Interview mit Jan Brecht, CIO der adidas Gruppe

Wenn der Endkunde zum Kunden der Enterprise IT wird

19.07.2013
Von 
Christoph Witte arbeitet als Publizist, Sprecher und Berater. 2009 gründete er mit Wittcomm eine Agentur für IT /Publishing/Kommunikation. Dort bündelt er seine Aktivitäten als Autor, Blogger, Sprecher, PR- und Kommunikationsberater. Witte hat zwei Bücher zu strategischen IT-Themen veröffentlicht und schreibt regelmäßig Beiträge für die IT- und Wirtschaftspresse. Davor arbeitete er als Chefredakteur und Herausgeber für die Computerwoche. Außerdem ist Witte Mitbegründer des CIO Magazins, als dessen Herausgeber er bis 2006 ebenfalls fungierte.
Jan Brecht, CIO der adidas Gruppe, erklärt im Gespräch mit IT-Rebellen, wie sich die Aufgaben der Enterprise IT verändern und wie einer der weltgrößten Sportartikelhersteller mit den zum Teil fundamentalen Verschiebungen umgeht.

Welchen Auftrag hat die IT in der adidas Gruppe?

Brecht: Die Rolle der IT hat sich geändert. Während wir vor Jahren noch rein der technologischer Integrator waren, stehen wir heute im Zentrum vieler neuer Geschäftsmodelle mit dem Auftrag , das Unternehmen näher an den Endkunden zu bringen. Die Sozialen Medien, Interaktivität, eCommerce oder Digitales Marketing haben die Konsumlandschaft komplett verändert und somit auch die Anforderungen an die IT.

Jan Brecht, CIO der adidas Gruppe
Jan Brecht, CIO der adidas Gruppe
Foto: adidas Gruppe

Früher haben wir ausschließlich interne Mitarbeiter und Partner mit der IT betreut, heute stehen wir zunehmend auch im direkten Dialogmit unseren Endkunden, weil sie unsere IT-Systeme und Websites nutzen. So wird der Endkunde des Unternehmens zum Kunden der Enterprise IT.

Endkunde als IT-Kunde? Fordert das ihre Unternehmensleitung explizit von Ihnen oder interpretieren Sie die Unternehmensstrategie entsprechend?

Brecht: Das ist sehr explizit. Ich bin kein großer Anhänger von Vision- und Mission-Statements, aber trotzdem bemühen wir uns, unseren Auftrag in einem Satz zu formulieren. Dieser Satz lautet: "Building adigital eco system for the enthusiastic consumer and the empowered employee". Der Enthusiasmus der Kunden bezieht sich dabei natürlich nicht auf die IT, sondern auf unsere Produkte. Die Mitarbeiter betreuen wir natürlich schon lange, aber das Durchschnittsalter liegt heute bei knapp 30 Jahren. Und die jungen Leute, die wir heute einstellen, haben natürlich ganz andere Anforderungen an die IT als die, die vor 20 Jahren ins Unternehmen kamen. Die berühmte Generation Y wird sicher nicht mit den Standard-IT-Werkzeugen zufrieden sein.

IT-Rebellen.de

Das Interview mit Jan Brecht veröffentlicht die Computerwoche mit freundlicher Genehmigung von IT-Rebellen.de . Dort finden Sie auch ein ausführliches Portrait des adidas Group CIO. Das vom ehemaligen COMPUTERWOCHE-Herausgeber Christoph Witte betriebene Blog beschäftigt sich mit der neuen Rolle der Enterprise-IT in Unternehmen, die zunehmend als Impulsgeber für geschäftskritische Innovationsprozesse gefordert ist. Das Blog wird finanziell unterstützt von der IBM Software Group.

Was bedeutet das für die IT-Governance? Wie stimmen Sie sich zum Beispiel mit dem Vorstand ab, damit die IT früh genug die richtigen Impulse bekommt, um zum Beispiel auf Veränderungen bei den Standorten, der Produktrücknahme etc. richtig zu reagieren?

Brecht: Meine globale IT Organisation ist entlang der Geschäftsfelder strukturiert, zum Beispiel Retail. Es ist essentiell und ich lege persönlich größten Wert darauf, dass der jeweilige IT-Verantwortliche vollwertiges Mitglied des Managementteams seines Geschäftsfeldes ist. Mein Retail-IT-Verantwortlicher gehört zu 100 Prozent dem Retail-Managementteam an. Damit ist er sehr nah am Geschäft, berichtet aber an mich. Ich wiederum gehöre dem erweiterten Vorstand an. Die Verzahnung meiner IT Organisation mit Vorstand und Business unterstreicht unsere Nähe zu beispielsweise Vertrieb und Marketing.

