Bei Rémy Cointreau legt man Wert auf Tradition. Der Spirituosenhersteller blickt auf eine mehr als 300-jährige Geschichte zurück. Dennoch war den Verantwortlichen - und insbesondere CTO Sébastien Huet - klar, dass die Dinge im Zeitalter der digitalen Transformation manchmal etwas schneller ablaufen müssen als beim Reifeprozess eines guten Cognacs.
Alter Cognac, neue Schläuche
Als Huet vor knapp sechs Jahren zu Rémy Cointreau stieß, betrieb das Unternehmen ein Rechenzentrum in der namensgebenden Stadt Cognac. Das hatte seine besten Zeiten offenbar bereits hinter sich, wie der CTO erzählt: "Die IT war ziemlich veraltet. Jede Änderung nahm Monate in Kauf - mindestens."
Die Schwierigkeiten beschränkten sich allerdings nicht nur auf das französische Headquarter. Eine Zweigstelle in Vietnam, die kurz vor Huets Einstellung eröffnet wurde, musste ganze sechs Monate ohne WLAN-Verbindung auskommen. Die Herausforderung, die der damalige CEO an Huet stellte: Künftig solle die (reibungslose) Neueröffnung neuer Zweigstellen in Tagen statt Monaten ablaufen.
"Also haben wir die gesamte IT-Infrastruktur neu designt, um dieses Ziel zu erreichen," erzählt Huet, bevor er hinzufügt: "Ich glaube heute würden wir eine Zweigstelle an einem Tag eröffnen, weil wir wirklich alles neu durchdacht haben, von der Security über den Zugriff auf Applikationen bis hin zum Infrastruktur-Management und Netzwerk-Design."
Die Modernisierungsoffensive bei Rémy Cointreau beinhaltete, zwei SAP-Instanzen miteinander zu kombinieren. Die eine bildete Produktions-, die andere die Distributionsprozesse ab. Beide Instanzen mussten ein Upgrade von SAP R/3 auf S/4HANA durchlaufen, bevor sie in die gemanagte Infrastruktur der Google Cloud Platform überführt werden konnten. "Wir haben alles zeitgleich abgewickelt - alles andere hätte keinen Spaß gemacht", so der CTO.
Modernisierungs-Spirit
Die gesamte ERP-Transformation beim französischen Cognac-Hersteller dauerte zwei Jahre: Eines für die Planung, ein weiteres, um den Benutzern in verschiedensten Workshops die Prozesse, die Infrastruktur und die Software näherzubringen.
Bei Rémy Cointreau wurden SAP-Lösungen im Produktionsprozess erstmals im Jahr 2008 implementiert. Bis 2009 auch bei der Distribution der Umstieg auf ein Inhouse-SAP-System erfolgte, lief diese über eine Joint-Venture-Lösung, die das Unternehmen mit drei anderen Getränkeproduzenten aufgesetzt hatte.
Die ERP-Modernisierung selbst erforderte eine iterative Vorgehensweise, wie CTO Huet erläutert: "Sie müssen mit den Menschen sprechen, die die Systeme jeden Tag benutzen und sich ein Bild von deren Pain Points machen. Welche Dinge gilt es zu verbessern? Welche neuen Möglichkeiten entstehen durch die neuen Systeme?".
Als es um die Wahl der richtigen Partner ging, setzte Huet auf einen Mix aus alt und neu: Oxyga (eine Tochter der Hitachi Group) hatte bereits zuvor Managed Services für die SAP-Applikationen von Rémy Cointreau geliefert. Auch der Systemintegrator PM Conseil war bereits an Bord. Die Suche nach einem Cloud-Infrastruktur-Provider gestaltete sich da schon wesentlich diffiziler, obwohl das Unternehmen bereits mit Amazon Web Services zusammenarbeitete: "Wir wollten einen weiteren Anbieter ins Boot holen - einerseits, um einen Vendor-Lockin zu verhindern, andererseits, um dafür zu sorgen, dass unsere Teams weiterhin in Bewegung bleiben."
Am Ende lief es auf ein Wettbieten von Microsoft und Google hinaus, dass der Suchmaschinen-Gigant am Ende knapp für sich entscheiden konnte, wie Huet preisgibt.
Das Go-Live des neuen Systems sollte Anfang April 2020 erfolgen - ein Plan, dem die Corona-Pandemie einen Strich durch die Rechnung machte. Dies hätte in ein Desaster münden können - wenn der CTO und sein Team nicht in den fünf Jahren zuvor alles dafür getan hätten, Rémy Cointreau auch in Sachen Agilität auf Vordermann zu bringen. So funktionierte der Umstieg auf Remote Work für die weltweit 1.800 Mitarbeiter reibungslos.
Remote-Schwankungen
Weniger reibungslos gestaltete sich hingegen das Management der Teams, wie der CTO einräumt: "Der Faktor Mensch ist auf Distanz schwierig zu managen - insbesondere, wenn es darum geht, Überlastungen zu erkennen. Ein Dashboard dafür gibt es schlicht nicht - wir haben deshalb versucht, allen Mitarbeitern so viel Aufmerksamkeit wie nur möglich zu widmen. Und zwar nicht nur ihren Rollen und Positionen, sondern auch den Menschen hinter den Titeln."
Am Ende verzögerte sich das Migrationsprojekt von Rémy Cointreau lediglich um zwei Wochen. Den unverhofften Remote-Work-Umschwung sieht CTO Huet hingegen als gute Übung für die demnächst anstehenden Rollouts in China und den USA - auch dieses Vorhaben soll remote abgewickelt werden.
Der Move in die Cloud war für den CTO und das gesamte Unternehmen lehrreich: Erstens sei es unabdingbar, die Cloud-Modelle und ihre individuellen Vor- und Nachteile wirklich zu verstehen, um sie auch nutzen und Vorteile erschließen zu können, so Huet. "Zweitens: Agilität kostet. Wenn man Dinge auf einmal schneller tun kann, besteht die Gefahr, dass man auch mehr tut. Wenn diese Dinge in der Cloud ablaufen und nach Nutzung abgerechnet wird, kann das schnell zu hohen Kosten führen. Das hatte auch in unserem Fall anfangs Auswirkungen auf die Budgets und hat uns überrascht." (fm)
Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation CIO.com.