EU-Benchmark

Wie E-Government-Services zur Normalität werden

24.10.2016
Von 


Marc Reinhardt leitet als Executive Vice President bei Capgemini die Markteineit des Öffentlichen Bereichs und ist somit verantwortlich für die Kunden in den Bereichen öffentliche Verwaltung und Sozialversicherung in Deutschland. Er ist Mitglied des Präsidiums der Initiative D21 sowie Mitglied im Nationalen IT-Gipfel der Bundesregierung.
Als Hochtechnologieland sollte sich Deutschland nicht am europäischen Durchschnitt orientieren, sondern von Vorreitern lernen - sowohl beim Breitband als auch beim E-Government.
  • Limitierender Faktor bei der digitalen Transformation ist auch Führungs- und Fachkompetenz
  • Mangelnde Bekanntheit öffentlich-digitaler Services, geringe Nutzerfreundlichkeit Datenschutzbedenken schrecken Bürger noch ab
  • Dabei ist die digitale Kompetenz der Bundesbürger überdurchschnittlich gut
  • Ein Blick nach England, Dänemark und Estland zeigen, wo noch Potenziale liegen

Unternehmen, die den Sprung in die digitale Welt verpasst haben, existieren heute nicht mehr. Ein Beispiel dafür ist der finnische Telekommunikationskonzern Nokia. Dieser war über zehn Jahre führender Hersteller von Mobiltelefonen. Die Disruption wurde erst bemerkt, als es schon zu spät war. Trotz der Versuche, den Sprung in das Geschäft mit Smartphones zu wagen, musste Nokia seine Mobiltelefonsparte 2014 verkaufen.

Andere Branchen wie der Einzelhandel oder Finanzdienstleister erlebten bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends umfassende Veränderungen. Sie sind inzwischen zur digitalen Elite (sogenannten Digirati: Kunstwort aus digital und literati) aufgestiegen und getrieben von Innovationen durch Themen wie soziale Medien, Mobilität und Big Data. Anderen Branchen hingegen stehen diese Umwälzungen durch sich rasch weiterentwickelnde Technologien erst noch bevor.

Angepasste durchschnittliche Industriewerte von Unternehmen aus dem jeweiligen Quadranten verglichen mit dem Durchschnitt der Stichprobe.
Angepasste durchschnittliche Industriewerte von Unternehmen aus dem jeweiligen Quadranten verglichen mit dem Durchschnitt der Stichprobe.
Foto: Capgemini Consulting-MIT Analyse

Führungs- und Fachkompetenz fehlt oftmals noch

Insbesondere die Tourismusbranche als Fashionista setzt Maßnahmen zwar überwiegend um, um mithalten zu können, begreift die Digitalisierung jedoch zum Teil noch als vorübergehende Entwicklung - wie einen Modetrend. Unter dem Schlagwort Industrie 4.0 holt nun aber das produzierende Gewerbe auf.

Branchenübergeifend ist nicht nur die Technologie für eine konsequente und erfolgreiche digitale Transformation entscheidend, limitierender Faktor ist auch die Führungs- und Fachkompetenz.

Capgeminis Studien mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) zeigen, dass Unternehmen, die Digitalisierung organisatorisch, finanziell und personell erfolgreich umsetzen, um 26 Prozent profitabler wirtschaften.

Digitalisierung in Branchen
Digitalisierung in Branchen
Foto: Capgemini Consulting-MIT Analyse

Verwaltung ohne Wettbewerb

Auch die öffentliche Verwaltung muss sich diesem Wandel stellen. Sie verfügt im Gegensatz zu Unternehmen in der freien Wirtschaft über ein Monopol. Klassische Geschäftstreiber wie Kundenverlust oder Wettbewerbsnachteile wirken sich nicht unmittelbar aus. In Europa haben die Mitgliedstaaten den digitalen Wandel unterschiedlich stark aufgegriffen und umgesetzt. Während es Vorreiter wie Estland gibt, haben nicht alle Länder die Digitalisierung offensiv und proaktiv als Chance ergriffen und sich transformiert.

Innerhalb Europas können und sollten die Verwaltungen voneinander lernen und Erkenntnisse miteinander teilen - an die Stelle fehlender Treiber wirtschaftlichen Wettbewerbs treten Ländervergleiche. Die Europäische Kommission bewertet dazu einmal jährlich die digitalen Verwaltungsdienstleistungen aller Länder der EU. Untersucht wird die Rolle des E-Governments, das heißt die Fortschrittlichkeit der digitalen Verwaltung sowie die Verfügbarkeit entsprechender Online-Services in verschiedenen Lebenssituationen.

