Organisationsmodell für Teamarbeit

Soziokratie für Einsteiger

30.08.2019
Von 
Boris Gloger ist Gründer und Geschäftsführer von borisgloger consulting, einer Managementberatung im Bereich des agilen Change-Managements und der agilen Produktentwicklung in der DACH-Region.
Um strukturellen Zwängen in Organisationen zu entfliehen, stehen allerhand Methoden bereit. Die Soziokratie forciert partnerschaftliche Entscheidungen.
  • Obwohl die Soziokratie hier noch in den Kinderschuhen steckt, sorgen Initiativen dafür, dass das Modell Einzug in Gesellschaft und Wirtschaft hält.
  • Eine nach soziokratischen Prinzipien arbeitende Organisation wird in mehreren Kreisebenen aufgebaut, angelehnt an die jeweilige Unternehmensebene.
  • Soziokratie ist als Marke und Beratungsangebot geschützt und erfordert eine Lizenzierung.

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: 15 Jugendliche sitzen an einem Tisch im Kreis und diskutieren, ob ein neuer Beamer für die Schule angeschafft werden soll. "Wollen wir damit Filme anschauen oder brauchen wir ihn, um Präsentationen besser darzustellen? Dient er der Allgemeinheit? Stehen die Kosten noch in einem guten Verhältnis zum Nutzen?" Einer der Schüler moderiert, sammelt Meinungen, dokumentiert und wertet nie. Klingt utopisch? Eine ähnliche Szene aus der Dokumentation "SchoolCircles" zeigt, wie sich sechs Schulen in den Niederlanden nach den Prinzipien der Soziokratie organisieren.

Die Kreisstruktur der Soziokratie sieht vor, jeden Beteiligten anzuhören. Das schafft größtmögliche Mitbestimmung im Unternehmen.
Die Kreisstruktur der Soziokratie sieht vor, jeden Beteiligten anzuhören. Das schafft größtmögliche Mitbestimmung im Unternehmen.
Foto: microstock3D - shutterstock.com

Der Unterschied zum herkömmlichen Unterricht: Schüler, Eltern und Lehrer sind den Regeln der Institution nicht ausgeliefert, sondern gestalten diese selbst. Das Modell dahinter ist simpel und funktioniert genauso im Unternehmenskontext: Die letzte Entscheidung über eine Maßnahme liegt nicht bei der Autoritäts- beziehungsweise Führungsperson, sondern alle Beteiligten beschließen gemeinsam. In den Niederlanden ist die Soziokratie sowohl in Schulen als auch in Unternehmen etabliert, auch in der DACH-Region gibt es unzählige Beispiele für die Arbeit nach soziokratischen Prinzipien - von Schmuckatelier über Agentur bis hin zu Wohnprojekten. Obwohl die Soziokratie hier im Vergleich noch in den Kinderschuhen steckt, sorgen Initiativen wie etwa das Soziokratie Zentrum dafür, dass das Modell nach und nach Einzug in Gesellschaft und Wirtschaft hält. Es fußt auf vier Kernprinzipien, die im Minimum erfüllt sein müssen:

Das Entscheidungsorgan ist der Konsent

Beim Konsent laufen die Fäden zusammen: Er beschließt Grundsatzentscheidungen, an denen in der Regel längerfristig festgehalten wird - so beispielsweise die Organisation und Prozesse, das Budget oder Personal betreffend. Diese Entscheidungen sind auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet. Das Besondere: Im Konsent muss - im Gegensatz zum Konsens - keine einhellige Meinung vorliegen. Vielmehr geht es darum, dass alle Beteiligten mit der getroffenen Entscheidung gut leben können. Im Umkehrschluss heißt das: Mit nur einer Gegenstimme wird die Maßnahme vorerst ad acta gelegt.

Ein Veto sollte jedoch mit guten Gründen untermauert sein - beispielsweise wenn rechtliche Einwände vorliegen oder wenn die Reputation des Unternehmens in Gefahr ist. Gleichzeitig dürfen die anderen Mitglieder weitere Pro-Argumente vortragen, die gegebenenfalls den Gegner noch überzeugen. Ziel ist, dass niemand der Beteiligten beim endgültigen Beschluss einen schwerwiegenden Einwand hat.

Der große Vorteil des Konsent: So flexibel die Entscheidungsfindung an sich ist, so wandelbar sind auch im Nachgang noch die Beschlüsse. Jedes Mitglied hat - gute Argumente vorausgesetzt - jederzeit die Möglichkeit, seinen Konsent wieder zurückzuziehen. Somit bekommen die Beteiligten nicht nur das Gefühl, dass jede Meinung zählt, sondern erfahren unmittelbar auch ihre Auswirkung. Die Verantwortung liegt auf den Schultern jedes Einzelnen.

Das war auch einer der Gründe, warum Thomas Becker die Soziokratie in seinem Hamburger Schmuckatelier eingeführt hat. Die Mitarbeiter sollten einerseits ein gleichwertiges Mitbestimmungsrecht bekommen, andererseits aber auch die volle Verantwortung für ihre Entscheidungen tragen. Dabei ist in der Soziokratie grundsätzlich nichts in Stein gemeißelt. In der Regel werden Beschlüsse nach einem gewissen Zeitraum überprüft und gegebenfalls neu verhandelt oder bewusst beibehalten. So stellt die Soziokratie ein Organisationsmodell mit größtmöglicher Flexibilität dar.

