Konzerneigene (captive) IT galt mal als hip bei Volkswagen. Dann fanden 20 Jahre lang alle die eigene IT gar nicht attraktiv. Und nun lautet das Motto von Mario Daberkow wieder: "Wir wollen captive sein!" Warum?
Wie kann es sein, dass Autokonzerne wie Volkswagen oder auch Daimler ihre IT-Strategie alle 20 Jahre um 180 Grad drehen? In Berlin prangt noch immer der große gelbe Turm des alten debis-Gebäudes (Ex-IT-Tochter von Daimler) über dem Potsdamer Platz. Fünf Kilometer weiter westlich steht in Moabit die alte Zentrale der Volkswagen-Firma gedas. Beide IT-Töchter hatten mehr als 5.000 Mitarbeiter und den Anspruch, die beste IT für ihre Mutterkonzerne zu liefern. Beide haben viel Geld in ihre Identität und in ihr Marketing gesteckt, um auch noch am Drittmarkt zu reüssieren. War es ein Fehler, die gedas aufzugeben?
Ein CRM-System für Kunden und Fahrzeuge
"Jede Zeit hat ihre Lösung", sagt salomonisch Mario Daberkow, CIO der Volkswagen Financial Services AG. Zu gedas-Zeiten war er noch bei der Postbank. Seit 2013 lenkt er als Vorstand die IT-Geschicke für die weltweit 16.849 Mitarbeitenden der Volkswagen Financial Services, davon rund 6.000 in Braunschweig. Mehr als jeder zehnte von ihnen arbeitet in der IT. "Ich finde ich es unheimlich wichtig, eigene Mitarbeiter zu haben, die das können", sagt Daberkow. Warum, verdeutlicht er an seinem Projekt "CRM²".
CRM² läuft seit Anfang 2021 und ist im aktuellen Scope bis Ende 2023 geplant. 150 Mitarbeitende optimieren seitdem das Kundenbindungssystem, das sie liebevoll "Car and Customer Relationship Management" nennen, also CCRM oder CRM². Das Besondere daran: Es fließen eben nicht nur die Daten der Kunden in das System ein, sondern auch die Daten der Autos, also beispielsweise: Wann endet ein Leasingvertrag, wann könnte das Fahrzeug für einen neuen Fahrer viel attraktiver erscheinen? Oder konkret: Wie findet der große Kombi ohne robuste Polsterung zur werdenden Familie, die ihr Cabrio nicht mehr benötigt?
"Wir haben lange überlegt, wie wir so eine Lösung bauen", sagt Daberkow. Ob eine Fahrerin sich an Kratzern stört und ob sie immer das neueste Modell haben will, das ließe sich noch aus der Historie eines Standard-CRM-Systems ablesen. Nur, ob der eventuell in Frage kommende Kombi überhaupt verfügbar ist - beziehungsweise zu welchem Preis - das kann Standard-Software à la Salesforce eben nicht, wenngleich viele Bausteine davon nutzbar sind, wie der CIO betont.
Mit der Car-Cloud auf den nexten Level
Bisher vertreibt Volkswagen Financial Services seine Finanz- und Mobilitätsdienste mehrheitlich über die Händler. Bereits vor Covid 19 startete eine Digitalisierungsinitiative mit dem Ziel, Bedürfnisse der Kunden besser zu erkennen, um sie früher und gezielter anzusprechen. So entstand die "Car-Cloud", mit der Daberkow die Historie der User-Relationship und der Car-Relationship "tracked und mached". Früher habe man die Kunden sechs Monate vor Ablauf des Leasing-Vertrages angesprochen, konnte aber nur allgemeine Angebote machen", erklärt der CIO: "Jetzt können wir das viel konkreter und wir können auch sein Fahrzeug schon früher in andere Kanäle geben."
2021 hat Volkswagen Financial Services bereits 400.000 Verträge auf diese Art abgeschlossen. "In diesem Jahr werden wir das sicher noch mal steigern, trotz Ukraine-Krieg und Chipmangel", sagt Daberkow. Er rechnet mit einem Return on Investment (RoI) von ca. 1,5 Jahren für das Projekt. Viele Eigenentwicklungen, viel Salesforce, viel Adobe, viel Informatica und viel AWS sind eingeflossen in die Car-Cloud.
Das Beste aus allen Welten zusammen zu führen, das sei eben nur mit einer captive IT möglich, sagt der CIO: "Wir haben gelernt, dass die Dinge hochkomplex sind. Ich glaube, die Bereitschaft das anzuerkennen und Fehler zu akzeptieren, ist heute viel größer als noch vor 20 Jahren."
Unter den besten Fünf
Das Projekt konnte sich im Wettbewerb CIO des Jahres 2022 gegen starke Konkurrenz behaupten und wurde von der Jury unter die Finalisten in der Kategorie Großunternehmen gewählt. Juror Martin Peuker, CIO der Charité in Berlin, lobt: "Ein exzellenter Ansatz, wie vom Kunden gedachte Lösungen durch konsequente und neu ausgerichtete Digitalisierungsprojekte vollkommen neue Geschäftsmodelle erschlossen werden können. Der vollständige 360-Grad-Ansatz zeigt durch dieses Projekt, welchen konkreten Wertbeitrag die IT für das Gesamtunternehmen bringen kann. Klasse!"
Daberkow ist im Wettbewerb kein Unbekannter: Bereits im Jahr 2018 konnte er sich beim CIO des Jahres qualifizieren - er kam damals mit seinem Projekt "Risk and Finance" (Einführung einer zentralen Datenplattform) unter die Top 10 bei den Großunternehmen. Nach über zehn Jahren im Konzern will IT-Vorstand Daberkow bald zu neuen Ufern aufbrechen: Er hat zum 1. Juli 2023 seinen Austritt bei VWFS angekündigt. (kf)