Strategische Leere

Werfen Sie die rosarote GPT-3-Brille weg!

Kommentar  06.03.2023
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Evan schreibt als freier Autor und Kolumnist unter anderem für CBS News, RetailWeek und eWeek sowie für unsere US-Schwesterpublikationen Computerworld, CSO Online und CIO.com.
Unternehmen, die ohne strategische Ziele Investitionen wagen, tun sich keinen Gefallen. Das war beim Web von 1995 und der Blockchain so – und ändert sich auch bei GPT-3 nicht.
Wenn der Hype verfängt, steigt die Gefahr, strategische Ziele aus den Augen zu verlieren.
Wenn der Hype verfängt, steigt die Gefahr, strategische Ziele aus den Augen zu verlieren.
Foto: Elena Abrazhevich - shutterstock.com

Nur wenige Technologien wurden von Medien und der breiten Öffentlichkeit in einer Art und Weise gepriesen, wie es derzeit mit ChatGPT und anderen Applikationen geschieht, die auf GPT-3-Basis entstehen. Auch diverse IT-Entscheider im Unternehmensumfeld haben sich auf die Technologie gestürzt, um eigene Anwendungen zu entwickeln. Die Geschichte lehrt uns allerdings, dass sich Unternehmen leicht verschätzen beziehungsweise übernehmen können, wenn sie in großem Stil in Dinge investieren, die nicht ihren strategischen Zielen entsprechen. Denken Sie nur an das World Wide Web Mitte der 1990er Jahre oder die Blockchain-Technologie.

Wenn ich in den Anfangsjahren des World Wide Web mit einer Führungskraft über die Einführung einer Website sprach und sie danach fragte, welche Ziele damit erreicht werden sollen, bekam ich gleich diverse Variationen von Antworten zu hören, die die Alarmglocken schrillen lassen sollten:

  • "Eines unserer Vorstandsmitglieder hat darüber gelesen und besteht darauf, dass wir das auch bekommen."

  • "Der Sohn unseres CEOs kann nicht aufhören, darüber zu reden."

  • "Alle anderen machen das auch."

Es sind exakt dieselben Antworten, die ich heute in Bezug auf GPT-3 höre. ChatGPT verfügt über eine Reihe beeindruckender Funktionen, ist im Grunde aber nicht mehr als eine riesige Datenbank mit einer Schnittstelle, die menschliche Kommunikation effektiv nachahmt. Man könnte das Tool auch als eine leistungsfähigere Version des Intranets betrachten. Die Informationen, die die in den meisten Fällen über ChatGPT eingeholt werden, wären auch einfach mit einer "normalen" Google-Suche auffindbar. Allerdings kann man es sich dank des Generative-AI-Tools sparen, Dutzende von Suchergebnissen zu analysieren, um eine bestimmte Antwort zu finden.

Der Vorteil mit dem größten Wert für die IT liegt in den menschenähnlichen Interaktionen. Das könnte in der Theorie dazu führen, dass bei vielen Softwareentwicklungsprojekten auf elementare Coding-Tasks verzichtet werden kann. Schließlich beginnen die meisten dieser Projekte damit, dass eine Führungskraft zu einem Techniker sagt: "Wir brauchen ein System, das XY kann. Machen Sie das möglich."

Einige anspruchsvolle Programmierarbeiten werden auch in Zukunft nicht ohne menschliche Kreativität auskommen. Ein großer Teil besteht jedoch aus mühsamen, repetitiven Aufgaben. Könnte GPT die für uns übernehmen? Beim Blick auf die Fehlinformationen und Fails, die GPT-3-Systeme bislang geliefert haben, muss die Antwort - noch - ein klares Nein sein. Solange diese Probleme nicht gelöst sind, birgt es unberechenbare Gefahren, einen GPT-3-Chatbot coden - oder auf Kunden loszulassen.

CIOs in der Schokoladenfabrik?

Es gibt zwei Möglichkeiten, zu untersuchen, wie sich GPT-3 im Unternehmen einsetzen lässt: präskriptiv oder ergebnisoffen. Abhängig von Ihrem Unternehmen, Ihren Zielen und nicht zuletzt Ihrem Budget können beide Ansätze sehr attraktiv sein:

  • Der präskriptive Ansatz ist simpler und liefert wahrscheinlich bessere kurzfristige Ergebnisse. Im Mittelpunkt steht die Frage, was GPT-3 heute leisten kann, um Ihrem Unternehmen zu helfen - zum Beispiel, indem es bisher nicht umsetzbare Produkte oder Services ermöglicht.

