wettbewerbsvorteil."
Gerade den IT-Verantwortlichen komme in Sachen Employee Experience eine Schlüsselrolle zu: Sie müssten sich um die Integration von Experience-Management-Systemen kümmern und außerdem dafür sorgen, dass die Beschäftigten ihre IT-Umgebung positiv erleben. Angestellte, die sagen, dass ihre Technologie sie bei ihren Aufgaben gut unterstützt, arbeiten engagierter und haben eine deutlich engere Bindung an ihren Brötchengeber, so das Ergebnis einer Qualtrics-Studie. "Der Personalchef und der CIO sind diePersönlichkeiten, die jeden Mitarbeiter erreichen und den größten Einfluss auf deren Engagement und die Bindung haben", stellt Brad Anderson, President of Products and Services bei Qualtrics, fest.
Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes
Das Erfassen und Analysieren der Mitarbeitererfahrungen hat allerdings noch eine ganz andere Facette. David Brodeur-Johnson, leitender Analyst bei Forrester, äußert Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes, wenn beispielsweise Umfrageantworten eines Mitarbeiters und ihre Korrelation mit Ereignissen am Arbeitsplatz untersucht werden können. Hier gilt es, die Möglichkeiten der jeweiligen Experience-Management-Plattformen zu hinterfragen. In der Vergangenheit hat es Qualtrics Managern beispielsweise nicht erlaubt, Daten in Gruppen von weniger als sechs oder acht Personen aufzuschlüsseln, um die Anonymität der Einzelnen zu wahren, so Brodeur-Johnson.
"Diese Art von Daten ist sehr mächtig", sagt der Analyst. "Wenn sie den Managern die Möglichkeit gibt, ihre Angestellten gläsern zu machen und vielleicht sogar zur Bestrafung verwendet wird, halten wir das für gefährlich." Die IT-Verantwortlichen hätten hier eine verantwortungsvolle Steuerungsrolle zu spielen, so Brodeur-Johnson. Es gelte Governance- und Security-Policies zu beachten, und dafür zu sorgen, dass das Unternehmen keine unnötigen Risiken eingehe. Forrester spricht davon, die richtige Balance zu finden. Einerseits gehe es darum, mehr Einblicke in die Befindlichkeiten der Belegschaft zu gewinnen und so eine bessere Employee Experience zu schaffen, andererseits müssten sensible persönliche Informationen der einzelnen Angestellten unbedingt geschützt werden.
Tiefe Einblicke in die Employee Journey
Qualtrics ist nicht der einzige Anbieter, der die Gefühlswelt von Angestellten durchleuchten will. Anfang April hat Oracle eine Erweiterung seiner Oracle Fusion Cloud Human Capital Management Suite angekündigt. Oracle ME beinhaltet die Funktion Oracle Touchpoints, die die Stimmung der Mitarbeiter erfasst und verfolgt, und den Managern auf Grundlage des gesammelten Feedbacks Empfehlungen für weitere Maßnahmen gibt.
Auch Workday bietet ähnliche Funktionen an. Im Januar 2021 übernahm der SaaS-Spezialist das Unternehmen Peakon. Der Anbieter offeriert ein Tool, das in Echtzeit Daten zur Mitarbeiterstimmung sammelt und anhand von Analysen den Vorgesetzten Vorschläge zu weiteren Maßnahmen macht. Momentive, ehemals SurveyMonkey, hat in seine zentrale Umfrageplattform APIs eingebaut, um Daten mit Salesforce, Microsoft Teams und anderen Unternehmensanwendungen auszutauschen und so ein breites Bild des Mitarbeiter-Engagements für die Analyse in Tools wie Tableau oder Microsoft Power BI zu liefern.
Daten, Daten und noch mehr Daten
Im Kern geht es allen darum, möglichst viele Mitarbeiterdaten an allen möglichen Touchpoints einzusammeln und auszuwerten. Auch Qualtrics sammelt und konsolidiert weit mehr als nur Daten aus Mitarbeiterbefragungen, um herauszufinden, was die Angestellten bewegt. Um seine Employee Experience IDs zu erstellen, greift die SAP-Tochter auch auf HR-Systeme zu, um die Position eines Mitarbeiters in der Hierarchie, die letzten Leistungsbeurteilungen und wichtige Lebensereignisse wie die Rückkehr aus der Erziehungszeit zu ermitteln.
Spesenverwaltungssysteme identifizieren Vielreisende, Microsoft Viva erlaubt via Teams-Nutzung Einblicke in die Arbeitsmuster und mit Hilfe von IT-Service-Management-Tools lässt sich erkennen, wie viele Support-Tickets ein Mitarbeiter einreicht beziehungsweise wie schnell oder in welcher Qualität diese bearbeitet werden. Bei Qualtrics funktioniert Letzteres zum Beispiel durch eine Integration mit ServiceNow. Dank der Übernahme von Clarabridge im Oktober 2021 kann Qualtrics darüber hinaus auch die Stimmung in Mitarbeiterkommentaren analysieren. Das gilt nicht nur für Umfragen oder Support-Tickets, sondern auch für Chat-Plattformen wie Teams oder Slack.
Das Management erhält per Employee Journey Analytics einen Überblick über die Stimmung, entweder für das gesamte Unternehmen oder für bestimmte Gruppen von Mitarbeitern - konsolidiert in einer zentrale Konsole über verschiedene Dashboards. Hier lässt sich grafisch darstellen, wie sich die Stimmung rund um verschiedene Interaktionen wie Onboarding oder IT-Support entwickelt. Entsprechend sollen sich Aktionspläne entwickeln lassen, um Sentiment und damit auch Engagement zu verbessern.
Qualtrics-Manager Anderson berichtet von einem multinationalen Einzelhandelsunternehmen, das anhand der Employee-Experience-Tools festgestellt hat, dass neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zufriedener und weniger gestresst waren, wenn der oder die künftige Vorgesetzte ihnen vor ihrem ersten Arbeitstag eine Textnachricht oder eine E-Mail schickten. Durch die Analyse des Feedbacks aus dem Onboarding mit Engagement-Metriken habe dieses Unternehmen seine Manager angewiesen, neue Mitarbeiter entsprechend zu begrüßen. Eine kleine, aber wichtige Maßnahme, die die Leistung eines Teams erheblich beeinflussen kann, so das Fazit von Anderson. (ba)