Von der ersten Idee bis zur marktreifen Innovation oder Produkterweiterung: Dieser Prozess ist lang, komplex und fehleranfällig. Aber er hat in allen Unternehmen eine strategische Bedeutung, denn nur mit Produktneuerungen und Weiterentwicklungen lassen sich die wesentliche Unternehmensziele erreichen, nämlich:
die Sicherung des langfristigen Unternehmenswachstums,
ein ausgeglichenes Portfolio (möglichst breite Zielgruppe statt Abhängigkeit von einzelnen Produkten),
die Berücksichtigung aktueller und zukünftiger Trends und Kundenbedürfnisse,
die Schaffung neuer Märkte und Umsatzpotenziale, sowie die Wettbewerbsdifferenzierung.
Produktentwicklung: Mittel gegen Blindflug
Allerdings scheitern viele Unternehmen bei der Produktentwicklung an zwei wesentlichen Problemen:
Zum einen existiert keine strukturierte Vorgehensweise, um in einer vorgegebenen oder vertretbaren Zeit ein neues Produkt auf den Markt zu bringen, sprich: die Time-to-Market ist zu lang. Die Akteure der einzelnen Fachbereiche arbeiten ineffizient zusammen, weil die Aufgabenverteilung, die Prioritätenliste oder die eigene Rolle unklar sind oder es am Informationsaustausch mangelt.
Zum anderen richten Unternehmen ihre Perspektive meist stark auf das (bestehende) Produkt, sodass die "Pains und Gains" der potenziellen Kunden zu kurz kommen. Kundensicht und Kundenorientierung gelten auf dem Papier als wertvoll, werden in der tatsächlichen Entwicklungsarbeit aber schnell ausgeblendet.
Das alles führt zu Produkten, die zu spät oder an der Zielgruppe vorbei platziert werden, und es entstehen zeit- und kostenintensive Features, die nur wenige Anwender nutzen. Probleme dieser Art finden sich in allen Produktkategorien, egal, ob es um physische oder digitale Waren und Dienstleistungen geht. Gegen den Blindflug gibt es aber erfolgversprechende Vorgehensweisen. Schauen wir uns zunächst die Reifegrade eines Produkts im Entwicklungsprozess an:
Idee: Hier wird Aufgabenstellung definiert und eine Anforderungsliste erstellt.
Konzeption: Eine konkrete Lösung wird entwickelt; für die Produktfunktionen reicht die abstrakte Darstellung.
Entwurf: Das Team entwickelt das Konzept optisch und gestalterisch weiter.
Ausarbeitung: Der Entwurf wird ausgearbeitet, und ein Prototyp zum Testen gebaut.
Um vor allem die ersten beiden Phasen erfolgreich zu durchlaufen, hilft es, sich von Anfang an mit der Customer Journey auseinander zu setzen. Denn nur wer versteht, wie ein Kunde das Produkt einsetzen wird, kann es erfolgreich machen. Ein Beispiel: Wenn eine Desktop-Software auf eine mobile App reduziert wird, finden sich dort häufig Funktionen, die niemand nutzt und die die Anwendung überladen. Umgekehrt gibt es auch Fälle, in denen beliebte Features der Ursprungsversion einfach fehlen, was die bisherigen Desktop-Anwender ebenfalls frustriert. Also müssen der Anbieter und sein Entwicklungsteam die Anwender und ihre speziellen Anforderungen so gut wie möglich kennenlernen.
Schritt 1: Probleme erkennen
Deshalb steht am Anfang jeder Entwicklung die Frage: Welches Problem möchten die Leute lösen? Bei einer Produkterweiterung ist das relativ einfach, denn hier können Researcher die Bestandskunden befragen. Bei einer Neuentwicklung beginnen Unternehmen mit einer Zielgruppenanalyse, um die künftigen Anwender besser kennenzulernen. Die Zielgruppen lassen sich dabei besser begreifen und eingrenzen, wenn die Unique Value Proposition (der Alleinstellungs-Mehrwert) der Lösung exakt definiert ist. Beispielsweise wird ein E-Bike ohne Gangschaltung schneller marktreif und hat den Mehrwert der Einfachheit, wenn man gemütlich fahrende Fahrradfahrer adressiert - und die eiligen Radler und Langstrecken schlicht ausschließt. So entstehen erfolgreiche Nischenprodukte.
