Produktqualität

Wer nicht simuliert, verliert!

Kommentar  28.04.2020
Von 
Andreas Slogar ist Autor des laCoCa-Modells für agile Organisationen, lacoca.org, des Buches "Die agile Organisation", Hanser Verlag und Gründer des BlueTukser.com- Expertise-Netzwerks.
Auch Dienstleister sollten erkennen, dass Simulationen einen wichtigen Beitrag zur Verbessserung der Produktqulität liefern.

Kennen Sie das? Monatelang wird an einem Konzept gefeilt, Dutzende Mitarbeiter werden zusätzlich zu ihrem Alltagsjob durch tagelange Workshops gequält. Ihr Wissen wird aus ihnen "herausgequetscht", sie werden mit modernsten Kreativitätsmethoden traktiert und in Tagungshotels gemästet - dabei werden Unsummen für Innovationsmanagementberatung ausgegeben.

Mancher Kunde der IT-Branche wünscht sich, dass die Produkte via Simulationen so gut getestet werden wie es in anderen Branchen - etwa dem Flugzeubau - selbstverständlich ist.
Mancher Kunde der IT-Branche wünscht sich, dass die Produkte via Simulationen so gut getestet werden wie es in anderen Branchen - etwa dem Flugzeubau - selbstverständlich ist.
Foto: Mario Hagen - shutterstock.com

Und dann noch die Lenkungskreisdebatten über die einzig richtige Lösung! Jeder Teilnehmer ein Experte und Profi, der die einzig wahre Antwort, die noch niemand zuvor kannte, auf hochgradig komplexe Fragen für sich in Anspruch nimmt. Und dann? Was für ein Desaster! Die Umsetzung unbezahlbar, die Qualität der Ergebnisse eine einzige Enttäuschung. Der Zeitpunkt der Fertigstellung: in weite Ferne gerückt. Die Kunden verprellt und dem Wettbewerb geschenkt. Und wieder niemand zu finden, der die Verantwortung übernimmt!

Ein internationales Schicksal

Nicht ohne Grund eint diese Erfahrung weltweit fast alle Unternehmen und Organisationen in allen Sprachen und Kulturen. Seit sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass dieser Zustand untragbar ist, sind iterative Vorgehensmodelle auf dem Vormarsch. Die Entwicklung überschaubarer Lösungsschritte für die Überwindung neuer Probleme und die Entwicklung neuer Produkte setzen sich immer weiter durch und haben Nervenzusammenbrüche und Fehlinvestitionen ein wenig gemildert. Und doch überwiegt die Zahl der gescheiterten Projekte gegenüber den erfolgreichen - nicht nur in der IT.

Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist ein Phänomen, das vornehmlich in Wirtschaftsunternehmen der Dienstleistungsbranchen beobachtet werden kann: Ein erarbeitetes Konzept geht direkt in die Umsetzung über. Dieser Sprung ins kalte Wasser wird auch bei der erwähnten inkrementellen oder agilen Vorgehensweise beibehalten. Es wird zwar nicht mehr jedes Detail des zukünftigen Produktes vollständig theoretisch definiert, aber der direkte Wechsel vom Konzept zur Realisierung bleibt unverändert.

Was machen andere anders?

Richten wir unseren Blick einmal auf andere Branchen, speziell auf die Fertigungsindustrie. Ob Autohersteller oder Flugzeugbauer: Unternehmen, die physische Produkte herstellen, nutzen verschiedene Elemente, bevor sie in die Produktion wechseln.

Am Anfang steht die Erstellung eines Prototyps. Wer sich mit der Design-Thinking-Methode auseinandergesetzt hat, weiß, dass am Ende eines kreativen Prozesses die Erstellung eines Prototyps steht. Dieser repräsentiert ein zukünftiges Produkt in möglichst anschaulicher und haptischer Form. In der Fertigungsindustrie sind Prototypen gang und gäbe. Jeder kennt sie sicherlich von Automobilmessen, auf denen Fahrzeughersteller ihre kreativen, aber meist nicht nutzbaren Ideen für zukünftige Fahrzeuge vorstellen. Der ausgestellte Prototyp ist nicht der einzige, bevor das eigentliche Massenprodukt hergestellt wird.

Oder werfen wir einen Blick auf die Medizin: Würden Sie sich einem Arzt anvertrauen, der die Abläufe und Techniken - beispielsweise einer Herzklappenimplantierung - vor der Operation nicht ausgiebig trainiert und simuliert hat? Es ist selbstverständlich, dass ein Chirurg nicht nur das theoretische Wissen besitzen muss, um eine Operation durchführen zu können. Er muss auch die handwerklichen Fähigkeiten und Fertigkeiten dazu entwickelt haben. Dieser Übergang von der Theorie und der Konzeption einer Herzoperation zur praktischen Umsetzung ist einleuchtend. Bevor der Arzt sein "Produkt" herstellt (wobei in diesem Beispiel jedes Produkt auch noch ein Unikat ist) simuliert er jeden einzelnen Schritt. Im Rahmen der Simulation wird auch durchgespielt, was im Falle eintretender Risiken und nicht vorhersehbarer Komplikationen zu tun ist.

