Model Based Product Line Engineering

Wie Airbus MB-PLE als Wettbewerbsvorteil nutzt

18.03.2022
Von   
Tillmann Braun ist freier Journalist und Kommunikationsberater für non-profit Organisationen und Unternehmen. Sein Fachgebiet sind innovative IT-Lösungen für die Vernetzung von Menschen und Maschinen. Zu seinen Spezialthemen gehören intelligente (Heim-)Netzwerke, Machine-to-Machine-Kommunikation, Mobile Payment, IT-Strategien und vielfältig einsetzbare Kommunikationssysteme.
Produkte werden immer komplexer. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Hersteller ihre Entwicklungsprozesse überdenken und anpassen. Wie das mit Hilfe von MB-PLE geht, zeigt das Beispiel Airbus.
Airbus ZEROe: Nachhaltigkeit beginnt bereits bei der Produktentwicklung
Airbus ZEROe: Nachhaltigkeit beginnt bereits bei der Produktentwicklung
Foto: Airbus

Unternehmen, die komplexe Produkte mit vielen Varianten anbieten, stehen vor großen Herausforderungen. Dazu gehört, dass Kunden und Auftraggeber immer häufiger individuelle Wünsche haben, die berücksichtigt werden müssen. Da immer mehr Abteilungen, Mitarbeiter und Tools an der Produktentwicklung beteiligt sind, führt letztlich kein Weg mehr an einer umfassenden Digitalisierung der Produkte und Prozesse vorbei. Die entscheidende Frage ist damit nicht, ob, sondern vielmehr wie die Digitalisierung angegangen wird.

Eines der wohl komplexesten Produkte der Welt ist ein Flugzeug. Entsprechend ist es wenig überraschend, dass bei Airbus bereits das gesamte Produkt-Portfolio digital entwickelt wird. "Früher lag der Fokus allein auf dem Produkt, also dem Flugzeug", erklärt Marco Forlingieri, Model Based Product Line Manager bei Airbus.

"Heute steht das Produkt ganzheitlich im Mittelpunkt, inklusive des gesamten Lifecycles: von der Erstellung von Prototypen über die klassische Entwicklung und die Lieferkette bis hin zu After-Sales-Services wie Wartung, Reparatur und Pflege. Alles wird gleichzeitig entwickelt und berücksichtigt. Jeder Aspekt beeinflusst den anderen", betont Forlingieri. Der 31-Jährige zählt zu den wichtigsten globalen PLE-Experten. Bevor er Anfang 2020 zu Airbus wechselte, um unter anderem das Thema PLE voranzutreiben, war er bereits bei Accenture, IBM und Bombardier (jetzt Alstom) für die Entwicklung in Produktlinien verantwortlich.

Nachhaltigkeit - auch in den Entwicklungsprozessen

Mit Hilfe von "Co-Development" und "Co-Architecture" geht Airbus die strategischen Unternehmensziele an, beispielsweise ein Zero-Emission-Model für die zivile Luftfahrt. Eine höhere Nachhaltigkeit wird bei Airbus allerdings nicht allein mit nachhaltigen Produkten wie Low-Emission-Flugzeugen erzielt, sondern auch mit einer effizienteren Produktentwicklung. Denn bereits bei der Entwicklung wird Airbus dank der durchdachten Digitalisierung und Methoden wie moderner Produktlinienentwicklung (PLE) immer nachhaltiger.

"Wir arbeiten an einem 'Product Line Principle', denn wir wollen nicht immer alles von Grund auf neu entwickeln, sondern bestehende Ergebnisse wiederverwenden", erklärt Forlingieri, der als leitender Ingenieur unter anderem für Model-Based Product Line Engineering (MB-PLE), Varianten-Management, Simulationen und Analysen verantwortlich ist. "Die größte Herausforderung war und ist, die richtige Balance zu finden. Das gilt insbesondere für die Einführung von DDMS (Digital Design Manufacturing and Services)."

Airbus arbeitet bereits an Lösungen, die erst in drei, fünf oder zehn Jahren zum Einsatz kommen. Manche Kunden können und wollen aber nicht so lange warten, um etwas Neues einzuführen. "Wir wollen und müssen somit schon jetzt Lösungen anbieten, die konsistent mit zukünftigen Lösungen funktionieren", so Forlingieri.

Product Line Engineering und Model-Based Systems Engineering

Um die Entwicklung zu modernisieren, nutzt Airbus zwei Methoden: Product Line Engineering und Model-Based Systems Engineering (MBSE), bei dem - wie der Name bereits verrät - ein Modell-basierter Ansatz zum Tragen kommt. Die Kombination der zwei Methoden bringt zwei wesentliche Vorteile. "Ich will zu meinem Kunden gehen können und ihm die Features unseres Produkts konkret zeigen", erläutert der Airbus-Ingenieur. Als Hersteller müsse man zudem den Bedarf des Kunden verstehen und keinesfalls nur an den Katalog der Bauteile denken. Stattdessen müsse man sich noch stärker auf die Vorteile für die Kunden konzentrieren, die das Produkt kaufen.