Eine solche Zielgruppenanalyse ist die Basis, um im Anschluss Personas zu skizzieren, also künstliche, aber präzisierte Stellvertreter der Kundengruppen. Deren Bedürfnisse zu antizipieren ist erfolgversprechender, als aus dem Produkt heraus neue Feature zu erschaffen. Ansonsten werden häufig Funktionen entwickelt, die möglich sind, statt Funktionen, die wirklich gebraucht werden.
Schritt 2: Customer Journey struturiert erforschen
Steht der Unique Value unseres Produktes fest, werden auch die Personas sichtbarer und damit ihre jeweilige Customer Journey. Diese Reise sollte nicht nur in Stichworten notiert werden, sondern als lebendige Geschichte, die auch mögliche Emotionen verdeutlicht.
Hier ein Beispiel-Szenario für das Vorgehen: Der (fiktive) Werkzeughersteller FooBar LLC hatte sich für 2022 das Ziel gesetzt, neben seinen Gewerbekunden auch Heimwerker anzusprechen und als Kunden zu gewinnen. Angepeilt wurde eine Steigerung des Gesamtumsatzes, indem die Conversion-Rate der privaten Shop-Besucher einen konkreten Wert erreicht. Dafür aber musste FooBar seinen Onlineshop und seinen Support erweitern. Doch was sind die Pains and Gains der Privatkunden? Welche Anforderungen muss also der Onlineshop erfüllen?
Um das herauszufinden, entwickelte die FooBar LLC. mehrere Personas und Problem Statements. Schnell stand fest, dass Privatkunden andere Zahlungsmethoden gewohnt sind als gewerbliche Käufer. Ein Problem Statement wurde daher so strukturiert:
Als Privatkunde
versuche ich, ein Produkt der Firma FooBar LLC. zu erwerben und mit PayPal zu bezahlen,
aber PayPal wird als Zahlungsart nicht angeboten,
weil FooBar LLC. nur Kreditkarten für Privatkunden unterstützt,
was mich dazu bewegt, doch wieder bei der Konkurrenz mein benötigtes Werkzeug zu erwerben.
Im Klartext: Fehlt die PayPal-Option, gehen dem Unternehmen zahlreiche potenzielle Privatkunden verloren - das verdeutlicht den dringenden Handlungsbedarf. Eine Funktionserweiterung um PayPal ist allerdings für jeden Shop-Entwickler mit einigem technischem Aufwand verbunden. Um alle Anforderungen und Folgeaufgaben für die Implementierung zu erkennen und damit den Aufwand einzuplanen, lohnt es sich, die Customer Journey detailliert zu vorzuzeichnen. Mit diesem Schritt übersetzen wir Problem Statement und Lösung in den Alltag. Dabei spielen wir ein typisches Szenario mit allen Personas durch - als "kognitiven Walk Through". Eine von drei Customer Journeys sah dabei so aus:
"Bianca ist Mutter von drei Kindern und alleinerziehend. Von vielen Freunden und Bekannten hört sie immer wieder, wie einfach es ist, zuhause mit den Werkzeugen der FooBar LLC. ein Regal aufzuhängen. Sie entscheidet sich also, einen Akkubohrschrauber online zu kaufen. Nach wenigen Minuten hat sie auch den Akkubohrschrauber ihrer Wünsche gefunden und speichert diesen in ihrem Warenkorb. Ihr werden zusätzlich ein Satz Schraubbits und gängige Wandbohrer angeboten, die sie ihrem Warenkorb ebenfalls hinzufügt. Beim Checkout wählt sie anstelle der Kreditkarte die Option PayPal Express Checkout, weil sie keine Kreditkarte hat. In dem von PayPal angebotenen Dialog loggt sie sich mit ihren PayPal-Zugangsdaten ein und schließt den Zahlungsprozess ab. Anschließend wird sie auf unsere Übersichtsseite der Bestellung geleitet, auf dem sie den Inhalt der Bestellung und ihre Email-, Rechnungs- und Lieferadresse sieht, die uns von PayPal übermittelt wurde. Diese Daten kann Bianca hier auch direkt ändern, falls diese nicht mehr aktuell sind. Dann bestätigt sie final die Bestellung und bekommt wenige Minuten später eine Bestellbestätigung von uns per E-Mail gesendet und parallel die Transaktionsbestätigung von PayPal."