Nicht anders bereiten sich Flugzeugpiloten und selbst Rennfahrer auf den operativen Umsetzungsprozess ihrer Leistung vor. Ob es sich um den Flug nach Sydney oder das nächste Formel-1-Rennen handelt: Der verwertbare Verlauf und jede Eventualität einer Störung werden durch Simulationen nachgestellt. Rennwagen- wie auch Flugzeugpiloten führen diesen Vorgang heute in computergenerierten Nachbauten ihrer Fortbewegungsmittel durch. Zusätzlich gehen sie im Geiste den Strecken- oder Flugverlauf durch. Sie wiederholen die üblichen und die außergewöhnlichen Ereignisse wieder und wieder, damit sie in der bevorstehenden Leistungsphase so handlungs- und reaktionsfähig wie möglich sind.

Die Kundenperspektive entscheidet

In Unternehmen der Dienstleistungsbranchen haben sich vergleichbare Vorgehensweisen zu ganzheitlichen Simulationen bisher nicht umfassend etablieren können. Einzelne Werkzeuge wie beispielsweise Marktstudien und Zielkundenbefragungen oder die Entwicklung von Personas werden durchaus intensiv, aber fragmentiert eingesetzt. Die Ergebnisse von Befragungen sollen potenzielle Kundengruppen repräsentieren und dabei helfen, Kundenanforderungen an die eigenen Geschäftsprozesse und Leistungen nachvollziehbar zu machen.

Diese Teilaspekte einer Simulation sind überwiegend in der Marktforschung, im Marketing, im Innovationsmanagement oder in der Softwareentwicklung anzutreffen. Leider bleiben sie oft auf diese Bereiche limitiert und werden isoliert vom restlichen Geschehen im Unternehmen genutzt. Die Interaktion mit dem Kunden findet aber nicht zwischen ihm und der Marketingabteilung alleine statt. Eine Vielzahl primärer und sekundärer Kontaktpunkte sowie Ansprechpartner ist für die Interaktion nötig.

Schaubild zur Vielfalt und Vielzahl von Interaktionspunkten
Schaubild zur Vielfalt und Vielzahl von Interaktionspunkten
Foto: Andreas Slogar

Im Lebenszyklus einer Beziehung zwischen einer Bank und ihrem Kunden beispielsweise sind die Interaktionsereignisse vielfältig. Die Eröffnung eines Girokontos, die Anfrage eines Baudarlehens oder die Anlage eines Wertpapierdepots sind Beispiele für die Vielfalt der Geschäftsvorfälle zwischen den beiden Parteien. Aus der Sicht des Kunden findet die Interaktion mit seiner Bank statt. Aus der Sicht der Bank findet die Interaktion mit den unterschiedlichsten Bereichen und Abteilungen des Unternehmens und dem Kunden statt. Die Funktion und Nutzung eines Produkts oder einer isolierten Leistung für einen Kunden ist eine unzulässig limitierte Sicht auf das Interaktionsspektrum und eine riskante Reduktion von Komplexität.

Interdisziplinäre Simulation in 6 Schritten

Eine ganze Reihe von Konsequenzen und Schlüssen können aus der beschriebenen Situation abgeleitet werden. Die relevantesten sind:

  • Simulationen von Produkten und Leistungen sind auch in der Dienstleistungsbranche notwendig.

  • Simulationen von Leistungs- und Produktinteraktionen müssen bereichsübergreifend und entlang der Geschäftsvorfälle durchgeführt werden.

  • Simulationen müssen von interdisziplinären Expertengruppen durchgeführt werden.

Um interdisziplinäre Simulationen in Expertenrunden und entlang von Geschäftsvorfällen durchzuführen, sind die folgenden sechs Schritte besonders wirksam:

  1. Definition von Personas, die von allen beteiligten Geschäftsbereichen gleichermaßen verstanden werden

  2. Entwicklung von Customer Journey Maps, die Geschäftsprozesse und Geschäftsvorfälle bereits übergreifend abbilden

  3. Auswahl eines geeigneten Simulationsverfahrens (z. B. Rollenspiel, narrative Beschreibung von Anwendungs- oder Interaktionsfällen, Reflexion von Erfahrungsberichten)

  4. Simulation eines Geschäftsvorfalls über den gesamten Lebenszyklus der Kundeninteraktion

  5. Bewertung der Simulationsergebnisse und relative Priorisierung der identifizierten Entwicklungsmaßnahmen entlang der erwarteten Effekte

  6. kontinuierliche Wiederholung der Simulation

Die sechs Schritte wirkungsvoller Simulation bauen auf bestehendem Wissen zu Innovations- und Produktentwicklungsprozessen auf und nutzen etablierte Werkzeuge wie die Entwicklung einer Persona oder die Customer Journey Map. Die wesentliche Ergänzung besteht darin, sie nicht nur für die Analyse und Spezifikation von Kundenanforderungen zu nutzen.

Durch die Verwendung als Grundlage zur Simulation der Wirkungsweise zukünftiger Produkte oder Dienstleistungen werden zusätzlich die Konsistenz der geplanten Entwicklung, ihre Qualität und das Risikopotential möglicher Fehlentwicklungen übergreifend betrachtet. Ganz nebenbei verbessern Simulationen auch die Kommunikation und die Kooperation der beteiligten Experten, da sie zwangsläufig ein interdisziplinäres Verständnis von Geschäftsprozessen und hinausinternen Abläufen gewinnen. (hk)