COVID-19 als Proof of Concept

Wie Banken digitalisieren sollten

24.08.2020
Von  und
Hendrik Lemelson ist Head of Product Strategy bei der Avaloq Group. Davor war er als Berater für Unternehmensstrategie tätig.
Christian Gosch ist CIO/COO der Avaloq Sourcing (Europe) AG. Er ist als Vorstandsmitglied für IT und Operations verantwortlich.
Was den Bankensektor angeht, hat die Coronakrise gezeigt, dass sich ein Innovationsstau negativ auf die Krisenresilienz auswirkt. So sollten Finanzinstitute jetzt reagieren.
Die Coronakrise hinterlässt auch in der Finanzwelt ihre Spuren.
Die Coronakrise hinterlässt auch in der Finanzwelt ihre Spuren.
Foto: Blue Planet Studio - shutterstock.com

COVID-19 hinterlässt in allen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft tiefe Spuren. An vielen Stellen hat die Coronakrise die Verwundbarkeit von Unternehmen und Organisationen aufgedeckt. Zugleich birgt sie - wie jede Krise - auch eine Chance: Innovationen voranzutreiben, Prozesse zu automatisieren und neue Formen des Arbeitens und der Kommunikation zu etablieren. Dennoch gibt es in etlichen Industriezweigen - auch in der eher konservativ geprägten Finanzbranche - nach wie vor einen Innovationsstau. Für viele Finanzinstitute haben unflexible Legacy-Systeme die Krisenresilienz beeinträchtigt.

Die Coronakrise hat die Überwindung des Innovationsstaus auf der Agenda nun aber weit nach oben gerückt. Auch wenn COVID-19 selbst kein Enabler für Innovation und Digitalisierung ist, wirkt die Pandemie doch als Beschleuniger bestehender Trends. Alleine was die Ansprüche von Endkunden an die digitale Kommunikation betrifft, hat uns Corona wohl fünf bis sieben Jahre in die Zukunft katapultiert.

Digitalisierungsdefizite in der Finanzbranche

In etlichen Branchen, auch in der Finanzindustrie, waren Unternehmen auf den weitgehenden Lockdown mehr schlecht als recht vorbereitet. Dennoch gelang es oft relativ schnell, Heimarbeitsplätze einzurichten, inklusive der erforderlichen Infrastruktur, der Notebooks, der Netzwerkbandbreiten und des Remote-Zugriffs per VPN-Tunnel. So hat die Krise allen gezeigt, dass ein Homeoffice-Ansatz prinzipiell funktioniert. Dadurch hat das arbeitsplatzunabhängige Arbeiten nachhaltig an Bedeutung gewonnen.

Es ist durchaus vorstellbar, dass 30 Prozent aller Knowledge Worker die neuen Homeoffice-Möglichkeiten permanent in Anspruch nehmen werden. Dabei ist es für Teamleiter wichtig, die direkte Kommunikation aufrechtzuerhalten, etwa durch regelmäßige, virtuelle Stand-up-Meetings - denn auch im Homeoffice wollen Mitarbeiter in den Informationsfluss eingebunden bleiben.

Allerdings verlief längst nicht bei allen Unternehmen der Umzug ins Homeoffice reibungslos - wenn er überhaupt möglich war. Oft hatte dies damit zu tun, dass relevante Funktionen nur an stationären Arbeitsplätzen verfügbar waren. So führten viele Banken auch einen Schichtbetrieb mit reduzierter Besetzung und größeren physischen Abständen ein - um etwa in ihren Händlerräumen die Infektionsrisken zu minimieren.

Zudem sind in vielen Fällen Prozesse teilweise noch papiergebunden, beispielsweise Neukundenanträge oder Transfers. Für etliche Unternehmen brauchte es ferner eine gewisse Umrüstzeit, bis sie etwa in ihrem Posteingang soweit waren, dass eingehende Schriftstücke gescannt werden konnten. Die Krise deckte die Schwachstellen in bislang unvollständig digitalisierten Prozessen schonungslos auf und führte die Vorteile einer durchgängigen Automatisierung deutlich vor Augen.

Mit Outsourcing zur Resilienz

Eine weitere zentrale Lehre, die Banken - und Unternehmen ganz allgemein - aus der Krise gezogen haben, ist, dass es lohnt, Automatisierungs- und Outsourcing-Konzepte zusammenzudenken. So haben die Banken gesehen, dass ihre komplexen Legacy-Systeme einem effektiven Desaster Recovery ebenso im Weg stehen wie einer effizienten Automatisierung.

Je stärker ein Finanzinstitut aber seine Backoffice-Prozesse standardisiert und automatisiert, desto größer seine Resilienz und seine Effizienz. Durchgängig automatisierte Prozesse sorgen für eine hohe Datenqualität und -konsistenz, sie garantieren eine hohe Compliance gegenüber regulatorischen Vorgaben, und sie gestatten Straight-Through-Processing-Raten von über 98 Prozent - die Notwendigkeit manueller Eingriffe im Backoffice reduziert sich auf ein Minimum.

Die Coronakrise hat gezeigt, dass standardisierte, automatisierte und outgesourcte Prozesse die Anfälligkeit eines Unternehmens drastisch verringern. Konzepte wie SaaS und BPaaS reduzieren für Finanzinstitute aber nicht nur etwaige Herausforderungen im Bereich Business Continuity, sie erlauben es ihnen dauerhaft, sich viel stärker auf ihre eigentlichen, wertschöpfenden Kompetenzen zu konzentrieren. Letztlich hat COVID-19 dafür gesorgt, dass Banken entsprechende Sourcing-Strategien für ihre Infrastruktur und die dazugehörigen Investitionsvorhaben heute viel höher priorisieren.

