Große Trends kommen oft abstrakt daher, wenig greifbar. In kaum einem Bereich dürfte das stärker gelten als in dem der Digitalisierung. Jeder weiß, dass er sie braucht. Aber wie man sie umsetzt, können nur wenige beschreiben. Zu groß scheint das Thema und zu unbestimmt der Horizont. Ratschläge wie "Digitalisieren sie ihr Geschäftsmodell" klingen zwar schlüssig, aber wenig konkret. Womit es morgen losgehen soll, bleibt unklar.
Wer Daten in unterschiedliche Systeme noch mittels Papierschnittstelle überträgt, die Schmierzettel auf unterschiedlichem Versionsstand kaum auseinanderhalten kann und täglich mehrere Stunden mit dem Kopieren von Hand beschäftigt ist, wird sich besonders schwertun. Hier kommt die Aufforderung zur Digitalisierung beinahe einer Neuerfindung des Unternehmens gleich. Dabei könnte es viel einfacher sein. Denn zunächst ist klar: Digitale Unternehmen brauchen digitale Prozesse. Diese einzurichten, ist erst einmal schlichtes Handwerk und benötigt nicht zwangsläufig abgehobene Technologiesprünge. Das gilt selbst für vermeintlich disruptive Technologien wie den 3D-Druck, dem unterstellt wird, er könne die Logistik revolutionieren. Zu Ende gedacht, ändert er maximal die Güterstruktur im Transportgewerbe. Spitz gesagt, wird dann aus Stückgut granulares Schüttgut als Rohstoff für die 3D-Drucker, welches seinerseits wieder physisch transportiert werden muss.
Wer sich so geerdet mit seinen Prozessen auseinandersetzt, stellt fest: Im Kern geht es bei allen Veränderungen darum, automatische Abläufe zu schaffen, mit denen es für die Anwender einfacher wird. Diese folgen dem Apple-Prinzip: Die digitale Technik wird nur so eingesetzt, dass sie Komplexität reduziert oder beherrschbar macht. Evolution, die zur Revolution wird - Digitization statt Digitalization. Von solchen Prozessverbesserungen profitieren auch die Kunden, denn sie erleben die neue Einfachheit in der Kundenbeziehung.
Prozesse schrittweise digitalisieren
Doch wie geht man vor, um Prozesse zu digitalisieren? Am besten Schritt für Schritt: Es beginnt mit den erforderlichen Vorbereitungen. Jeder Prozess muss möglichst einfach, klar verständlich und entlang der tatsächlich ablaufenden Schritte analysiert und dokumentiert sein. So vorbereitet, entstehen lernende Prozesse, die in kontinuierlichen Überprüfungsschleifen stetig verbessert werden. Erst dann können sie verbessert werden - Mehrfachaufwände und Kontrollschritte werden reduziert, die Datenqualität gesteigert und insgesamt eine deutlich höhere Effizienz durchgesetzt.
Dafür muss auf der Basis relevanter Kennzahlen der Prozesserfolg nach jedem Durchlauf überwacht und für den nächsten Durchgang gegebenenfalls modifiziert werden. Dazu gehört es, nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die zeitlichen Abläufe zu überwachen und manuelle Arbeitsschritte so weit wie möglich zu ersetzen. Außerdem ist es wichtig, dass die Prozesse sicher sind, damit die Wertschöpfung stimmt und es nicht zu Fehlern kommt. Zusätzlich kommt es darauf an, alle im Verlauf erforderlichen Informationen bereitstellen zu können. Dafür braucht es einen Datenpool, der auch über die erforderliche Datenqualität verfügt. "Shit in - shit out", lautet nicht umsonst eine Binsenweisheit unter Informatikern.