Schritt 3: Funktionale Anforderungen ableiten
Aus dieser konkreten Customer Journey können wir bereits wesentliche funktionale Anforderungen an den Onlineshop ableiten: PayPal muss als weitere Zahlungsart implementiert werden, die Übersichtsseite soll die von PayPal übermittelten Transaktionsdaten darstellen können, und die Email-, Rechnungs- und Lieferadressen müssen anpassbar sein. Mit diesem Ergebnis lassen sich erste technische Aufgaben und Prioritäten für das Entwicklungsteam formulieren.
Häufig bietet es sich an, die Textform der Customer Journey in eine visuelle Repräsentation umzuwandeln. In der folgenden Abbildung sind die einzelnen Schritte der obigen Customer Journey visuell aufbereitet. Nun können die funktionalen Anforderungen für jeden skizzierten Schritt definiert und verfeinert werden. Dieses Vorgehen beschleunigt die Anforderungsphase ungemein, da hier auch später die notwendigen Abnahmetests für die Funktionserweiterung abgeleitet werden können.
Die entdeckten Anforderungen in diesem Beispiel mögen recht offensichtlich klingen, können aber in anderen Customer Journeys viel umfangreicher und versteckter sein. Genau dann hilft die Kundensicht, um zu verstehen, was exakt muss am Produkt geändert werden muss, damit es funktioniert.
Werden nun die Customer Journeys aller Personas zusammen betrachtet, formt sich ein Big Picture, das klarmacht: Der Onlineshop braucht bereits auf der Homepage eine auffällige Weiche für Privatkunden und aktuelle, für Heimwerker passende Angebote. Diese und weitere Anforderungen sammelt das FooBar-Team in einem Implementierungsplan, einer Roadmap, die transparent alle Einzelaufgaben und dadurch einen potenziellen Liefertermin ermittelt. Neben der visuellen Darstellung der Customer Journey sind Mockups und Prototypen eine bewährte Methodik, um schon früh eine Idee der zukünftigen Benutzeroberfläche zu entwickeln.
Mockups bestehen aus groben Elementen, bei denen noch keine gestalterischen Attribute eingebunden sind. Hier stehen der Benutzerfluss und die Funktionen des Produkts im Vordergrund. Das ist ein großer Vorteil gegenüber dem direkten Programmieren, da mit interaktivem Vorgehen grobe Unstimmigkeiten und Fehler schnell und effizient ausgeglichen werden können. Es bietet dem Team und dem Kunden eine Basis für Diskussionen und das weitere Vorgehen.
Prototypen zeigen dem Betrachter nun die Funktionalität in einer begrenzten Möglichkeit und das entsprechende User Interface. Sie sind klickbar und beinhalten auch schon die richtigen Farbwerte, Schriftarten, Button-Abbildungen usw. Es ist ein Teil der Abbildung des Endprodukts. Natürlich sind die ersten Prototypen auch hier schnell abänderbar und können über iterative Prozesse immer wieder verbessert werden, ohne, dass die Entwickler eine Zeile Code schreiben müssen.
Schritt 4: Mehr Unterstützung finden
Um einen komplexen Prozess wie die Produktentwicklung strukturiert, effizient und damit erfolgreicher als bisher zu durchlaufen, gibt es inzwischen Berater, die sich auf Themen wie Customer Journey und agile Zusammenarbeit spezialisiert haben. Fehlt im Unternehmen das Know-how oder auch die Sicht von außen, dann können sie eingreifen - zum Beispiel mit den richtigen Fragestellungen. In Arbeitssessions werden die Bedürfnisse und Wege der Kunden durchgespielt und möglichst mit einem konkreten Ergebnis festgehalten.
Oft stellt sich dabei heraus, dass die Fachbereiche ein sehr unterschiedliches Wissen über das eigene Produkt haben, beispielsweise, wie es im Detail funktioniert. Genau deshalb ist es wichtig, dass in den Sessions das Know-how aus Marketing, F&E, Vertrieb und Management zusammenfließt. Ebenfalls hat es sich bewährt, Entwickler rechtzeitig einzubinden, damit die technische Machbarkeit schon in der Planungs- und Konzeptionsphase geklärt wird. (mb)