Das unterstreicht die Bedeutung der IT in einem Retail-Unternehmen.

Brecht: Auf der Retailseite, aber genauso stark auf der Marketingseite.

Durch die E-Commerce-Komponente?

Brecht: Ja dadurch, aber das gilt auch in den anderen Marketingbereichen wie Kundenansprache, Research und Agenturarbeit. Nicht ohne Grund verändern sich einige Marketingagenturen sehr stark in Richtung Systemintegratoren. Sie haben verstanden, dass IT und Marketing zusammenkommen müssen. Das gilt für ein Marketing getriebenes Unternehmen wie die adidas Gruppe natürlich auch. Wir verkaufen ja nicht nur Schuhe und T-Shirts, das wäre noch relativ einfach. Wir verkaufen das, wofür unsere Marken stehen. Marketing und Retail sind unsere Kernkompetenzen.

Seit der Fußballweltmeisterschaft 2010 geben wir übrigens mehr Geld für digitales Marketing aus als für Marketing in TV und Print zusammen genommen. Die Chance, im digitalen Bereich - also via Web oder Facebook - mit dem Kunden direkt zu interagieren, ist für die Consumer-Goods-Industrie gigantisch. Wir können auf diese Weise nicht nur Botschaften versenden, sondern bekommen direktes Feedback unserer Kunden. Wenn wir dieses Feedback systematisch auswerten, wissen wir ziemlich genau, wie unsere Produkte angenommen werden.

Woran werden Sie gemessen? Sind Sie für Umsatz verantwortlich, dafür dass die Systeme funktionieren, die Daten ausgewertet werden? Werden Sie am Geschäftserfolg gemessen?

Brecht: Ich bin stärker auf Profit und Umsatz incentiviert als auf IT-Stabilität. Da ich früher in der Autoindustrie gearbeitet habe, bin ich ein Anhänger des visuellen Managements. Deshalb haben wir in den IT-Räumen große Monitore angebracht, aber die zeigen keine Systemverfügbarkeiten oder das Antwortverhalten von Servern, sondern die aktuellen E-Commerce-Umsätze, Retail -Umsätze in Echtzeit und andere ähnliche Daten. Ich kann meine Incentivierung nicht auf jeden Einzelnen herunterbrechen, aber ich möchte, dass alle Mitarbeiter eine Umsatzkurve sehen und keine Server-Stabilitätskurve.

Sie haben in der Automobilindustrie gearbeitet, als dort für die IT das Endkundengeschäft keine große Rolle spielte. Wie sind sie der Entwicklungsherausforderung für sich persönlich begegnet?

Brecht: Ich habe erst einmal 3 Tage Turnschuhe in einem unserer Einzelhandelsgeschäfte verkauft. Ich habe mir intensiv angeschaut, was IT und Marketing gemeinsam für ein Unternehmen bewegen können. Das habe ich zu meinem persönlichen Steckenpferd gemacht. Inzwischen haben wir in der adidas Gruppe gemischte IT-Marketing-Teams, die sowohl in die IT als auch ins Marketing berichten.

In diesen Teams erledigt allerdings nicht ein Teil IT-Aufgaben und ein anderer Teil nimmt sich der Marketing-Aufgaben an. Das sind homogene Teams, die tatsächlich beides machen. Ein Beispiel ist das Thema Social Media Listening, bei dem wirunter anderem die Kommunikation bezüglich unserer Marken in den Sozialen Medien untersuchen. Da hat die IT verstanden, dass sie das nicht allein kann, weil sie nicht weiß, welche Fragen zu stellen sind. Das Business andererseits hat verstanden, dass sie diese Analyse technisch nicht oder nur zu einem sehr viel höheren Preis über Marketingagenturen realisieren kann.

Seit wann gehen Sie in diese Richtung?

Brecht: Ich bin erst seit 2009 dabei. Ich glaube, dass die IT an dieser Stelle für ein Unternehmen wie die adidas Gruppe, die eine sehr starke Kernkompetenz im Marketing hat, sehr viel bewirken kann. Wir bearbeiten natürlich auch Prozessoptimierung und andere klassische IT-Aufgabenfelder, aber meinen persönlichen Schwerpunkt lege ich woanders.

Wie stellt man dann die Weichen um? Da wird doch Government ein sehr wichtiges Instrument?