Beispielsweise ist es in der Logistik dann möglich, Transportaufträge über Online-Plattformen zu vergeben - ohne dass noch telefonische Absprachen erforderlich wären. So können etwa Speditionen den Frachtraum einkaufen oder die Frachten makeln. Prozessvorteile durch die Automatisierung entstehen hier durch die medienbruchlose Übertragung von Adress- und Transportdaten bis hin zur elektronischen Abrechnung. Im nächsten Schritt werden die Einzelprozesse zu einer Prozesslandkarte für das Unternehmen zusammengefasst, die es ermöglicht, wiederkehrende Entscheidungstypen entlang eines Masterplans pauschal und regelbasiert zu behandeln. So erreicht die Firma dann die Stufen 4 und 5 des Referenzmodells Capability Maturity Model Integration. Wenn die erforderliche Prozessreife und Datenqualität hergestellt sind, geht es weiter mit der Umsetzung in einer angemessenen Technologie - immer nach der Maßgabe, nur dort aufzurüsten, wo es für eine vollständig automatische Bearbeitung erforderlich ist.
Qualifikation entscheidet
Dazu gehört auch, die Mitarbeiter entsprechend weiter zu qualifizieren. Sie sollen nicht nur über den Weitblick für die erforderliche Gesamtbetrachtung verfügen, sondern auch Prozesse in maschinenlesbarer Prozesssprache wie beispielsweise BPMN (Business Process Model and Notation) formulieren können. Zu ihren Aufgaben gehört es, im Hinblick auf den Bearbeitungsstatus Transparenz über die Prozesskette als Ganzes herzustellen und die Wertschöpfung dahingehend zu analysieren, an welchen Stellen in der Kette sie erfolgt. Wer dabei zunächst seine Stärken digitalisiert, also besonders die Prozesse, die er jetzt schon besser als der Wettbewerb meistert, wird in diesem Zusammenhang auch seine Schwächen verbessern. Auf diesem Weg kommt er dem Anspruch näher, sein Geschäftsmodell zu digitalisieren.
Er steigert jedoch mindestens seine Performance und erwirbt sich so einen Vorteil gegenüber seinen Wettbewerbern. Wer sich so eine automatische Prozesslandschaft geschaffen hat, wird im Wesentlichen zwei Effekte beobachten - die jeweils für sich genommen bereits den entscheidenden Impuls zur Digitalisierung geben dürften: Entweder erhöht sich die Bearbeitungsgeschwindigkeit, was den Wert der eigenen Leistung signifikant erhöht, oder die Gesamtprozesskosten sinken nachhaltig und sorgen so für deutlich bessere Erträge.
Der wichtigste Effekt ist jedoch die deutlich verbesserte Customer Experience für Kunden und Vertragspartner: Ein digitales Unternehmen ist deutlich schneller, flexibler, unkomplizierter und damit äußerst kundenorientiert. Und es hält alle Einzelprozesse weitest möglich digitalisiert. Wer das erreichen will, muss nicht auf die große Revolution warten, sondern kann schon am nächsten Arbeitstag mit systematischen Prozesserfassungen, -beschreibungen und -verbesserungen und deren anschließender Automation starten. Damit stärkt er in der sukzessiven Evolution seine Wettbewerbsfähigkeit und sichert sich als digitales Unternehmen den langfristigen Erfolg.
Hintergrund:
Die fünf Reifegrade des Capability Maturity Model Integration
Initial
Keine bis unvollständige Prozessdokumentation
Lediglich Nutzung von Erfahrungswissen
Keinerlei Prozesskultur
Prozess unvorhersehbar und reaktiv
Repeatable
Erste strukturierte Prozessaufnahme (beispielsweise aufgrund einer Zertifizierung)
Prozesse werden aber nur unzureichend "gelebt"
Defined
Standardisierte Prozesse dokumentiert und implementiert
Organisatorisch verankerte Prozessvorgaben
Reduktion von Kopfmonopolen
Managed
Unternehmensweit beherrschte und gelebte Prozesse
Regelmäßige Kontrolle der Prozesseffektivität und -effizienz, unter anderem anhand von Kennzahlen
Optimized
Eigenständige Prozess-Verbesserungen
Einsatz von Best-Practice-Methoden
Höchste Form der Prozesskultur