Die einen empfinden Umbrüche als Bedrohung und schalten in den Krisenmodus. Die anderen sehen sie als Chance. Schließlich sind dem Experimentieren mit dem Unbekannten erst einmal keine Grenzen gesetzt. Also warum nicht mit alten Regeln brechen und eigene Strukturen schaffen?
Abschauen kann man sich dabei von denjenigen etwas, die schon Erfahrungen gesammelt haben. Denn wie fast alles entsteht auch die Arbeitswelt von morgen nicht aus dem Nichts. Trotzdem tun sich viele Unternehmen mit der praktischen Umsetzung schwer. Aktuell haben laut einer Studie der Haufe Group zur zukünftigen Arbeitswelt im Mittelstand nur 27 Prozent der Mittelständler in Deutschland ein Konzept für neue Arbeitsformen erarbeitet und umgesetzt. Insbesondere
eine reduzierte Arbeitsbelastung,
flache Hierarchien,
ein kooperativer Führungsstil,
eine gelockerte Arbeitskultur sowie
eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben
sind nach wie vor vernachlässigte Themen.
Startups bringen zwar grundsätzlich ein anderes Mindset mit, trotzdem fehlen auch hier Erfahrung und Zeit, sich neben dem Unternehmensaufbau auch noch mit New Work zu beschäftigen. Gut, wenn es etablierte Unternehmen gibt, die vorangehen und zeigen, wie sich die Ideen und Methoden im Arbeitsalltag anwenden lassen.
New Work ist, was wir daraus machen
Zu den Vorreitern gehört das im SDAX vertretene Digital-Engineering-Unternehmen Nagarro, das rund 19.500 Mitarbeitende in 35 Ländern beschäftigt und im Vorjahr 856 Millionen Euro umsetzte. Neues Arbeiten wird hier im Zuge der Digitalisierung seit einigen Jahren forciert.
New-Work-Konzepte kommen häufig aus Indien und Nordamerika. Doch auch in Deutschland finden sie zunehmend Anklang. Nagarro agiert beispielsweise ganz ohne Headquarter, Hierarchien, CXO-Rollen und interne Jobtitel. Gearbeitet werden darf und soll ausdrücklich zu jeder Zeit von überall aus, ohne fixen Zeitplan oder genaue Vorgaben. Im Moment gilt das als eine zukunftsweisende Organisationsstruktur und hat laut Annette Mainka, Executive Board Member bei Nagarro, nicht dazu geführt, dass die Company im Chaos versinkt, sondern wirtschaftlich vielmehr erfolgreich arbeitet.
- Flexibles Arbeiten in der IT-Brache
Nach dem Ende der Home-Office-Pflicht etablieren sich in den Unternehmen die unterschiedlichsten Arbeitsmodelle, wobei es viele Beschäftigte zumindest wieder teilweise vom Home-Office ins Firmenbüro zieht. Der Trend geht zum hybriden Arbeiten, wie eine Umfrage in der Digitalwirtschaft zeigt. - Rabea Thies, Head of People and Culture bei Meister
"Wenn wir jemandem vertrauen, dann glaube wir auch daran, dass diese Person selbst einschätzen kann, wann und wo sie am besten arbeiten kann. Daher haben wir uns letztlich entschlossen, sowohl auf eine Kernarbeitszeit sowie auf verbindliche Bürotage und -anwesenheitspflichten vollständig zu verzichten." - Julian von Blücher, Gründer und CEO von Talent Tree
"Bei Talent Tree gibt es keine Vorgabe, eine bestimmte Anzahl von Tagen im Firmenbüro zu arbeiten. Das alles funktioniert aber nur, weil bei uns ein sehr hohes Maß an gegenseitiger Unterstützung herrscht. Es gibt bei uns keine Trittbrettfahrer:innen, dafür aber eine Menge psychologischer Sicherheit." - Christian Deponte, Vice Präsident bei New Relic
"New Relic hat ein ein sogenanntes 'Flex First'-Modell eingeführt, mit dem es den Mitarbeitenden weltweit frei steht, dort zu arbeiten, wo sie möchten. Mit den richtigen Online-Tools und Ritualen bieten wir allen Mitarbeiter:innen die Möglichkeit, den Anteil des remoten Arbeitens selbst zu bestimmen." - Linda Hoffmann, Senior Business Development Managerin bei Shopify
„Das Ende der Home-Office-Pflicht wird an unserem Digital-by-Design-Ansatz nichts ändern, da unsere Entscheidung von Anfang an über die Pandemie hinausgedacht war und wir gesehen haben, welche Vorteile sich für alle ergeben – besonders im Hinblick auf eine ausgewogene Work-Life-Balance.” - Lars Riehn, Practice Lead People & Culture bei Skaylink
