Auch wenn der Weg für die Transformation in Richtung Industrie 4.0 meist noch unklar ist, so ist mit dem Wandel zu erwarten, dass Tätigkeiten entlang der gesamten Wertschöpfungskette in unterschiedlicher Intensität von Veränderung betroffen sind. Verständlicherweise gewinnt damit die Frage nach den passenden Kompetenzen und der Kompetenzentwicklung in den Unternehmen für die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0 zunehmend an Bedeutung.
Für die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0 erkennen Unternehmen die Relevanz an unternehmensspezifischen Kompetenzen aus Bereichen wie Datenauswertung und -analyse, Cloud Architekturen, Künstliche Intelligenz, Prozessmanagement, IT Sicherheit etc. Daneben wird Entwicklungsbedarf bei den als entscheidend erkannten Fähigkeiten wie "interdisziplinäres Denken und Handeln", "Prozess-Know-how", "Führungskompetenz", "Mitwirkung an Innovationsprozessen", "Problem- und Optimierungskompetenz" als auch "eigenverantwortliche Entscheidungen" gesehen (acatech: Kompetenzen für Industrie 4.0.; 2016)
Diese als entscheidend erkannten Fähigkeiten finden ihre Bedeutung zum einen darin, die Beschäftigten in ihrem Handeln zu unterstützen, die fachlich und unternehmensspezifisch relevanten Kompetenzen bestmöglich zu nutzen. Erst mit dem Vernetzen der unternehmensspezifisch relevanten Kompetenzen und der als entscheidend erkannten Fähigkeiten ist es möglich, die Potenziale von Industrie 4.0 mit Fokus auf die Unternehmensvision und -ziele erfolgreich umzusetzen.
Toyota-Kata
Neue Herausforderungen, wie sie mit der Transformation zu Industrie 4.0 verbunden sind, charakterisieren sich durch die Unwissenheit, über den Weg diese zu erreichen. Nur durch dieses damit geschaffene Dilemma bietet sich die Chance einen Wettbewerbsvorteil zu schaffen. Denn wäre der Weg bekannt, würden es alle machen können. Erfolgsentscheidend für die Unternehmen ist es, Fähigkeiten zu entwickeln, die es erlauben, neue kreative und innovative Lösungen für den Weg durch das Unbekannte zu finden und umzusetzen. Dies hat Toyota schon vor Jahrzenten erkannt und eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung und Innovation gezielt entwickelt. Damit hat sich auch der Führungsansatz der Toyota-Kata entwickelt, um seine Beschäftigten in als wettbewerbsentscheidend angesehenen Fähigkeiten zu qualifizieren.
Mit seinem Führungsansatz ist Toyota bestrebt, seine Beschäftigten unternehmensweit zu befähigen eigenverantwortlich herausfordernde Ziele zu erreichen und Prozesse zu verbessern, ihre Problemlösungs-und Optimierungsfähigkeit zu entwickeln und den Umgang mit Veränderungen zur Routine zu machen.
Mike Rother hat diesen Führungsansatz bei Toyota herausgearbeitet und 2009 als Erster in seinem Buch "Die Kata des Weltmarktführers: Toyotas Erfolgsmethoden" beschrieben. Der Begriff Kata, primär bekannt durch japanischen Kampfsportarten, beschreibt eine Übungsroutine bestehend aus einer exakt definierten Abfolge von Handlungen.
Der Führungsansatz der Toyota-Kata unterteilt sich in die Verbesserungs-Kata und Coaching-Kata. Mittels der Verbesserungs-Kata lernen Beschäftigte als "Verbesserer" oder auch Coachee genannt wie sie mittels Routine Schritt für Schritt Verbesserungen an den Geschäftsprozessen erzielen können und auch große Herausforderungen meistern. Die Führungskraft hilft dem "Verbesserer" (Coachee) als Coach mittels der Coaching-Kata die Routinen regelmäßig zu üben, in der Praxis anzuwenden und für sich selbst zur Routine zu machen.
Verbesserungs-Kata
Die Routine der Verbesserungs-Kata verfolgt das Ziel, Beschäftigte zu trainieren, schrittweise durch Experimente zielorientiert kreative und neue Lösungen für unbekannte Wege zu erarbeiten. Dabei geht es auch darum, Hindernisse zu finden, diese zu verstehen und zu beseitigen sowie dabei zu lernen mit Veränderungen eigenverantwortlich umzugehen.
Schritt 1: Die zu bewältigende Herausforderung gibt die Richtung vor. Herausforderungen die hier zum Tragen kommen, haben strategische Bedeutung und werden daher meist übergreifend auf Organisationsebene oder auf der Wertstromebene bestimmt und werden Ebene für Ebene sukzessiv in kleinere Elemente unterteilt. Erst wenn die Richtung und die damit verbundene Herausforderung vom Coachee auf seiner Ebene verstanden ist, kann er sich auf den Weg machen den nächsten Schritt zu gehen. Der Lösungsweg, um die zu bewältigende Herausforderung zu erreichen ist sowohl dem Coachee als auch dem Coach unbekannt.
Schritt 2: Den Ist-Zustand analysieren, erfassen und beschreiben. Die dabei erarbeiteten Ergebnisse dienen als Input zur Festlegung des nächsten Zielzustands.
Schritt 3: Der Coachee legt den nächsten Zielzustand fest der auf dem Weg der bewältigenden Herausforderung erreicht werden soll. Der Weg um den nächsten Zielzustand zu erreichen darf dem Mentee und dem Coach nicht bekannt sein. Während dem Festlegen des nächsten Zielzustandes werden Hindernisse erkannt, die es zu beseitigen gilt.
