Agile Software

Scrum erfordert neue Kommunikationskultur

21.03.2014
Von 
Gabi Visintin ist freie Journalistin in Filderstadt.
Die Einführung agiler Methoden machte den Softwareanbieter Sage wieder konkurrenzfähig. Alt und Jung mussten allerdings voneinander lernen, damit neue Verfahren funktionierten.

Die Verlagerung von Informationen ins Web und die Kommunikation über Social-Media-Kanäle - privat oder zwischen Unternehmen und Kunden - haben für Ayse Gül, Personal-Managerin bei Sage Software GmbH in Frankfurt am Main, Auswirkungen auf die gesamte Firmenorganisation: "Zum einen müssen wir überlegen, wie unsere Kunden jetzt und in Zukunft arbeiten, zum anderen die neue Kommunikation und Technik beherrschen."

Der zweite Punkt betrifft Personalverantwortliche in besonderem Maße. Schließlich sind sie dafür verantwortlich, dass sie die richtigen Leute finden, die den Wandel in ihrem Unternehmen unterstützen. Für die Entwicklung von Apps oder modernen Benutzeroberflächen sind zum Beispiel HTML- und Java-Kenner gefragt - eine Spezies, die auf dem Jobmarkt derzeit Mangelware ist.

Doch "neue Skills" sind nicht das einzige, was der Frankfurter Softwareanbieter an notwendigen Bedingungen für die Veränderung identifizierte. Ralf Nagel, Entwicklungs-Manager für Sages ERP-Software "Office Line", eine betriebswirtschaftliche Softwarelösung, die vor mehr als 20 Jahren in Deutschland für den Mittelstand entwickelt wurde, erklärt: "Mit der Umorientierung auf die Cloud und mobile Anwendungen standen und stehen wir vor der Aufgabe, unsere klassischen Programme Browser-tauglich zu machen." Und das sei kein einfaches Unterfangen.

Ralf Nagel, Sage: "Unsere bisherige Entwicklungsmethode war für unsere zukünftigen Vorhaben nicht mehr zeitgemäß."
Ralf Nagel, Sage: "Unsere bisherige Entwicklungsmethode war für unsere zukünftigen Vorhaben nicht mehr zeitgemäß."
Foto: Privat

Was bisher als Programm auf dem Windows-PC installiert war, soll nun von überall her abrufbar sein. Während es den Anwender nicht interessiert, ob er über den Client Smartphone, Tablet oder PC-Browser Informationen empfängt, interessiert das den Softwarehersteller sehr. Er muss seine Software an jedes Endgerät anpassen, das auf dem Markt ist. Nagel nennt in diesem Zusammenhang eine Zahl, um zu verdeutlichen, dass der Sprung ins mobile IT-Zeitalter nicht ganz einfach zu bewerkstelligen ist: "Um die klassische Office Line für die mobile Welt fit zu machen, hätten wir rund eine Million Programmzeilen neu codieren müssen." Damit war klar, dass Sage vor einem Paradigmenwechsel stand. Einerseits drängte sich der Übergang auf eine neue flexible IT-Architektur auf, zum anderen stand die Umstellung auf eine zeitgemäße Benutzeroberfläche an. Vor rund zwei Jahren fiel bei Sage dann auch die Entscheidung für den Touchscreen und die leichte, intuitive Bedienbarkeit, die von Apps und neuen Graphical User Interfaces (GUI) der Browser erwartet werden. Konkret heißt das: Weg von Tastatur und Maus hin zur Steuerung der Bildschirmoberfläche über Berührung und Gesten.

Wasserfall nicht mehr zeitgemäß

"Wir haben es heute mit beschleunigten Geschäftsprozessen zu tun, mit schnellen Programmänderungen und kürzeren Entwicklungszyklen", gibt Personal-Managerin Gül zu bedenken. Den Unterschied erklärt sie durch einen Vergleich: "Ein komplettes ERP-Programm neu zu entwickeln, kann schnell mehrere Jahre dauern, während eine App höchstens ein paar Wochen in Anspruch nehmen darf."

Ayse Gül, Sage: "Es bedurfte keiner Spielwiese, um die neuen Abläufe einzuüben."
Ayse Gül, Sage: "Es bedurfte keiner Spielwiese, um die neuen Abläufe einzuüben."
Foto: Ayse Gül

Bisher hatten die Frankfurter nach dem Capability Maturity Model (CMM) entwickelt. Auf diese Weise überarbeitete das Unternehmen etwa die Regeln seiner Betriebswirtschafts-Software in den vergangenen Jahren grundlegend. Das Capability Maturity Model wurde nach der Wasserfallmethode abgebildet, die sich linear von einer abgeschlossenen Stufe zur nächsten bewegt. Nun stand der zweite Teil der Aufgabe an: die Generalüberholung der Benutzeroberfläche sowie infrastrukturelle Erneuerungen. Nagel betont: "Unsere bisherige Entwicklungsmethode nach dem CMM-Modell, das sich schrittweise von der Anforderungsbeschreibung zur Implementierung und zum Test vorarbeitet, war für die Neuentwicklungen nicht mehr das Mittel der Wahl."

So entschloss sich Sage, auf Scrum umzusteigen: Das agile Softwareentwicklungs-Framework gründet auf der Überlegung, dass moderne Entwicklungsprojekte zu komplex sind, um sie durchgängig planen zu können. Dagegen wird bei Scrum in kleinen Teams gearbeitet, die in kurzen Sprints, zum Beispiel 14 Tage, kleine Aufgaben erledigen und ihre Ergebnisse danach immer wieder diskutieren lassen.