"Wir fragen uns also bei Airbus, mit welchen Innovationen wir unsere Kunden und deren individuellen Bedarf - wie mehr Passagiere, mehr Komfort oder mehr Effizienz beim Verbrauch - besser bedienen können", bringt es Forlingieri auf den Punkt. "Anstatt dem Kunden unsere Produkte schmackhaft zu machen, wollen wir Lösungen finden, die genau zu den Herausforderungen passen, vor denen unsere Kunden stehen. Diese Individualisierung für den Kunden ist nur durch konsequentes MB-PLE möglich", ist sich der Experte sicher.

Wenn sich ein Kunde eine Individualisierung bei einem Produkt wünscht, kann Airbus einen digitalen Zwilling erstellen und dem Kunden konkret zeigen, wie aufwändig eine gewünschte Änderung ist und ob womöglich ein einfacherer, günstigerer Weg zum gleichen Ziel führt. "Auf diese Weise sieht er alle Konsequenzen seiner Wünsche und kann informierte Entscheidungen treffen", sagt Forlingieri.

Während Airbus bei der Modellierung auf das führende MBSE-Tool Cameo Systems Modeler vom Global Player Dassault Systèmes setzt, kommt für die Entwicklung der Produktlinie "Kabinensysteme" pure:variants von pure systems zum Einsatz. Die Softwarelösung soll ein ganzheitliches Management der zahlreichen Varianten ermöglichen, sodass sich die vielfältigen Wünsche der einzelnen Airlines wesentlich leichter, schneller und sicherer berücksichtigen lassen.

Will eine Fluggesellschaft etwa für ein Modell zusätzliche Sitzreihen, mehr Beinfreiheit oder größeren Stauraum für das Handgepäck, kann Airbus die Kabinensysteme dank MB-PLE leicht ändern und veranschaulichen. Mit Hilfe von pure:variants lässt sich dabei sofort erkennen, welche Varianten möglich sind und welche Kombinationen sich gegenseitig ausschließen. Darüber hinaus sieht das Unternehmen, welche Teile wiederverwendet werden können. Insgesamt lässt sich dabei die Anzahl der verwendeten und zu entwickelnden Teile im Vergleich zu traditioneller Produktentwicklung teils deutlich reduzieren, was in der Summe große Einsparungen mit sich bringt.

Zentraler Informations-Hub

Ein wichtiger Faktor ist zudem, dass es für die vielen verschiedenen Entwicklungswerkzeuge etwa für das Anforderungsmanagement, die Sourcecode-Verwaltung und Test-Cases, die in den beteiligten Abteilungen genutzt werden, Konnektoren gibt. So kann die Varianz an einer zentralen Stelle für alle angeschlossenen Tools verwaltet werden.

Die Bauteile eines Airbus werden in verschiedenen Ländern hergestellt.
Die Bauteile eines Airbus werden in verschiedenen Ländern hergestellt.
Foto: Airbus

"Modernes Produkt-Management ist nicht mehr rein textbasiert, wie es früher einmal war. Dank unseres holistischen Varianten-Managements fließen sämtliche Informationen aus allen an der Produktion beteiligten Abteilungen ein - unabhängig davon, ob die einzelnen Mitarbeiter mit ihren Tools an Texten oder Modellen arbeiten", erklärt Forlingieri. "Das macht es deutlich leichter, von vornherein alle Aspekte zu berücksichtigen."

Nach der erfolgreichen Digitalisierung in Bereichen wie den Kabinensystemen will der PLE-Spezialist das Thema MB-PLE jetzt auch auf die Bereiche bei Airbus ausweiten, in denen ein ganzheitliches Varianten-Management ebenfalls zu einer effizienteren Entwicklung und mehr Nachhaltigkeit führen würde. Im Wettstreit mit Boeing & Co. könnte dies ein entscheidender Faktor werden.

Doch auch mittelständische Unternehmen könnten viel von Airbus lernen. Das gilt insbesondere für die Entwicklung in Produktlinien und die Wiederverwendung von Hard- und Software-Elementen mit Hilfe eines umfassenden Varianten-Managements über alle unterschiedlichen Entwicklungstools hinweg. Schon während der Produktentwicklung an die Reparatur und Wartung zu denken, gehört ebenso dazu. Effizienz und Nachhaltigkeit sind schließlich nicht nur bei Flugzeugbauern gefragt. (mb)