Kennen Sie das? Ihr Projekt steht kurz vor der Einführung und im Status-Meeting gehen Sie im Team alle notwendigen Vorbereitungen noch einmal durch. Plötzlich meldet sich einer der Teilnehmer: "Nein, also das kann ich jetzt überhaupt nicht mittragen, ich fühle mich irgendwie nicht abgeholt!"
Sie zucken zusammen. Wieder ein Teammitglied, der dieses verzweifelte Gefühl des zurückgebliebenen, ausgestoßenen Kollegen beschreibt. Der eine, der von allen anderen ignoriert wurde. Der, den man nicht "abgeholt" hat. Oder handelt es sich in diesem Fall doch eher um eine Flucht in die Rolle des Opfers? Der Mitarbeiter, der nicht informiert wurde, den man nicht "abgeholt" hat! Deswegen kann er nicht die Unterstützung oder die Leistung erbringen, die alle anderen im Team von ihm jetzt so dringend benötigen. Bis zu diesem Moment hat er allerdings nie den Wunsch geäußert, man möge ihn informieren und auf den aktuellen Stand des Projektes bringen. Die Statusberichte hat er nicht gelesen. Wer macht das schon? Nein, er war auch bei den Stand-up-Meetings nicht dabei. Er hatte leider anderweitig zu viel zu tun…
Der Vorwurf nicht "abgeholt" zu werden, wiegt schwer und ist aus unerfindlichen Gründen sehr wirkungsvoll. Warum kommt eigentlich in diesen Schrecksekunden niemand auf die Idee, dem Kollegen zu erklären, dass er zu spät ist? Er hatte alle Zeit der Welt und ihm standen alle Kommunikationsmittel zur Verfügung, um sich in das Projekt einzufinden und all seine Fragen zu klären. So wie alle anderen im Team es auch konnten. Aber nein, er wurde nicht "abgeholt"!
Alle bekommen einen Fahrschein!
Um solche Situationen im nächsten Projekt zu vermeiden, ist das folgende Format eines Team-Workshops sehr nützlich. Es ist einfach zu organisieren und durchzuführen. Der notwendige Vorbereitungsaufwand ist so gering, dass Sie es auch spontan einsetzen können. Das Format nennt sich "Busfahrt".
Wenn Sie beispielsweise in einem Team tätig sind und sicherstellen wollen, dass alle Mitglieder lückenlos informiert sind, dann setzen Sie einen mindestens neunzigminütigen Termin an. Als Einladung erhalten alle Teilnehmer eine Busfahrkarte. Sie können diese als E-Mail versenden. Sie können aber auch eine Busfahrkarte erstellen, ausdrucken und an jeden Teilnehmer persönlich aushändigen. Das klingt aufwändig, hat aber einen wirksamen Vorteil: Im Gegensatz zu einer E-Mail landet Papier weder im Spam-Ordner, noch wird es in der Inbox "übersehen".
Wer einen Fahrschein bekommt, weiß, dass er mit von der Partie ist. Er weiß, wann der Bus abfährt. Er kennt die Haltestelle und Abfahrtszeit. Wenn er den Fahrschein nicht einlöst und nicht an dem Workshop teilnimmt, ist ihm eine mögliche Ausrede versperrt. Er ist dann einfach nicht mitgefahren, wurde aber ganz sicher abgeholt.
Routenplaner
Zu Beginn des Busfahrt-Workshops zu Ihrem Projekt fragen Sie oder der Moderator alle Teilnehmer nach den Orten, die sie anfahren wollen. Darunter sind Fragen zum Projekt, zum Thema oder dem Vorhaben zu verstehen, an dem Sie und die Teilnehmer gemeinsam arbeiten. Orte können auch Status- oder Risikoberichte sein, die bewusst und gemeinsam gelesen oder präsentiert werden. Auch Anforderungskonzeptionen fallen darunter, die so verkopft sind, dass sie in der Regel niemand liest, geschweige denn ohne persönliche Erklärung versteht.
Die von den Teilnehmern genannten Orte notieren Sie in der Reihenfolge ihrer Nennung auf einem Flipchart oder Whiteboard. Anschließend bitten Sie jeden Teilnehmer, einzuschätzen, wie viel Zeit für die Besichtigung des Ortes eingeplant werden soll, den er vorgeschlagen hat.
Als Drittes wird jeder Teilnehmer gebeten festzulegen, welche Art der Besichtigung er sich für seinen Ort wünscht. Hält er eine FAQ-Session für notwendig, in der die wichtigsten Fragen zu einem Aspekt des Projektes behandelt werden? Oder ist eine Reverse-Presentation-Session nützlich, in der die Inhalte einer fachlichen Konzeption von dem vermeintlich abgehängten Mitreisenden der Reisegruppe vorgestellt werden? Es ist auch denkbar, einen Prototypen, wie man ihn aus Design Thinking kennt, zu erstellen. Ein abstrakter Sachverhalt wird damit visuell oder (be-)greifbar dargestellt, um ihn nachvollziehbar und zugänglich zu machen.
Wenn Sie das Kommunikationsformat Lean Coffee kennen, sollte Ihnen die Idee bekannt vorkommen.
Das Fotobuch der Erinnerungen
Ist die für den Workshop geplante Zeit abgelaufen, können die Orte, die nicht besucht wurden, für die nächste Busfahrt aufgehoben werden. So entsteht ein sich kontinuierlich entwickelndes und aktuelles Backlog an Themen, die geklärt oder vertieft werden sollten. Darüber entwickeln die Mitreisenden von Busfahrt zu Busfahrt ein gemeinsames Ortsverständnis zu ihrem Projekt oder dem gemeinsamen Arbeitsgegenstand. Dies versetzt sie außerdem in die Lage, auch außerhalb der Busfahrt erarbeitete und gewonnene Erkenntnisse untereinander weiterzugeben oder auszutauschen.
Über Fotoprotokolle, die im digitalen oder auch realen Projektraum hinterlegt werden, kann jedes Mitglied der Reisegruppe in Erinnerungen schwelgen, die wieder vergessenen Details in Erinnerung rufen und sogar interessierten Projektgästen von den besichtigten Orten berichten.
Fazit: Ausreden ausreden
Die Busfahrt wirkt auf unterschiedlichen Ebenen der Team-Dynamik und Kollaboration gleichermaßen. Die Teilnehmer der Reise werden aktiv in die Verantwortungsübernahme für ihren Leistungsbeitrag und ihre Kommunikationspflicht genommen. Die Orte, also Themen, zu benennen, die sie nicht verstanden haben oder besser verstehen wollen, liegt bei ihnen selbst. Zu einem späteren Zeitpunkt den Vorwurf über mangelndes Verständnis aufgrund fehlender Erklärungen zu äußern, wird damit immer schwieriger.
Das Format der Erklärung von Themengebieten wird von den Teilnehmern ebenfalls selbst bestimmt. So kann dem Vorwurf begegnet werden, dass bestehende Kommunikationsformate oder -wege nicht angemessen oder ausreichend wirksam oder verständlich waren.
Wer also die Einladung zu einer Busfahrt erhält und nicht daran teilnimmt, wer während der Reise keine Orte benennt, die er schon immer besser kennenlernen wollte, der wird sich nur schwerlich auf seine Opferrolle zurückziehen können oder beklagen, er fühlte sich nicht "abgeholt". (jd)