Brecht: Neben dem Chief-Governance-Mensch, der Sie als CIO ohnehin sind, müssen Sie auch der oberste Marketing-Mensch in der IT sein. Sie brauchen gute Beispiele, um den Chief Marketing Officer zu überzeugen. Der sieht die IT in Sachen Marketingunterstützung ja zunächst nicht als erste Adresse und fordert erst einmal: Zeigt mal, was ihr könnt. Gerade im Social Media Listening Bereich hatte er Fragen, die seine Agenturen für sehr viel Geld mehr schlecht als recht beantwortet haben. Wir konnten das innerhalb von zwei Stunden erledigen. Das generiert natürlich Interesse und dann versucht man erste gemeinsame Projekte. Aber man muss eben auch liefern.

Wurde in Bezug auf die sozialen Medien im Gesamtunternehmen auch Druck aufgebaut?

Brecht: Mit ca. 65 Millionen Facebook-Fans ist die Marke adidas in den Sozialen Medien stark aufgestellt. Natürlich kommen Fragen seitens des Vorstandes was das für uns bedeutet.In der jetztigen Phase ist es schwer, die Ergebnisse des Social Media Listening in Business-KPIs zu übersetzen. Ich kenne auch kein Unternehmen, das das bisher konsistent geschafft hat. Aber wir denken gerade mit Leuten aus dem Marketing, der IT und dem Finanzbereich darüber nach, wie man das bewerten kann und was man investieren muss. Unternehmen, die es wirklich als erste schaffen, traditionelles Print- und TV-Marketing in ein digitales, interaktives Marketing zu übersetzen, werden sicher ein paar Jahre lang ihre Branchen dominieren. Wir sind noch nicht am Ziel, aber wir arbeiten daran.

Sie hören also ihren Kunden zu. Fließt dieses Feedback auch bereits in die Produktentwicklung ein?

Brecht: Das ist sehr stark bei unseren digitalen Services der Fall, zum Beispiel bei miCoach. Da hören wir genau hin, was die Community vorschlägt. Diese Anregungen bauen wir auch in den Service ein. Diese digitalen Produkte werfen natürlich auch neue Fragen auf. Bei unseren Fußballschuhen mit Chips, die die Trainings- oder Spielleistung erfassen, taucht schnell die Frage auf, wem gehören die Daten? Wer darf was damit machen? Wer darf sie vermarkten?

Dann kann ich mir vorstellen, dass Kundendaten und ihre Auswertung bei der adidas Gruppe ein großes Thema sind.

Brecht: Absolut. Mit allen Herausforderungen die damit verbunden sind. Datenschutz ist ein Riesenthema. Das ist nicht schwarz oder weiß, es gibt viele Graubereiche. Die Gesetze sind in jedem Land anders. Wir haben uns entschieden, nur das zu machen, was in jedem Fall datenschutzrechtlich in Ordnung ist. Wir sehen es als Asset für die Marke, wenn unsere Kunden uns datenschutzrechtlich absolut vertrauen können.

Wie steuert man neue Technologien ein in ein Unternehmen wie die adidas Gruppe? Die sind schließlich in manchen Bereichen recht kurzlebig. Da kann man es sich doch als IT nicht leisten, erst ein halbes Jahr zu bewerten und dann erst zu entscheiden, ob man ein Smartphone unterstützt oder nicht. Die klassische IT läuft ja in viel längeren Wellen - wenn man zum Beipiel die Release-Wechsel in der SAP-Welt betrachtet.

Brecht: Das ist wirklich eine Herausforderung, auf die ich noch keine engültige Antworten habe, ich kann Ihnen aber von unserem Ansatz erzählen. Wir nennen das "IT of 2 Speeds". Das drückt Folgendes aus: Die Backbone-Systeme wie die großen ERP-Lösungen, Netzwerke etc. brauchen wir unbedingt. Wenn die gut funktionieren sollen, müssen sie vorsichtig und über lange Zeiträume hinweg weiterentwickelt werden. Auf der anderen Seite haben wir ein kampagnengetriebenes Business, wo Sie zum Teil sehr kurzfristige Lösungen zur Verfügung stellen müssen und danach nicht mehr benötigen.

Das unter einen Hut zu bringen, ist auf der einen Seite eine große technische Herausforderung, auf der anderen Seite ist es aber vielleicht noch schwieriger, die richtigen Skills dafür zu bekommen. Es geht eigentlich nur, wenn Sie für die schnelllebige Kampagnen-IT andere Leute beschäftigen als im Backbone. Aber schon im Mittleren Managementbrauche ich beide Skills in einer Person. Die meisten ITler sind ja dazu erzogen, in Stabilität und Skalierbarkeit zu denken, in der kampagnenorientierten IT gilt dagegen fail often and fail early. Daraus lernt man, und wenn man die Fehler früh entdeckt, wird's nicht so teuer.