Für Personalerin Gül stellte sich die Frage, wie der Umstieg auf eine andere Vorgehensweise gelingen sollte, ohne an Produktivität zu verlieren. Im Unternehmen wurde ein Change-Management-Konzept etabliert, das alle Bereiche umfasste. Mit einer professionellen Scrum-Agentur an seiner Seite überzeugte das "Change-Team" zuerst die Führungskräfte und bildete anschließend eine erste Pilotgruppe. "Scrum erklärt sich auf einem DIN-A4-Blatt", freut sich Gül und verweist auf einen Aspekt, der sie von Anfang an beeindruckte: "Es bedurfte keiner Spielwiese, um die neuen Entwicklungsabläufe einzuüben." Per Learning by Doing entstanden auf diese Weise 2012 die ersten Apps, die sich nach ausgiebigen Tests sofort an Kunden ausliefern ließen. Das Spielerische kam trotzdem nicht zu kurz: Beim Start der ersten Pilotgruppe schlüpften die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie im Film "Avatar" in neue Rollen, sogar mit geänderten Vornamen. Im Pilotteam agierten die Avatare, im normalen Arbeitsleben führte jeder wie gewohnt seinen bürgerlichen Namen.

Techie-Projekte aus dem Lehrbuch

Inzwischen gibt es statt einem schon vier Scrum-Teams. Das ging fast von alleine, berichtet Gül: "Das Pilotteam hatte eine solche Ausstrahlungskraft, dass bereits kurz nach dem Start andere Entwickler fragten, ob sie mitmachen können." Die vier Teams, die sich jeweils aus etwa neun Entwicklern und einem Scrum Master zusammensetzen, koordiniert Nagel. Sie folgen den Vorgaben ihres jeweiligen Produkt-Owners, der "seine" Aufgabe in kleine Stücke teilt und beauftragt, sowie dem Chief Product Owner, dessen Rolle bei Sage vom Head of Product Management ausgefüllt wird.

Gegenwärtig hat Nagel drei Teilprojekte zu organisieren. Eines, das demnächst seinen Abschluss findet, ist die Aufrüstung des ERP-Programms auf den einheitlichen europäischen Zahlungsverkehrsraum (SEPA). Zwei weitere Teams arbeiten an der neuen Architektur, an Load-Balancing-Themen, Authentifizierung am Applikations-Server und der Plattform, auf der später die Business-Regeln laufen. "Das sind Techie-Projekte, wie sie im Buche stehen", sagt Nagel.

Das dritte Teilprojekt befasst sich mit der Benutzeroberfläche, die im Touch-Modus funktionieren wird. Auch hier gehen die Frankfurter den Weg der neuen IT-Architektur: Das Team definiert die verschiedenen Bildschirmmasken und Reports und bildet sie mit Hilfe von Metadaten ab. Das heißt, die GUI-Masken stehen zentral als Standard zur Verfügung und müssen nur noch mit wenigen "Handgriffen" an das jeweilige Endgerät angepasst werden.

Leichte Richtungsänderungen

Funktioniert die Entwicklung heute so viel anders als früher? Gül und Nagel stimmen unisono zu und betonen die Teamatmosphäre - im Gegensatz zum Programmieren im stillen Kämmerlein - und den kontinuierlichen Dialog, den Scrum erfordert. Wenn sich nach dem 14-Tage-Sprint alle wieder treffen, entfacht sich wie im Spiel ein gewisser Wettbewerb: "Dann wollen wir mal sehen, wie sich die Nuss knacken lässt!" schwingt im Hintergrund der engagierten Diskussionen mit.

Nein, die neue Unternehmenskultur hat nichts mit Anschreien zu tun. Scrum befeuert eher eine Art spielerischen Wettbewerb zwischen den Teams, die sich mit dem Thema beschäftigen.
Nein, die neue Unternehmenskultur hat nichts mit Anschreien zu tun. Scrum befeuert eher eine Art spielerischen Wettbewerb zwischen den Teams, die sich mit dem Thema beschäftigen.
Foto: Aaron Amat - Fotolia.com

Die zwei Hauptunterschiede und -vorteile gegenüber früher fasst Nagel so zusammen: "Heute sind leicht Richtungsänderungen möglich, die das relativ starre CMM verbietet." Außerdem begrüßt der Development Manager, dass Scrum weniger Entwicklungszeit verschwendet. Das war bisher immer dann der Fall, wenn in der Anforderungsstufe des CMM Aufgaben bis ins Detail vordefiniert wurden, um die Kapazitäten zu planen, die hinterher aber keine Priorität mehr hatten. Und Gül ergänzt: "Nun sind Kunden vergleichsweise bald in die Diskussion über Prototypen einbezogen. So lassen sich Fehlläufe verhindern und die Qualität der Ergebnisse steigern." Schon nach einem halben Jahr sei kein externer Rat mehr nötig gewesen.

Als wichtiges Argument im Kontext der Diskussion um den Fachkräftemangel ist aus Güls Sicht folgender Vorteil zu nennen: "In den Scrum-Teams treffen sich alte Hasen, die die Business-Regeln der Sage-Software wie aus dem Effeff kennen, und die Neuen, die HTML und Javascript beherrschen." So entstehe ein Schmelztiegel, in dem alle voneinander lernen. (hk)

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