"Haben wir bestellt, ist aber gerade nicht lieferbar", so einen Satz hat wohl schon jeder und jede in den letzten zwei Jahren mehrfach gehört. Die globalen Lieferketten, ein Netzwerk aus tausenden Produktionsstätten und Vertriebswegen, sind unter Dauerstress. Den haben die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg zwar ausgelöst, aber es gibt noch etliche andere Faktoren, die zu dem aktuellen Lieferchaos beitragen: Veraltete Supply-Chain-Management-Systeme, die nur einen Teil der Lieferkette managen und keine ganzheitliche End-to-End-Steuerung erlauben. Und die fehlende Automatisierung, um bei Schwierigkeiten automatisch gegensteuern zu können. Hinzu kommt, dass sich zudemdas Verbraucherverhalten kontinuierlich und teilweise auch abrupt verändert - man erinnere sich nur an Verkaufsschlager wie Klopapier, Solarpanele und Heizlüfter.
Unternehmen sind hier an zwei Fronten gefordert: Zum einen bei der Planung ihrer Supply-Chain-Prozesse, sodass sie diese robuster und sicherer sind. Zudem sollten sie noch Reserven haben, wenn akut Probleme auftreten und schnellstmöglich gelöst werden müssen. Da dies aktuell sehr häufig, aber unvorhersehbar auftritt, bindet es zu ungünstigsten Zeiten Personal und Ressourcen. Ziel sollte es deshalb sein, Störungen automatisiert zu erkennen und automatisiert zu beheben: Indem etwa Transporte umgeleitet oder Lagerbestände und Materiallieferung umverteilt werden.
Künstliche Intelligenz benötigt Daten
Künstliche Intelligenz ist, vorausgesetzt, sie wurde richtig trainiert und verfügt über die notwendigen Daten, in der Lage, auch in sehr komplexen Supply Chains heraufziehende Engpässe sehr früh - noch vor dem Eintreten - zu erkennen und automatisiert darauf zu reagieren. Basierend auf vorhandenen historischen und aktuellen Daten erstellt die KI Dann Prognosen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Ereignis eintritt. Als Beispiel sei hier ein verspätet eintreffendes Schiff mit wichtigen Teilen genannt. Entscheidend ist hier die Vorhersagegenauigkeit, wie groß die Verspätung sein wird.
Daraus lassen sich weitere Prozesse ableiten, die automatisiert ablaufen und somit die aufziehenden Schwierigkeiten vermeiden. Die KI spielt Was-wäre-wenn-Szenarien basierend auf verschiedenen Eintrittswahrscheinlichkeiten durch. Dann macht sie Vorschläge, die Materiallieferungen entsprechend umzuleiten oder zusätzliche zu bestellen. Möglich wäre natürlich auch, die KI eigenständig agieren zu lassen, was ein schnelles Reagieren ermöglichen würde.
Schnelligkeit ist Trumpf
Der Einsatz lohnt sich schnell, wenn im Falle einer zu langsamen Reaktion unzufriedene Kunden abspringen oder gar Strafzahlungen drohen. Gleichzeitig ist die Zeitersparnis immens. Auf eine Verspätung reagieren zu müssen und Warenströme händisch umzuleiten, kann einen menschlichen Mitarbeiter einen ganzen Arbeitstag beschäftigen. Die Maschine erledigt die Aufgabe dagegen binnen Minuten. Aber egal, ob Mensch oder Maschine am Werk sind, es ist wichtig zu wissen, dass es zu einer Verspätung kommen wird, bevor sie eintritt. Man spricht dabei von der Predicted Time of Arrival (PTA).
Solche Prognosen können nur funktionieren, wenn die KI über umfangreiche historische und aktuelle Daten aller Teile der Supply Chain verfügt, also einen hundertprozentigen End-to-End-Überblick hat. Dies gelingt umso besser, wenn die Daten nicht über mehrere Systeme verteilt vorliegen, sondern auf einer zentralen Supply-Chain-Plattform konsolidiert werden. Dies ist auch die Grundvoraussetzung dafür, dass automatisiert in alle Teile der Supply-Chain eingegriffen und Lieferungen maschinell umdisponiert werden können.
Ein KI-Prototyp macht noch keine industrielle Applikation
Viele Unternehmen sehen mittlerweile zu Recht im KI-Einsatz ein probates Mittel, um ihre Supply Chain resilienter zu machen und die Transportlogistik zu optimieren. Um die Wirkung zu testen, werden dann häufig Prototypen in Eigenregie entwickelt, die mit Bestandsdaten gefüttert, trainiert und in Testläufe geschickt werden. Das funktioniert in der Probephase für ein begrenztes Einsatzumfeld ganz gut. Diese Prototypen schaffen es aber selten in den produktiven Betrieb. Dieses Dilemma ist der AI Chasm, also die KI-Lücke.
Gefahr des Overfitting
Ein Grund hierfür ist schwaches, nicht aktuelles Datenmaterial. Es ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, nicht nur einen Prototypen mit manuell konsolidierten "Spieldaten" zu trainieren, sondern Prozesse und Systeme zu implementieren, die hochqualitative, aktuelle, verlässliche Daten liefern. Dabei gilt es, ein "gesundes" Verhältnis von Datenmenge und möglichen Parametern zu finden. Ist die Datenmenge zu gering oder die Parameteranzahl zu hoch, kann es schnell zu einem sogenannten Overfitting kommen. Die KI sieht dann Zusammenhänge, wo keine sind und interpretiert deshalb neue Daten falsch. Mangels "Gegenbeispielen" in den Daten fällt die Fehleinschätzung nicht auf. Dadurch entstehen Prognose-Modelle, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen und nur mit den Trainingsdaten funktionieren.
Die Daten müssen deshalb dafür geeignet sein, die KI regelmäßig einem Retraining zu unterziehen, damit sie aus eigenen Fehlern lernt. Sie sollten hierzu aus historischen und aktuellen Daten bestehen. Schon aus diesem Grund ist die Konsolidierung der Datenbestände auf einer Plattform Pflicht, aber beileibe nicht einfach. So sind die Daten häufig von sehr unterschiedlicher Qualität, teilweise unstrukturiert und über diverse Systeme verteilt.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Algorithmen oft nicht ausreichend in eine Infrastruktur für das Supply-Chain-Management integriert sind. Zudem ist die Entwicklung von KI-Algorithmen, die in globalen Lieferkettensystemen autonom entscheiden und dabei tatsächlich optimieren und keinen Schaden anrichten, ein relativ aufwendiges Unterfangen. Nicht umsonst gibt es Unternehmen, die sich darauf spezialisiert haben und seit Jahren KI-Modelle für Lieferkettensysteme entwickeln und verbessern, um sie optimal auf diesen Einsatzzweck auszurichten.
Für den Anwender ist es wiederum wichtig, den KI-Entscheidungen vertrauen zu können. Deshalbmuss die KI ihre Entscheidungen und Prognosen für Menschen nachvollziehbar erklären können. Außerdem müssen ihre Entscheidungen reproduzierbar sein.
Fazit
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz mit Methoden wie Machine Learning ist mittlerweile ein "Must Have" für global agierende Unternehmen mit komplexen Lieferketten. Die Einführung ist aber an einige Bedingungen geknüpft, mit denen sich Unternehmen auseinandersetzen müssen. Nicht selten erfordert eseine Reorganisation und Konsolidierung der Supply-Chain-Management-Systeme.