Open-Source-Twitter-Alternative

Was bei Mastodon falsch läuft

Kommentar  23.11.2022
Von 
Matt Asay ist Autor der US-Schwesterpublikation Infoworld.com.
Mastodon – die quelloffene Alternative zu Twitter – vernachlässigt zu Gunsten eines politischen Statements für Dezentralisierung die Customer Experience.
Die quelloffene Twitter-Alternative Mastodon hat ein Customer-Experience-Problem - meint unser Autor.
Die quelloffene Twitter-Alternative Mastodon hat ein Customer-Experience-Problem - meint unser Autor.
Foto: davide bonaldo - shutterstock.com

Twitter - beziehungsweise dessen neuer CEO Elon Musk - bemüht sich tunlichst darum, dass Mastodon in Kürze Twitter ersetzt. Dabei scheinen wir alle in eine alte Falle zu tappen, die insbesondere in der Open-Source-Welt Tradition hat: Der Glaube, dass die Probleme, die Technologie und Open Source aufwerfen, sich durch noch mehr Technologie und Open Source lösen lassen.

Alles quelloffen?

Ich beschäftige mich schon mehr als zwei Jahrzehnte mit Open Source und muss eingestehen: Wir Verfechter der Quelloffenheit bringen oft die unglückliche Angewohnheit mit, Wahlmöglichkeiten der Bequemlichkeit vorzuziehen - und Mastodon schlägt genau in diese Kerbe. Die Twitter-Alternative vermarktet sich selbst als soziales Netzwerk, das "nicht zum Verkauf" steht und untermauert das mit dem Hinweis auf Open Source und seine dezentrale Natur.

Für die meisten Nutzer, die keine Tech- oder Open-Source-Freaks sind, ist das allerdings nicht von Bedeutung. Sie wollen nur twittern - beziehungsweise "tooten". Einige der Kernargumente für Mastodon dürften so gut wie jeden, der kein Hardcore-Open-Source'ler ist, abschrecken. Etwa:

  • "Wenn Sie Mastodon auf Ihrer eigenen Infrastruktur ausrollen, können Sie jedem anderen Mastodon-Server online folgen - niemand außer Ihnen hat die Kontrolle darüber."

  • "Jeder Server erstellt seine eigenen Regeln und Vorschriften, die lokal durchgesetzt werden - und nicht Top-Down wie bei den von Unternehmen gelenkten, sozialen Medien."

Wenn man sich bei Mastodon anmeldet, muss man sich für einen Server entscheiden. Das verwirrt offensichtlich auch erfahrene und technisch versierte Nutzer, wie diverse Twitter-Threads belegen. Alleine die Tatsache, dass hierfür Anleitungen nötig sind, macht den Einführungsprozess von Mastodon zum Fehlschlag:

Auch Biologie-Professor Paul Knoepfler hat Erfahrungen mit Mastodon gesammelt und diese im Rahmen eines Blogbeitrags veröffentlicht. Er kommt dabei zu dem Schluss: "Die dezentrale 'Struktur' macht die Dinge schwerfällig und unübersichtlich."

Mit seiner Verwirrung ist der Wissenschaftler, der es gewohnt sein dürfte, sich in komplexen Systemen und Strukturen zurechtzufinden, nicht allein. So sehr die Mastodon-Befürworter das soziale Netzwerk auch als "Twitter ohne Musk" porträtieren zu versuchen - das ist nicht so. Die Suche funktioniert manchmal serverübergreifend und manchmal nicht, je nach Server und Suche. Es ist unklar, welcher Server für eine bestimmte Person der richtige ist. Der Komfort, später wechseln zu können, ist dabei kein wirklicher Trost. Je mehr die Nutzer über die der Plattform zugrundeliegende Technik nachdenken müssen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie diese nutzen. Und im Fall von Mastodon müssen sie das - bevor sie etwas posten können. Vor allem, seit einige der populären Mastodon-Server unter der Last der neuen Nutzer zusammengebrochen sind.

Natürlich wurde auch Twitter in seinen Anfängen vom "Fail Whale" geplagt, das ist also kein Mastodon-exklusives Problem. Allerdings unterscheidet sich die Art und Weise der Problemlösung, denn jeder Server muss an dieser Stelle in gewisser Weise unabhängig agieren. Die Mastodon-Architekten halten das für ein Feature, es handelt sich aber vielmehr um einen Bug.

Mehr Komfort, bitte!

Im Gegensatz dazu hat sich die Technologie im Allgemeinen weiterentwickelt. Nehmen Sie das Beispiel Cloud: Jahrelang warben Unternehmen wie AWS damit, man müsse sich keine Gedanken mehr über die "undifferenzierte Schwerstarbeit" in Sachen Infrastruktur-Management mehr machen. Entwickler mussten jedoch immer noch ein gewisses Gespür dafür mitbringen, wie viel Speicherplatz sie benötigen oder welche Art von Rechenleistung sie nutzen. Inzwischen geht der Trend bei den Cloud-Hyperscalern klar in Richtung Serverless - nun muss man sich tatsächlich keine Gedanken mehr über die zugrundeliegende Technologie machen: Die Entwickler schreiben ihre Anwendungen, und die Infrastruktur entsteht einfach.

Manche "Freiheitsliebende" sehen Serverless mitunter als eine der schlimmsten Formen von proprietärem Lock-in in der Geschichte der Menschheit. Die Unternehmen scheint das allerdings wenig zu interessieren: Sie konzentrieren sich lieber auf andere Dinge - zum Beispiel Anwendungen bereitzustellen, die sie dabei unterstützen, Kundenanforderungen in einem schwierigen, makroökonomischen Umfeld zu erfüllen.

Zurück zu Twitter und Mastodon: So sehr manche auch die "guten, alten" Twitter-Zeiten idealisieren, die Plattform kommt schon längere Zeit einem Mülleimer gleich, in den vor allem wütende und wegen der persönlichen Distanz entfesselte Menschen ihre Frustrationen absondern.

Wenn Sie glauben, dass Mastodon nun das Gute im Menschen weckt, weil es quelloffen und dezentralisiert ist, haben Sie möglicherweise noch nicht genug Zeit mit der Linux-Kernel-Mailingliste verbracht. Die Utopie der Wahlfreiheit zu feiern, ist der falsche Weg. Wir wollen uns keine Server aussuchen und über die Technik nachdenken, sondern einfach nur kommunizieren. (fm)

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation Infoworld.