Glasses vs. Reality

Warum Apple zwei Smartglass-Plattformen aufbaut

Kommentar  31.08.2022
Von 
Mike Elgan schreibt als Kolumnist für unsere US-Schwesterpublikation Computerworld und weitere Tech-Portale.
Der erste Apple-Computer fürs Gesicht wird sich nicht an Consumer, sondern an Entwickler richten. Dann folgt die Revolution.
Um Apples AR-, beziehungsweise Smart-Glasses-Pläne ranken sich schon seit Jahren zahlreiche Gerüchte.
Um Apples AR-, beziehungsweise Smart-Glasses-Pläne ranken sich schon seit Jahren zahlreiche Gerüchte.
Foto: Jon Prosser / Front Page Tech

Eine Revolution steht bevor - und jeder ahnt inzwischen, dass sie auf Headsets beziehungsweise Brillen fußen wird. Aber wie genau gestaltet sich die revolutionäre Realität in der Praxis? Ist Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR), Extended Reality (ER) oder Mixed Reality (XR) das nächste große Ding?

Meta-CEO Mark Zuckerberg änderte den Namen seines Unternehmens von "Facebook" in "Meta" und überzeugte dann auf wundersame Weise die Medien davon, alle oben genannten "Realitäten" seien das Metaverse. Dieses Marketingwunder führte auch dazu, dass viele Zuckerberg als den Leader - oder zumindest den Vordenker - dieses neuen Trends ansahen. Umso schockierter wurden erste Screenshots des Meta VR-Games "Horizon Worlds" aufgenommen: Statt wie die Zukunft fühlte man sich vielmehr an die 1990er Jahre erinnert:

Der Meta-CEO versuchte sich später auf Instagram zu erklären:

Kurzum: Zuckerberg meint, VR sei die Zukunft, Apple hält AR für zukunftsweisend. Was die Sache noch verwirrender macht: Apple - die Mainstream-Maschine unter den großen Hardware-Plattformen - wird voraussichtlich 2023 ein VR-Produkt auf den Markt bringen, das für AR verwendet werden kann.

Revolutionär - oder nicht?

Es gibt so viel Gerüchte, wirre Gedanken und Hype um das so genannte Metaverse - dass es eine gute Idee ist, kurz innezuhalten und sich zu vergegenwärtigen:

  • Es gibt kein Metaverse und es wird auch nie eines geben. Eine gemeinsame, offene Version des Internets mit virtueller und erweiterter Realität ist ein Wunschtraum: Die Zeiten, in denen sich Branchen, Technologieunternehmen und Regierungen auf eine einzige, gemeinsame Plattform einigen konnten, sind längst vorbei.

  • Die grundlegenden Endgeräte für Virtual- und Augmented-Reality-Erlebnisse lassen sich in drei Kategorien einteilen: 1) sperrige Virtual-Reality-Brillen für den Innenbereich; 2) sperrige Augmented-Reality-Brillen für den Innenbereich; 3) alltagstaugliche Augmented-Reality-Brillen, die wie normale Brillen aussehen.

  • Von diesen drei Kategorien werden die beiden erstgenannten aufregende, qualitativ hochwertige Erlebnisse bieten. Dennoch werden sie immer relativ stark der Nische verhaftet bleiben. Ähnlich wie Videospielkonsolen oder Drohnen sind sie nicht zentral für das Leben der meisten Menschen.

  • Die dritte Kategorie - AR-Brillen, die den ganzen Tag und in allen sozialen Situationen getragen werden können - wird wahrscheinlich irgendwann das Smartphone als zentrales Gerät ablösen. Diese Art von Device wird eine Revolution einleiten und die Art und Weise, wie wir leben, arbeiten und denken, verändern. Ich denke, man kann vorhersagen, dass AR-Brillen innerhalb der nächsten zehn Jahre Smartphones in ihrer zentralen Bedeutung für unsere Arbeit und unser Leben übertrumpfen werden.

Im Folgenden haben wir alles, was wir über Apples Pläne wissen, (basierend auf Quellenberichten, Patenten, Leaks und Code-Analysen) für Sie zusammengestellt:

  • Apple beschäftigt Hunderte von Mitarbeitern, die an zwei separaten Hardware-Plattformen arbeiten, auf denen ein Apple-Betriebssystem namens RealityOS laufen soll. Bei der ersten handelt es sich um ein Headset, bei der zweiten um eine Brille.

  • Das Headset wird voraussichtlich 2023 auf den Markt kommen und ist im Wesentlichen VR-Hardware, die hauptsächlich für AR verwendet werden soll. Konkret könnte das so aussehen, dass eine Kamera die Ansicht der physischen Umgebung des Benutzers einfängt und diese in Echtzeit und mit Audio- und visuellen Informationen anreichert. Apples Killerapplikation für diese Plattform wird meiner Einschätzung nach ein Avatar-basiertes Meeting Feature sein.

  • Die Hardware wird so leistungsfähig wie ein Highend-PC (und ebenso so teuer - mindestens 2.000 Dollar) sein und zwei 8K-Displays mitbringen, eines für jeden Augapfel. Das Headset wird mit Sensoren ausgestattet sein, die den 3D-Raum abbilden und die Identität des Benutzers, seinen Blick und andere Faktoren überwachen. Raumklang wird dazu beitragen, die Illusion zu erzeugen, dass virtuelle Objekte im realen Raum existieren.