"Bei Skaylink war auch schon vor der Pandemie hybrides und verteiltes Arbeiten üblich. Das Thema Anwesenheit wurde schon immer individuell geregelt. Auch unser Onboarding war stets hybrid und wird es auch nach der Pandemie bleiben." - Martin Baart, CEO ecoligo
"Wichtig ist es, dass alle Teammitglieder genau wissen, wie und wozu welche Tools verwendet werden. Regelmäßiger Austausch mit dem gesamten Unternehmen, lockere Coffee-Talk-Sessions und virtuelle Feiern haben bei uns den Teamgeist nicht nur erhalten, sondern sogar weiter gefördert." - Haiko van Lengen, CEO Diamant Software
"Für uns war klar, dass wir die Frage, wie wir mit dem Aus der Home-Office-Pflicht umgehen möchten, nur in einem sehr offenen Dialog klären und entscheiden können. Das Ergebnis war, dass die deutliche Mehrheit der Diamant-Mitarbeitenden zurück ins Büro möchte und sich ein hybrides Modell wünscht. Daher werden bei Diamant Software perspektivisch zwei Arbeitstage pro Woche im Büro angestrebt, wobei es auch individuelle Anpassungen je nach Abteilung gibt." - Johannes Woithon, Gründer und Geschäftsführer von orgavision
"Bei uns stand hybrides Arbeiten nie auf der Agenda. Es wurde bereits vor der Pandemie davon ausgegangen, dass im Büro gearbeitet wird, und das hat niemand hinterfragt. Hinzu kommt, dass unser Büro sehr schön ausgestaltet ist und Arbeiten im Büro das Wir-Gefühl des Unternehmens stärkt. Die Arbeit von überall und komplett virtuell hat eben auch Nachteile und ohne persönliche Begegnungen kann nur schwer eine Unternehmenskultur entstehen."
Eckpfeiler der Organisation
Im Organisations-Design gibt es mehrere Eckpfeiler. Die Klammer über all dem sind die sogenannten Caring-Werte:
Kundenzentriert: Das Ziel ist im Idealfall die perfekte Kundenlösung.
Agil: Das Unternehmen möchte Mitarbeiter befähigen, wie Entrepreneure zu handeln. Nagarro nennt das "Entrepreneurial Spirit", ein unternehmerisches Denken, das eigentlich für Startups typisch ist.
Verantwortlich: Man pflegt eine starke Feedback- sowie Fehlerkultur und ermuntert die Mitarbeitenden dazu, innovativ zu sein, auch wenn das einmal schiefläuft.
Intelligent: Die Themen Lernen und Wissensaustausch sind wichtig und werden beispielsweise durch die hauseigene University und virtuelle Meetups gefördert.
Hierarchielos: Vor zwei Jahren wurden Berufstitel im Unternehmen offiziell gestrichen. Jetzt ist es beispielsweise möglich, dass selbst Praktikanten den Mitgründer direkt kontaktieren können, ohne dass es als unpassend angesehen wird.
Global: Nagarro bezeichnet sich als "Truly Global Company". Das steht für die internationale Präsenz, die gleichzeitig eine hohe Verfügbarkeit und eine diverse Unternehmenskultur mit sich bringt. Allein im Senior Management sind Menschen aus sechzehn verschiedene Nationalitäten vertreten.
Kultur und Werte als Arbeitsgrundlage
Entstanden ist der organisatorische Paradigmenwechsel weder am Reißbrett noch durch externe Beratung, sondern ganz natürlich im Laufe der Zeit. Gegenseitiges Vertrauen war schon immer ein wesentlicher Aspekte der Firmenkultur - die Eckpfeiler darum herum sind das Ergebnis eines Prozesses aus der Historie des Unternehmens. "Wir haben erkannt: Je stärker unsere Werte gelebt werden und je stärker der innere Zusammenhalt ist, desto besser sind die Lösungen, desto besser können die Mitarbeitenden bei den Kunden liefern", erklärt Mainka.
Unternehmen, die eine solch unkonventionelle Organisationsform ausprobieren wollen, rät sie, Kultur, Werte sowie die Menschen konsequent in den Mittelpunkt zu stellen und sie langsam an diese Prozesse sowie eine neue Zusammenarbeit heranzuführen. Außerdem sollte mit einer agilen Teamarbeit auf Augenhöhe begonnen werden.