Mobiles Kundenerlebnis First

Auch auf der Kundenseite hat sich viel verändert. Die Art und Weise, wie sie mit Unternehmen interagieren, wird nach der Pandemie eine andere sein. Schließlich waren die Kunden, die über Monate nicht in ihre Bankfiliale gehen konnten, gezwungen, die Möglichkeiten von Onlinebanking oder Onlinetrading zu nutzen. Und für das beratungsintensive Geschäft der Kredit- und Anlageberatung hatten viele Finanzinstitute schnell neue Wege gefunden - etwa die improvisierte Videoberatung. Eine Schweizer Kantonalbank hattet innerhalb kurzer Zeit einen Support-Marktplatz für Kleinunternehmen aus der Taufe gehoben.

Viele dieser kurzfristig geschaffenen Möglichkeiten haben den Charakter von Notlösungen und sind längst nicht perfekt. auch der derzeitige Funktionsumfang vieler Banking-Apps kann viele Kunden noch nicht wirklich begeistern. Aber was bei den Kunden nach ihren Erfahrungen in der Krisenzeit haften bleibt, ist, dass es prinzipiell geht. Dass es virtuelle Kanäle und digitale Frontends gibt, auf denen sie mit ihrem Dienstleister auch mobil kommunizieren können.

Hinter diese Erkenntnis gibt es kein Zurück mehr. Auf der strategischen Agenda von Banken steht deshalb neben der Prozessautomatisierung auch der beschleunigte Ausbau ihrer digitalen Frontends und virtueller Beratungsumgebungen. Für die mobile Customer Experience werden zudem leistungsfähige Apps eine große Rolle spielen. Zumal manche Prognosen davon ausgehen, dass 2025 rund drei Viertel aller Kunden das Internet nur noch per Smartphone nutzen.

Der Weg zur Always-On-Bank

Ein weiterer Treiber für die Digitalisierung der Frontends sind neue Kundengruppen. So steht das globale Vermögensverwaltungsgeschäft vor einem gewaltigen Generationswechsel: Viele große Portfolios werden demnächst von den Babyboomern auf die Millennials übertragen. Wenn eine Bank aber deren Ansprüchen genügen will, erfordert dies eine konsequente Digitalisierung. Die nachwachsenden Kunden sind internetaffin und always-on.

Sie wollen in Echtzeit agieren können und im Zweifelsfall erwarten sie eine Omnichannel-Beratung. Sie entscheiden, ob sie lieber per WhatsApp, Line oder WeChat mit ihren Beratern sprechen. Banken, Vermögensberater und im Grunde alle Dienstleister sind darum gezwungen, in Zukunft die Zugangsbarrieren für ihre Kunden massiv zu reduzieren.

In diesem Kontext ist auch von einer "Demokratisierung des Wealth Managements" die Rede. Denn mit der Digitalisierung wird für Vermögensberater auch der bislang wenig rentable Retail-Markt attraktiv. Datenanalyse-, KI- und Machine-Learning-Technologien gestatten auch für kleinere Anleger eine Hyperpersonalisierung: Ein Robo Advisor kann dann auf individuelle Kundenbedürfnisse eingehen, ohne den Aufwand einer persönlichen Beratung.

Der Open-Banking-Trend

Automatisierung ist das A und O für den zukünftigen Erfolg im Retail-Markt, aber auch das Corporate Banking unterliegt einer starken Automatisierung. Hier gab es bereits vor Corona einen wichtigen Treiber: die zweite Zahlungsdiensterichtlinie der EU (PSD2). Sie hat die Ära des Open Bankings eingeläutet.

PSD2 verpflichtet Finanzinstitute, ihre digitalen Infrastrukturen und Prozesse so anzupassen, dass Drittunternehmen auf freigegebene Kundendaten zugreifen, personalisierte Dienstleistungen anbieten und dadurch Teil des finanziellen Ökosystems des Kunden werden können. Gerade Unternehmenskunden profitieren bereits davon: Sie können nun Rechnungen digitalisieren und sie direkt über die PSD2-REST-Schnittstelle an ihre Bank übermitteln. So entstehen für Unternehmen auch neue Möglichkeiten des Liquiditäts-Managements.

Das Ökosystem-Konzept hat in der Finanzbranche zwei Dimensionen. Zum einen können Kunden sich ihr finanzielles Ökosystem selbst bedarfsgerecht zusammenstellen. Zum anderen vollziehen sich aber auch bankenseitig technologische Innovationen immer mehr in der Community, in einem Ökosystem, das um eine gemeinsame Plattform herum entsteht.

Dort finden etablierte Finanzinstitute und Fintechs zusammen und beschleunigen durch Co-Innovation-Ansätze die Adaption innovativer Technologien und Lösungen. Vor dem Hintergrund von Open Banking und Ökosystemen gibt es für Banken zwei Entwicklungslinien: Einerseits treten sie mitunter stärker in den Hintergrund und werden zum Plattformbetreiber - Stichwort "Invisible Banking" -, andererseits können sie sich entscheiden, das Dienstleistungsangebot unter ihrem eigenen Branding deutlich zu erweitern.

Testfall Corona

Die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen gezeigt, warum eine konsequente Digitalisierung sinnvoll ist, von der personalisierten Kundenansprache im digitalen Frontend bis zur durchgängigen Automatisierung der operativen Prozesse. Durch COVID-19 sind keine vollkommen neuen Technologien entstanden, die Krise hat aber die Validität bestehender technologischer Trends bewiesen. Die Modernisierung der IT-Infrastruktur hat eine neue strategische Dringlichkeit bekommen - für Unternehmen aus unterschiedlichsten Branchen, auch für Finanzdienstleister. (hi/fm)