Ich betrachte Skillmanagement in den nächsten zwei bis drei Jahren als eine meiner größten Herausforderungen. Meine Aufgabe ist es, die Köpfe so zu bewegen, dass sie zwar Stabilität und Skalierbarkeit nicht verlernen, aber im Bereich der flexiblen IT einen Gang höher schalten können.

Und technisch?

Brecht: Technisch gesehen muss man den Backbone-Layer mit APIs ausstatten, die es uns erlauben die endkundenorientierten Services anzudocken, ohne dass unser Backbone gefährdet wird. Das ist eine architektonische Frage. Und wenn Sie sehr erfolgreiche Services wie Flickr, Facebook oder Twitter anschauen, dann stammen 85 Prozent der Werkzeuge und Plugins von Drittfirmen oder sogar Nutzern. Trotzdem laufen diese Plattformen stabil. Das Geheimnis liegt in den öffentlichen APIs. Unser Ziel ist es auf diese Backbones schnelllebige Services aufzusetzen, die nahtlos miteinander kommunizieren.

Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist die "name the ball" Kamapgne für die Fußball Weltmeisterschaft 2014 im letzten Jahr. Aus technischer Sicht funktioniert so ein online Vorschlags- und Abstimmungsprozess nur durch die Datenfütterung des Kampagnen-Modul aus dem Backbone. Gleichzeitig darf aber mein Backbone durch die Kommunikation mit dem Modul nicht korrumpiert oder sonst wie beschädigt werden. Auch die Entwicklung läuft unterschiedlich. Im Backbone planen Sie zuerst, entwickeln dann, testen und implementieren.

Im Bereich Mobile Apps kommen wir dagegen viel schneller zum Ziel, in dem wir zunächst drei Teams das Gleiche entwickeln lassen und dann das beste Ergebnis weiterverfolgen. Unser Architekturteam ist zur Zeit dabei, Kriterien zu entwickeln, mit denen wir bestimmen können, welche Art der Entwicklung wir für welche Projekte verwenden. Wir haben das noch nicht ganz erledigt, aber es schälen sich erste Ergebnisse heraus.

Zum Beispiel: je tiefer integriert werden muss, desto eher muss das Projekt klassisch entwickelt werden. Ein anderes Kriterium ist die geografische Verbreitung. Etwas, das Sie in jedem Land brauchen, ist wahrscheinlich besser im Backbone angesiedelt; etwas, das Sie nur für ein Event benötigen, sollte wahrscheinlich eher im agile Layer angesiedelt werden. So tasten wir uns gerade an die Kriterien heran. Die zweite Frage ist noch heikler: Wie müssen Backbone und Agile Layer gekoppelt werden? Also, wie müssen die Schnittstellen technisch ausgelegt werden? Das können uns die Anbieter von Backbone-Lösungen bisher noch nicht bieten. Leider.

Wie wichtig ist in Ihrer IT das Thema Innovation?

Brecht: Sehr wichtig und noch haben wir das Potenzial nicht voll ausgeschöpft. Als ich zur adidas Gruppe kam, hatten wir keinen Innovationsprozess und und wenig Innovationen aus der IT heraus. Wir haben schließlich einen fünf stufigen Innovationsfunnel übernommen, den auch unsere Produktdesigner nutzen. Der reicht von listening über prototype, concept bis hin zu sell and implement. Das haben wir mit klaren KPIs hinterlegt. Wir haben uns 15 pro Jahr vorgenommen und wollen das bis 2015 auch erreicht haben. Dabei ist genau definiert, was eine Innovation durch IT ist. Damit am Ende des Funnels 15 Innovationen herauskommen, muss man am Anfang mindestens 200 Ideen generieren.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Brecht: Wir haben zum Beispiel für unsere neue junge Marke NEO einen Social Mirror entwickelt. Das ist ein Spiegel mit Kamera und Internetanschluss. Junge Leute können sich im NEO-Store (Zielgruppe 14 - 16jährige) vor den Spiegel stellen, das neue Outfit fotografieren und direkt in ihren Facebook-Account posten. Ihre Freunde können das dann in Echtzeit bewerten. Das hat gigantisch eingeschlagen. Der Aufwand dafür war relativ klein. Innovation muss bei uns immer einen Business-Impact haben. (mhr)