Für Sven Engesser ist der Grund für wachsenden Mailverkehr erklärbar: Die Umstellung von gedruckter Post zur E-Mail sei immer noch nicht komplett vollzogen, meint der Professor für Kommunikationswissenschaften der TU Dresden. Und täglich kommen neue E-Mails hinzu, weil Unternehmen und Behörden erst jetzt von analogen auf digitale Medien umstellen.
Teams arbeiten besser ohne Mail
Kommunikation gleicht einem Ökosystem: Einzelne Kanäle wie E-Mail, WhatsApp oder Groupware wie Teams oder Slack sind wie Arten, die sich einen Lebensraum teilen. Kommen neue hinzu, verdrängen sie vielleicht andere. Wer jedoch eine Nische belegt und verteidigt, hält sich dort auch. So wie die Postkarte, die nach wie vor millionenfach aus dem Urlaub oder zu Festtagen geschickt wird.
"In der Kommunikation von Teams ist die E-Mail allerdings auf dem Rückzug", sagt Erik Boos, Geschäftsführer von Snapview, einer Münchner Softwareschmiede. Mittels E-Mail lasse sich in einem Team deutlich umständlicher kontextbezogen kommunizieren, so der Experte. Tapfer halte sie sich hingegen in der Kundenansprache, in der sich andere Tools schwertun.
Screensharing vereinfacht Prozesse
Stehen allerdings erklärungsbedürftige Gespräche, wie eine komplexe Beratung an, kommen vielschichtige Werkzeuge wie Videokommunikation, angereichert mit Bildschirmübertragung, ins Spiel. "Der Trend schwappt aus dem Privaten in die Arbeitswelt", weiß Boos, der seit 15 Jahren Kommunikationstools entwickelt und in der Finanzwelt etabliert. Dort lösen Videochats die E-Mails allerdings nicht ab, sondern kommen ergänzend zum persönlichen Gespräch im Büro oder der Filiale hinzu.
Als eine Weiterentwicklung des E-Mail-Verkehrs sehen Experten das Screensharing an. Bei der Bildschirmübertragung können mehrere Personen an verschiedenen Orten gleiche Inhalte sehen. Weil Änderungen sofort sichtbar sind, sparen sich die Teilnehmer das hin- und her schicken von E-Mails mit aktualisierten Versionen. Erfolgreich ist die E-Mail nicht, wenn es um schnellen Abgleich geht, sondern laut Engesser erfüllt sie ihre Funktion viel mehr als eine Art Visitenkarte im Internet. Selbst Gruppenprogramme wie Microsoft Teams wollen E-Mail-Adressen, damit Teilnehmer überhaupt mitmachen können.
Quantensprung erforderlich
Das trägt im Übrigen zum seit Jahren steigenden E-Mailaufkommen bei. Online-Shops, Finanzdienstleister und Soziale Medien schicken laut Statista immer mehr Bestätigungsmails und Newsletter. Und auch formale Anfragen bei Ämtern oder Betrieben werden eine dauerhafte Nische für die E-Mail bleiben. "Jedenfalls so lange bis Behörden einen echten Quantensprung in Richtung Digitalisierung machen", meint Boos, der diesbezüglich auf eine aktuelle Entwicklung in der Medizin hinweist. Die Arztvisite via Kamera nimmt in ländlichen Gegenden allmählich Fahrt auf. So erprobt ein von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe gefördertes Projekt etwa die elektronische Visite (elVi). Seit vorigem Jahr stellt der Bund mehr als 300 Millionen Euro für die Digitalisierung von Pflegeeinrichtungen bereit. Damit können dringend benötigte Telematik-Infrastrukturen und digitaler Datenaustausch locker aufgebaut werden.
Doch an der E-Mail hängen viele Emotionen, wie Engesser verdeutlicht. Wer mit ihr sozialisiert wurde, wessen E-Mailadresse vielleicht den eigenen Namen trägt, dem ist sie womöglich Teil der eigenen Identität geworden. Für Millenials und später Geborene sei das sicher weniger wichtig. Doch für viele nimmt die E-Mail heute schon die Rolle ein, die früher ein Brief innehatte. Im Gegensatz dazu ist ein Post auf einer Team-Seite geradezu unverbindlich. E-Mails genießen eine höhere Formalität und wirken vertrauensvoll. Ihr Signal: Jetzt kommt eine wichtige Botschaft.
Umständlich: mehrere Dienste parallel
In Zukunft prägt den beruflichen Alltag daher wohl nicht ein einzelner Kanal, sondern mehrere. Abhängig ist das von sozialen und ökonomischen Faktoren. Wer Prozesse optimiert, nutzt das, was die meisten Kollegen nutzen und Kunden verlangen. Je mehr parallele Angebote es gibt, desto unübersichtlicher wird die Kommunikation. Drei bis vier Dienste nebeneinander sind ineffizienter. "Wem es gelingt, einen Standard zu etablieren, der gewinnt", weiß Boos, der das mit Videoberatungen geschafft hat.