Schritt 4: Es wird mittels Experimentieren und dem Nutzen des PDCA Verfahrens (Plan-Do-Check-ACT) iterativ auf das Erreichen des nächsten Zielzustandes hingearbeitet. Dabei werden Hindernisse beseitigt und es treten auch neue auf. Mit jedem Experiment und mit jedem Hindernis, welches beseitigt wird, erweitert sich die Wissensgrenze des Coachees und steigert damit seine Kompetenz. Der Coachee wird dabei nach jedem Experiment - am besten täglich - von seinem Coach nach dem Coaching Zyklus gemäß der Coaching-Kata unterstützt.
Coaching-Kata
Die in Schritt vier eingesetzte Coaching-Kata orientiert sich an fünf Fragen, die der Coach bei den regelmäßigen Treffen und nach jedem Experiment stellt. Der Coach, meistens die Führungskraft, soll dabei keine Lösungen vorgeben, sondern den Mentee dabei unterstützen, mittels üben der Routine, eigene Wege durch unbekanntes Terrain zu finden und zu gehen.
Was ist der Zielzustand des Prozesses? Er dient dem Coach auch dazu, zu verstehen, wo der Coachee steht, denn zu entwickelnde Verbesserungen sollen zielorientiert sein.
Frage 2: Was ist der aktuelle Ist-Zustand? Ziel ist es, den Coachee zu unterstützen faktenbasiert zu beobachten und zu handeln.
Frage 3: Welche Hindernisse halten Sie davon ab, den Zielzustand zu erreichen? Unterstützt dabei ursachenorientiert zu denken und weitere Handlungs- und Lernfelder abzuleiten.
Frage 4: Welches Hindernis gehen Sie als nächstes an und was ist deshalb Ihr nächster Schritt? Lenkt den Coachee darauf, sich auf das aktuell entscheidende zu fokussieren, anderes wegzulassen und das weitere zu planen.
Frage 5: Wann können wir uns anschauen, was Sie bei diesem Schritt gelernt haben? Schließt den Zyklus ab und schafft die notwendige Verbindlichkeit gegenüber dem Coachee. Ab hier beginnt für den Coachee auch das nächste Experiment.
Zusammenspiel für Industrie 4.0
Es stellt sich nun die Frage, inwieweit die Toyota-Kata eine Möglichkeit darstellt, um die Beschäftigten bei der Entwicklung der als entscheidend erkannten Fähigkeiten "interdisziplinäres Denken und Handeln", "Prozess-Know-how", "Führungskompetenz", "Mitwirkung an Innovationsprozessen", "Problem- und Optimierungskompetenz" als auch "eigenverantwortliche Entscheidungen" zu unterstützen.
Durch die Systematik der Verbesserungs-Kata erlernen die Mitarbeiter in der Rolle des Coachee wissenschaftliches Denken und Handeln, aus ihrer Komfortzone herauszutreten und damit ihr bestehendes Wissen anwendungsorientiert zu erweitern. Für das Beseitigen von Hindernissen auf dem Weg zum Zielzustand werden sie gefordert zu experimentieren und somit sich auch interdisziplinär mit unterschiedlichen Fachbereichen auseinanderzusetzen. Da es bei den gesetzten Herausforderungen und der daraus abgeleiteten Zielzustände primär darum geht Geschäftsprozesse zu optimieren, erweitert der Coachee beim Erarbeiten neuer Lösungen automatisch auch sein Prozess-Know-how.
In der Rolle als Coach unterstützt die Führungskraft den Coachee dabei die Routinen in der täglichen Praxis anzuwenden und entwickelt somit beim Coachee die Fähigkeit der Problem- und Optimierungskompetenz. Gleichzeitig lernt der Coach durch das Anwenden der Coaching-Kata seine Führungskompetenzen zu entwickeln. Statt selbst Lösungen vorzugeben versteht der Coach durch die Routine, das Fragen und das gemeinsame Reflektieren "loszulassen" und den Coachee eigenverantwortlich eine Lösung entwickeln zu lassen. Die regelmäßigen Treffen vor Ort unterstützen zudem das Lernen zu beobachten und zu verstehen, wie er seinen Coachee noch besser unterstützen kann um mehr Eigenständigkeit im gesetzten Rahmen zu erlangen. Mit zunehmender Entwicklung der Fähigkeiten der Mitarbeiter, ist die Führungskraft umso seltener als "Feuerlöscher" und Coach gefragt und gewinnt mehr Zeit, sich um die Herausforderungen auf seiner Ebene zu kümmern.
Entsprechend dem sukzessiven Herunterbrechen der strategischen Herausforderungen Ebene für Ebene in kleinere Elemente, werden die Routinen bei Toyota auf allen Ebenen praktiziert. Somit praktizieren alle Führungskräfte auf allen Ebenen die Rolle des Coaches sowie des Coachees und entwickeln ihre Fähigkeiten kontinuierlich weiter. Ziel ist es, mittels der Toyota-Kata die Denk- und Handlungsmuster zum Automatismus werden zu lassen und die Kultur der kontinuierlichen Verbesserung noch stärker in der DNA der Organisation zu implementieren.
In dem Zusammenspiel der Verbesserungs- und Coaching-Kata entwickeln die Beschäftigten als Coach und Coachee, die als entscheidend erkannten Fähigkeiten für Industrie 4.0. Die Erfahrung hat dabei gezeigt, dass Konsequenz im Praktizieren der Routinen sowie das gemeinsame Verständnis über die zu erreichende Herausforderung - der gemeinsamen Vision - für den Erfolg der Toyota-Kata wesentlich sind.