Behavioral Intelligence trifft Recruiting

Wie KI Talente sondiert

14.11.2022
Von  und
Als Managing Director und Co-Founder der Retorio GmbH verantwortet Patrick Oehler die Bereiche Vertrieb, Marketing und Accounting.
Christoph Hohenberger verantwortet als Managing Director und Co-Founder bei Retorio die Bereiche Produkt, Customer Success und HR.
Behavioral Intelligence, eine auf künstlicher Intelligenz basierende Technologie, hilft zur Firmenkultur passende Talente zu finden und weiterzubilden.
Behavioral-Intelligence-Plattformen helfen Personalabteilungen, unter vielen Kandidaten die Talente herauszufiltern, deren Soft - und Hard Skills am besten zur Unternehmensphilosophie passen.
Behavioral-Intelligence-Plattformen helfen Personalabteilungen, unter vielen Kandidaten die Talente herauszufiltern, deren Soft - und Hard Skills am besten zur Unternehmensphilosophie passen.
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Die Hälfte der deutschen Unternehmen können offene Stellen langfristig nicht besetzen. Das geht aus dem DIHK-Fachkräftereport 2021 hervor. Bis 2030 wird sich dieses Problem noch weiter verschärfen. Der Grund: Die Bundesagentur für Arbeit (BA) rechnet damit, dass bis dahin die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland um 3,6 Millionen Personen sinken wird. Personalabteilungen geraten also mehr und mehr unter Druck, weitere Personallücken zu füllen. Neue Mitarbeiter zu finden, reicht jedoch nicht aus. Immer mehr Unternehmen berichten bereits von einer globalen "Great Resignation" und von "Quiet Quitting". Mitarbeiter lassen sich zunehmend direkt wieder abwerben oder quittieren im Stillen ihren Job, teilweise ohne Wissen des Arbeitgebers und bei voller Bezahlung.

Es ist deshalb von besonderem Interesse für Arbeitgeber, im Rahmen eines Bewerbungsgesprächs richtig einzuschätzen, ob ein Bewerber über die notwendige Motivation, Persönlichkeit und Soft Skills für eine ausgeschriebene Stelle verfügt und ob er sich in der Unternehmenskultur wohlfühlen wird. Das ist ein anspruchsvolles Unterfangen, denn Menschen bewerten das Verhalten anderer nicht objektiv, sondern vertrauen ihrem Bauchgefühl. Es fehlen fundierte Daten, die sie zusätzlich zu Rate ziehen können.

Virtueller Helfer für Recruiting und Fortbildung

Hier kommen Behavioral-Intelligence-Plattformen ins Spiel. Dabei handelt es sich um videobasierte Anwendungen, die Bewerber spielerisch in Interviews oder in simulierte Arbeitssituationen versetzen und voll automatisiert deren Verhalten mit Hilfe künstlicher Intelligenz (KI) analysieren. Sie erkennen Soft Skills und Persönlichkeitsmuster und können diese mit Stellenanforderungen abgleichen. So lässt sich frühzeitig erkennen, ob ein Mitarbeiter kurz-, mittel- und langfristig das Potenzial hat, eine Stelle auszufüllen und sich in der Unternehmenskultur weiterzuentwickeln. Die KI-Ergebnisse dienen als zusätzliche Entscheidungsgrundlage und Hilfestellung für Personaler und Recruiter. Bei einer Vielzahl von Bewerbungen können sie somit schnell einen Eindruck von Bewerbern gewinnen und ihre eigene Einschätzung mit den Ergebnissen der KI-Analyse abgleichen.

Dabei orientiert sich die KI zum Beispiel am Big-Five-Persönlichkeitsmodell. Dieses international anerkannte wissenschaftliche Modell beinhaltet fünf Persönlichkeitsdimensionen:

  • Offenheit für Erfahrungen

  • Gewissenhaftigkeit

  • Extraversion (Geselligkeit)

  • Verträglichkeit (Rücksichtnahme, Empathie) und

  • Neurotizismus (emotionale Labilität und Verletzlichkeit).

Behavioral-Intelligence-Plattformen können die wahrgenommene Persönlichkeit einer Person inzwischen mit einer Präzision von über 90 Prozent einschätzen. Zusätzlich ermöglichen sie, Verhalten und Persönlichkeit mit der Firmenkultur abzugleichen. So lässt sich über die Kultur-Taxonomie nach O'Reilly anhand von sieben Dimensionen beurteilen, in welcher Unternehmenskultur eine Person am stärksten motiviert wird.