  • Der ergebnisoffene Ansatz ist wesentlich interessanter. Hierbei geben Sie Ihrem Team großen Spielraum, um mit GPT-3 zu experimentieren und auf kreative Art und Weise herauszufinden, was mit der Technologie möglich ist. Dieser Ansatz muss jedoch auch einige Grenzen aufweisen.

"CIOs müssen sich darüber im Klaren sein, was sie mit dem Einsatz der Technologie erreichen wollen, sonst werden sich die Entwickler in einer Endlosschleife mit verrückten Ideen beschäftigen", meint Scott Castle, Chief Strategy Officer beim Analytics-Spezialisten Sisense. Er fügt hinzu: "CIOs müssen strategisch filtern, sonst werden sie zu Willy Wonka in der Schokoladenfabrik."

Roy Ben-Alta, ausgewiesener Analytics-Experte und ehemals Director of AI bei Meta, weiß, wie CIOs das idealerweise anstellen: "Der beste Weg, sich anzunähern, ist, vom Kunden aus rückwärtszudenken: Fragen Sie sich, welches Problem gelöst werden soll. Der Haken an der Sache: Wenn Sie in die Technologie einsteigen wollen, müssen Sie erst einmal eine Menge Geld investieren. Das Modelltraining erfordert eine Menge GPUs und für jeden Use Case sind bestimmte Datenquellen erforderlich. Sind diese nicht verfügbar, müssen Sie ermitteln, wie viel es kosten würde, sie zu beschaffen."

Das leistungsstärkste Element von GPT-3 sei seine Kodierung, also seine Schnittstelle, so Ben-Alta. Aber für Unternehmen, die versuchten, darauf aufzubauen, liege das Problem nicht dort - sondern bei den Daten: "Ein Analytics-Modell steht und fällt mit der Datenqualität. Die Datenintegration ist dabei immer ein Problem und stellt die größte Herausforderung dar. Zudem entwickeln sich Datenformat und -Art ständig weiter."

Laut Waqaas Al-Siddiq, CEO beim Healthcare-Unternehmen Biotricity, entsteht ein Großteil der Komplexität darüber hinaus bei der Interaktion mit den Daten. Der Manager gibt ein anschauliches Beispiel dafür, wie Wechselwirkungen Sprachmodelle untergraben können: "Alles, was eine Spitze oder eine Anomalie ist - wie drei oder vier Standardabweichungen vom Mittelwert - wird große Schwierigkeiten verursachen. Je mehr Variablen, desto schwieriger wird es, weil man mehr Daten benötigt. Da es sich aber um Anomalien handelt, werden Sie nicht in der Lage sein, genügend Daten zu liefern."

Träumen ist erlaubt, aber...

Der Einsatz von GPT-Sprachmodellen birgt enormes Potenzial - allerdings sollte man sich dabei nicht von Emotionen leiten lassen. Das empfiehlt auch Jay Chakraborty, Partner beim Beratungsunternehmen PwC: "Die Tech-Gesellschaft ist stark von einer 'Fear of Missing Out' geprägt, der Angst, etwas zu verpassen. Es ist eine Art neue Version von Goldrausch, Dotcom-Euphorie und Y2K. Ich kann CIOs nur dazu ermutigen, zu experimentieren und das Business mit Ideen und Use Cases zu pushen."

Auch der Forrester-Analyst Rowan Curran ist vom großen Potenzial von GPT-3 überzeugt. Er mahnt jedoch, dass Führungskräfte die Technologie als eine weitere, strategische Anstrengung betrachten sollten: "Treten Sie erst einmal einen Schritt zurück und fragen Sie sich, wo Sie die Technologie tatsächlich einsetzen und sich ihre Stärken zunutze machen können. GPT-3 bietet potenziell fantastische Innovationsmöglichkeiten. Dabei ist es jedoch unabdingbar, sich auf das zu konzentrieren, was kurzfristig praktikabel ist und sich darüber zu informieren, was überhaupt möglich ist. Meiner Meinung nach gibt es dabei klare Grenzen: GPT-3-Chatbots für kundenorientierte Apps einzusetzen, ist in meinen Augen zutiefst unverantwortlich."

Große Sprachmodelle sind nichts Neues, das menschenähnliche Frontend, das mit GPT-3 Einzug hält, jedoch sehr wohl. Das hat viele - nicht nur innerhalb der IT-Welt - zum Träumen angeregt. Das ist per se nicht Schlechtes, allerdings sollten Sie sich wieder in der Realität befinden, wenn Sie Investitionsentscheidungen treffen und Projektausrichtungen festlegen. (fm)

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation Computerworld.