Das Lebenslagenkonzept

Das sogenannte "Lebenslagenkonzept" nimmt an, dass die Bürger über einen längeren Zeitraum nur in geringem oder gar keinem Kontakt mit der öffentlichen Verwaltung stehen, in bestimmten Situationen jedoch verstärkt und mit mehreren Behörden kommunizieren müssen. Darunter fallen unter anderem verschiedene Schlüsselphasen wie Umzug, Aufnahme eines Studiums sowie Verlust von und Suche nach einer Arbeitsstelle.

Grundlage für den EU-Vergleich sind die aus der Digitalen Agenda der EU abgeleiteten Indikatoren Nutzerzentriertheit, Transparenz, grenzüberschreitende Mobilität und technologische Schlüsselelemente für eine Online-Serviceabwicklung, wie zum Beispiel sichere elektronische Identitäten.

Stolpersteine für die digitale Transformation der Verwaltung

Insgesamt liegt Deutschland im europäischen Vergleich im Mittelfeld: Oft gibt es noch gar kein Online-Angebot für bestimmte Behördenleistungen. Und selbst wo sie vorhanden sind, existieren Stolpersteine für ihre Nutzung: Mangelnde Bekanntheit der Angebote, geringe Nutzerzentriertheit (benutzerunfreundliche und mit hohem Zeitaufwand verbundene Anwendungen) und hohe Datenschutzbedenken seitens der Bürger erschweren den Umgang mit öffentlich-digitalen Dienstleistungen.

Das föderale System in der Bundesrepublik ist hierbei eine besondere Herausforderung: Die Kompetenzverteilung zwischen den Verwaltungsebenen Bund, Länder und Kommunen ist stark fragmentiert. Informationsaustausch und Zusammenarbeit zwischen den Behörden sind oft noch am Anfang.

Traditionelle Verwaltungsgrundsätze

Gegenwärtig werden viele Gelder für die Entwicklung gleicher Lösungen ausgegeben, die zudem nicht vollständig kompatibel sind. Traditionelle Verwaltungsgrundsätze wie die Erfordernis der Schriftform (Aktenmäßigkeit und Schriftlichkeit als Merkmale des bürokratischen Idealtypus) sind tief im Verwaltungshandeln verankert. Auch die Verwaltungsausbildung ist auf traditionelle Arbeitsweisen und das Denken in Zuständigkeiten ausgerichtet.

Dennoch gibt es aus Sicht der EU auch positive Veränderungen. So hat sich die Bundesrepublik zuletzt schneller entwickelt als andere Mitgliedstaaten. Sie gehört zur Gruppe der "progressiven Länder". Überdurchschnittlich gut ist zudem die digitale Kompetenz der Bundesbürger und erfüllt damit eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt online Verwaltung betreiben zu können.

So erledigt ein überdurchschnittlich großer Teil der Deutschen im Vergleich zu anderen Ländern private Einkäufe online. Auch ist die Versorgung mit "Basis-Breitband" im europäischen Vergleich gar nicht so schlecht: Die Internetanbindungen mit 30 Megabit pro Sekunde sind trotz der aktuellen Diskussion fast überall verfügbar, selbst im ländlichen Raum liegt die Verfügbarkeit bei 93 Prozent. Erst bei hohen Geschwindigkeiten/Bandbreiten fällt Deutschland zurück.

Vorbilder England, Dänemark und Estland

Ein Blick nach England oder Dänemark zeigt, wo noch Potenziale liegen. Dort mussten sich die Behörden dem hohen Einsparungsdruck beugen und setzten digitale Angebote verstärkt um. Die Lösungen zur elektronischen Signatur und Identifizierung, oder auch die elektronische Rechnung sind an vielen Stellen der EU bereits vorhanden und grenzüberscheitend eingeführt.

Vorreiter Estland verfügt mittlerweile über rund 600 E-Government-Dienste, von der elektronischen Steuererklärung bis hin zum E-Voting.

Als Hochtechnologieland und Exportweltmeister sollte sich Deutschland entsprechend nicht am europäischen Durchschnitt orientieren, sondern von den europäischen Vorreitern lernen - sowohl beim Breitband als auch beim E-Government.

Wie die Umsetzung digitaler Services der öffentlichen Verwaltung der Bundesrepublik verbessert werden kann und was Deutschland von der europäischen Spitzengruppe lernen kann, lesen Sie in den nächsten Beiträgen der IDG-Experten-Reihe zum E-Government Benchmark.

Die Europäische Kommission vergleicht in Kooperation mit Capgemini einmal jährlich die Verwaltungsleistungen 33 europäischer Länder, darunter die 28 EU-Mitgliedstaaten sowie Island, Serbien, Norwegen, Schweiz und die Türkei. Hier finden Sie den vollständigen E-Government- Benchmark 2016.