  • Die Brille, die einer normalen Brille ähnelt und auch verschreibungspflichtige Gläser unterstützt, könnte 2025 auf den Markt kommen. Über die endgültige Konfiguration der Brille ist bislang wenig bekannt, bei Apple hat man sich wahrscheinlich noch nicht auf endgültige Spezifikationen geeinigt.

Von diesen beiden Produkten - dem Headset und der Brille - ist es letztere, die das Smartphone als zentrale, kulturverändernde Plattform ablösen wird.

Die Zwei-Plattform-Theorie

Vergegenwärtigt man sich die aktuellen Äußerungen von Apple-CEO Tim Cook, besteht wenig Zweifel daran, dass Apple in AR die Zukunft sieht:

Warum also zwei Plattformen? Warum die VR-Brille? Warum wartet Apple nicht einfach ab? Um es mit den Worten von Ex-Microsoft-CEO Steve Ballmer zu sagen: "Entwickler, Entwickler, Entwickler, Entwickler".

Es ist wahrscheinlich, dass Apples erstes Headset vor allem als eine Art Proof of Concept oder Referenzdesign für die kommenden, "revolutionären Brillen" dienen wird. Dieses Produkt wird voraussichtlich in einem überfüllten Marktsegment für die kurzfristige Nutzung in Innenräumen zuhause sein: Hardwarelastige Devices, die zwar atemberaubende Experiences bieten, für den allgemeinen Einsatz durch Unternehmen oder Konsumenten aber zu klobig und in ihren Möglichkeiten zu begrenzt sind.

Dennoch gäbe ein solches Apple-Headset Entwicklern einen Grund, bei ARkit zu bleiben - beziehungsweise es zu verwenden. Das wird nicht nur Entwickler in Unternehmen ermöglichen, eigene Apps zu entwickeln, sondern auch Nischen-Player dazu ermutigen, RealityOS für Event- und Erlebnismarketing zu nutzen. Das Headset könnte die Welt auf die kommende Apple Glass vorbereiten. Ich wage die Prognose, dass der Konzern dieses Headset Apple Reality nennen wird.

Im besten Fall wird Apple seine AR-Brille in drei Jahren auf den Markt bringen und am Tag der Auslieferung über Tausende von überzeugenden Apps verfügen. Wirklich überzeugende Apps brauchen viel Entwicklungszeit und Unternehmen Jahre für Tests, Entwicklung, Schulung und Integration. Apples Zwischenlösung - das "Reality"-Headset - wird ihnen die nötige Zeit verschaffen.

Ob das funktionieren kann, steht in den Sternen. Apple hat eine großartige Erfolgsbilanz, in diesem Fall wird der Erfolg allerdings auch stark davon abhängen, was Apple tatsächlich entwickelt und was die Konkurrenz macht.

Wie Smartglasses die Welt verändern werden

Intelligente Brillen, die man wie normale Brillen ganztags tragen kann, werden das ermöglichen, was manche eine "augmentierte Gesellschaft" nennen. Wenn Sie zum Beispiel auf einer Webseite sind, ein eBook lesen oder ein Dokument auf Ihrem Laptop ansehen, ist jedes Element, das Sie sehen, ein Tor zu relevanten Informationen. Es kann kopiert, eingefügt, weitergegeben, erfasst, indiziert, vervielfältigt, abgetastet, gespeichert und durchsucht werden.

Forscher der University of Surrey haben eine neue Version ihres Projekts "Next Generation Paper" vorgestellt. Mit preiswertem, leitfähigem Papier können physische Bücher mit einer einfachen Geste, etwa dem Streichen über das Papier, erweiterte Inhalte anbieten. Die kontextbezogenen Informationen werden auf einem Device in der Nähe angezeigt. Diese Idee wird von fortschrittlichen AR-Brillen abgelöst werden. Diese werden in der Lage sein, Text zu erkennen und jede Art von Kontextinformationen mit Handgesten anzuzeigen - ohne spezielles Papier, Smartphone oder Tablet. Die kontextbezogenen Informationen werden über dem Buch "schweben". Kameras und andere Sensoren sowie künstliche Intelligenz werden unsere Brillen in die Lage versetzen, Bücher, aber auch Schilder, Sehenswürdigkeiten, Objekte, Menschen und vieles mehr zu erkennen. QR-Codes werden der Brille mitteilen, wo sie virtuelle Bilder und Informationen platzieren soll. Die große Revolution, die AR mit sich bringt: Alle Dinge - nicht nur digitale - können künftig digitale Eigenschaften aufweisen. Die Welt wird zum Internet und das Internet wird zur Welt.

Smartglasses werden die Welt in unseren ganz eigenen, persönlichen, um KI-erweiterten Computer verwandeln und auch Verhaltensweisen und Fähigkeiten ermöglichen, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. Apple kann es sich indes nicht leisten, sich bei der nächsten kulturverändernden Technologie mit dem zweiten Platz zu begnügen. Ich bin deshalb überzeugt davon, dass das Unternehmen zwei Plattformen aufbaut: eine für die Entwickler und eine für die Revolution. (fm)

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation Computerworld.