Je mehr Kreise, desto komplexer

Eine nach soziokratischen Prinzipien arbeitende Organisation wird in mehreren Kreisebenen aufgebaut, angelehnt an die jeweilige Unternehmensebene. Dabei trifft sich pro Kreis jeweils eine Gruppe von Mitarbeitern alle vier bis sechs Wochen zum Dialog, diskutiert Vorschläge, vermittelt Konflikte. Eine gewaltfreie Kommunikation ist unabdingbar, da die offene und transparente Kultur der Soziokratie auch schwelende Konflikte hervorbringen kann - insbesondere in größeren Unternehmen mit vielen Partizipanten. So berichtete der Leiter eines Wohnprojekts in Wien vom Leidensdruck, der mit mehr als 15 Mitgliedern in den Kreisen zunahm. Da die Soziokratie zuvor nicht vollständig implementiert, sondern nur nach einigen der Prinzipien gearbeitet wurde, entwickelten sich schnell unklare Zuständigkeiten und zwischenmenschliche Konflikte. Erst mit externer Begleitung wurden die Strukturen für alle nachvollziehbar. Denn so einfach Soziokratie in der Anwendung auch ist, setzt sie doch ein hohes Maß an Eigeninitiative und Selbstorganisation voraus.

Konkret funktioniert die Kreisstruktur so: Neben der üblichen linearen Struktur fungiert parallel der Kreis. Dort entscheiden Mitarbeiter gemeinsam, jede Meinung wird nacheinander gehört. So besteht nicht die Gefahr, dass die Extrovertierten die Ruhigen übertönen, wie es oft der Fall ist. Die endgültige Entscheidungshoheit liegt nicht bei der Führungskraft, sondern bei allen. In der Regel gliedert sich eine Kreis-Session in drei Phasen: Bestandsaufnahme der Situation und der geforderten Maßnahmen in Runde eins, Anhören der Lösungsideen in Runde zwei und zuletzt das Herstellen des Konsent. Die im Kreis festgelegten Grundsatzentscheidungen geben dann den Rahmen für die lineare Struktur vor, innerhalb derer die Führungskraft die alltäglichen Maßnahmen bestimmt.

Doppelte Verknüpfung sichert den Blick von außen

Die Kreise sind autonom und treffen innerhalb ihrer Grenzen Grundsatzentscheidungen selbst. Jedoch gibt es pro Kreis eine Führungskraft, die in der Regel zuvor vom nächsthöheren Kreis bestimmt wird (Top-down), und ein Mitglied des Kreises, das zum Delegierten gewählt wird. Beide geben die beschlossenen Anliegen in den nächsthöheren Zirkel weiter und sind auf dieser Ebene gleichwertig (Bottom-up). Die vorab bestellte Führungskraft und der Delegierte sitzen dann in beiden Kreisen und entscheiden nach dem Konsentprinzip sowohl in ihrem Kreis als auch im nächsthöheren mit. Die doppelte Verknüpfung soll vor allem den Austausch zwischen den Gruppen sicherstellen.

Diese Mischung aus erfahreneren Mitarbeitern, jungen und älteren Kollegen und damit unterschiedlichen Ansichten und Herangehensweisen macht die Soziokratie lebendig und so wertvoll für daraus entstehende (Lösungs-)Ideen und Innovationen.

Transparenz fängt bei der Wahl an

Das Prinzip der offenen Wahl sichert größtmögliche Gerechtigkeit: Alle Vertreter und Positionen wie Moderator, Delegierter und Führungskraft eines Kreises werden zunächst gewählt - und das transparent. Der Ablauf: Vor der Wahl tragen die Mitglieder des Kreises ihre Erwartungen und Anforderungen an die jeweilige Rolle gemeinsam zusammen. Jeder Beteiligte erhält einen Wahlschein und schreibt seinen Wunschkandidaten mit den dazugehörigen Pro-Argumenten auf. Diese Befragung erfolgt nicht anonym. In der ersten Runde kommentieren die Beteiligten ihre Vorschläge, dann erfolgt eine zweite meinungsbildende Runde, in der sich gegebenenfalls die Standpunkte noch einmal ändern. So werden nicht nur die Rollenprofile und der Blick auf einzelne Qualifikationen der vorgeschlagenen Personen geschärft, sondern die Kreismitglieder nähern sich einfühlsam und mit unterschiedlichen Blickwinkeln dem Konsent.

Diese Prinzipien bilden die Basis für Soziokratie, sind aber nur als Rahmenwerk zu verstehen. Sie müssen je nach Organisation mit Inhalten gefüllt, gelebt und ergänzt werden, wie die unterschiedlichen Praxisbeispiele zeigen. Ziel ist es, die Weisheit und Ansichten aller zu nutzen, um Lösungswege out of the box aufzuzeigen. Der Gedanke dahinter ist ein Zusammenschluss von Menschen, die eine gemeinsame Vision haben und diese gleichwertig verwirklichen wollen. So entschieden sich die Gründer einer Designagentur mit drei Standorten und 100 Mitarbeitern bewusst für das soziokratische Modell, weil sie die Vision einer kreativ-spielerischen Herangehensweise bei der Arbeit verfolgten.

Soziokratie ist als Marke und Beratungsangebot geschützt und erfordert eine Lizenzierung. Die aus der Soziokratie und Holokratie weiterentwickelte Soziokratie 3.0 betrifft das nicht.