Auch für interne Weiterbildungen werden Behavioral-Intelligence-Anwendungen eingesetzt. Gerade für Mitarbeiter mit Kundenkontakt sind zwischenmenschliche Interaktionen für den Unternehmenserfolg entscheidend. Mit der neuen Technologie können Angestellte in realitätsnahen Kundensimulationen lernen, effektiver zu kommunizieren. Die Video-KI analysiert solche simulierte Kundensituationen und zeigt dem Mitarbeiter, wie er vom Kunden wahrgenommen wird. Sie gibt etwa Feedback, ob der Mitarbeiter empathisch agiert, dem Kunden ein gutes Gefühl vermittelt und zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Anreize setzt. Das System kann beispielsweise auch feststellen, ob der Angestellte gut zu verstehen ist und inwieweit die gezeigten Gesichtsausdrücke und damit vermittelte Stimmung der Situation angemessen sind.

Mit Behavioral Intelligence die Firmenkultur verbessern

Viele Unternehmen befinden sich in digitalen Transformationsprojekten, die kulturellen Wandel erfordern. Neben Recruiting und internen Fortbildungen lässt sich mittels Behavioral Intelligence auch überprüfen, inwieweit Teams kulturellen Wandel leben. Wird zum Beispiel besonders viel Wert auf Kundenorientierung (Empathie, Rücksichtnahme) gelegt, kann die Personalabteilung bei der Auswahl von Bewerbern KI-unterstützt auf dieses Merkmal achten und Mitarbeiter in diese Richtung schulen. Behavioral Intelligence ist somit nicht nur ein wirkungsvolles Mittel, um passende Mitarbeiter zu gewinnen und sie für ihre Tätigkeiten adäquat weiterzubilden, sondern kann auch dabei helfen, die Firmenkultur weiterzuentwickeln und damit zukunfts- und wettbewerbsfähig zu machen.

KI ist nicht perfekt. Sie lernt aus den Daten, mit denen sie gefüttert wird und kann so ungewollt Diskriminierungsmuster replizieren. Ist beispielsweise die Personengruppe, die zum Training der KI genutzt wurde, stark homogen, wird das System möglicherweise Personen dieser Gruppe bevorzugen. Anders als Menschen lassen sich Unterschiede aber neutralisieren, etwa indem man den Datensatz erweitert oder entsprechende Kontrollvariablen einfügt. Unterbewusste Diskriminierungstendenzen bei Menschen können hingegen nur sehr schwer beseitigt werden - schließlich sind sie unterbewusst. Es ist deshalb deutlich leichter, KI so anzulernen, dass sie Frauen und Männer gleichbehandelt, als dies menschlichen Recruitern beizubringen. Angemessen angelernt ist eine KI objektiver als ein Mensch - ein entscheidender Vorteil beim Einsatz im Personalwesen.

Menschliches Verhalten mess- und vergleichbar machen

Mithilfe von Behavioral Intelligence lässt sich menschliches Verhalten mess- und vergleichbar machen. Personaler erhalten so eine zusätzliche Datengrundlage, die sie für Entscheidungen heranziehen können, um sich von rein subjektiven Urteilen zu lösen. Je mehr Menschen und Situationen eine KI analysiert, desto mehr lernt sie dazu und umso treffsicherer wird sie. Im Personalwesen hilft Video-KI Unternehmen dabei, die eigene Unternehmenskultur zu erkennen, passende Bewerber einzustellen und Mitarbeiter zielgerichtet weiterzuentwickeln.

Doch das ist nur der Anfang. Die Technologie hat das Potenzial, den Talentmanagement-Prozess komplett zu revolutionieren: Bewerber nutzen die KI zunehmend, um sich auf einem undurchschaubaren Arbeitsmarkt besser zu orientieren. Sie hinterlegen ihre Persönlichkeitsprofile und Analyseergebnisse auf der Plattform und lassen diese anonymisiert und automatisiert mit Millionen von offenen Stellen abgleichen. Die KI übernimmt zunehmend einen Teil des Bewerbungsprozesses, sodass Kandidaten im Falle eines erfolgreichen Matchings nur noch zum Vorstellungsgespräch erscheinen müssen. Anschließend unterstützt die KI im Onboarding und bildet den Mitarbeiter weiter. Behavioral Intelligence hat somit das Potenzial, nicht mehr nur ein digitaler Assistent für Personalabteilungen, sondern zum individuellen Karrierecoach zu werden, der ganz neue Karrieremöglichkeiten aufzeigt. Das Potenzial von Video-KI ist also noch längst nicht ausgeschöpft. (pg)