Die Funktion des Managers oder der Führungskraft, wir wollen hier beide Begriffe synonym nutzen, steht nach wie vor in der Kritik. Auch 2019 hat Gallup in seiner weltweiten Umfrage zur Motivation von Angestellten festgestellt, dass inkompetente Manager der größte Frustrationsfaktor sind. Gallup beziffert den daraus resultierenden volkswirtschaftlichen Schaden auf bis zu 122 Milliarden Euro jährlich.
Managementverantwortung? Nein, danke!
Dieser Zustand wird von Gallup seit mehreren Jahren immer wieder festgestellt, und es scheint keine Besserung in Sicht. In Deutschland machen 85 Prozent der Mitarbeiter entweder Dienst nach Vorschrift oder haben schon innerlich gekündigt. Da wundert es nicht, dass immer weniger Menschen die Übernahme von Managementverantwortung als eine beruflich attraktive Entwicklungsperspektive ansehen. Das ergab eine dazu passende Studie der Unternehmensberatung BCG aus demselben Jahr, dass in Deutschland lediglich sieben Prozent der Befragten eine Managementfunktion übernehmen möchten. In China sind es dagegen 47 Prozent.
Das sind in jeder Hinsicht niederschmetternde und aussichtlose Entwicklungen. Und diesen Trend verstärkt eine sich seit etwa zehn Jahren immer intensiver werdende Tendenz in fast allen Branchen, sich selbst organisierende Arbeitsformen zu etablieren und damit den Manager selbst als Organisationsfaktor von Arbeit in den Hintergrund treten zu lassen. Im Zuge dieses Trends entstehen alternative Managementmodelle, wie dem Servant Leader oder dem Manager als Coach seines Teams, die ein neuartiges aber relativ diffuses Verständnis von Management beschreiben.
Es ist offensichtlich an der Zeit oder sogar überfällig, die Funktion des Managers aufzugeben, da sie aus der Zeit der Digitalisierung gefallen zu sein scheint. Oder wir müssen die Rolle des Managers und seinen Beitrag neu erfinden. Bevor wir die sprichwörtliche Flinte ins Korn werfen, was ja immer der leichteste Weg ist, möchte ich einen Weg zur zweiten Alternative vorstellen. Doch bevor wir das tun, noch ein kleiner Geschichtsexkurs, um zu verstehen, wie es soweit kommen konnte.
Die Geschichte der Hierarchie
Die Form der heute noch weltweit gängigen Organisationsstrukturen in Unternehmen und auch deren Managementhierarchie hat ihren Ursprung in der katholischen Kirche. Der Papst an der Spitze der Organisation beherrscht die Kardinäle. Diese beherrschen die Bischöfe, die wiederum den Priestern vorstehen. Und die Priester haben den gewöhnlichen Menschen vorgeschrieben, wie sie zu leben und sich zu verhalten haben. Sicher, die Qualität und die Auswirkung der kirchlichen Organisationsstruktur ist heute im westlichen Europa nicht mehr mit dem Mittelalter zu vergleichen.
Unternehmen sind heute nach wie vor in ihrer Organisationsstruktur und Hierarchie mit der kirchlichen vergleichbar. An der Spitze steht der CEO, also der Chief Executive Officer. Von diesem geht die Entscheidungsautorität qua seines Status weiter zu den übrigen Officern, von diesen zum Mittelmanagement und den sich dann unterordnenden Abteilungs- oder Teamleitern. Der einzelne Mitarbeiter ist einem Manager untergeordnet, den wir bemerkenswerterweise im Deutschen auch Vorgesetzter, also dem Mitarbeiter vorgesetzt, nennen. Dieser bestimmt die Arbeitsinhalte und Arbeitsweisen des Angestellten und besitzt oft auch die disziplinarische Gewalt aus arbeitsrechtlicher Sicht. Was diese Struktur dokumentiert, ist nicht, wie die Organisation funktioniert und ihre operative Leistung erbringt, sondern, wie Entscheidungsbefugnisse und, wie Erich Fromm sie in seinem Buch "Die Furcht vor der Freiheit" nennt, irrationale Autorität verteilt ist.
Als Folge der beschriebenen Organisationsform ist ein Unternehmen nur so leistungs- und anpassungsfähig, wie die in der Hierarchie qua ihres Status mit Macht ausgestatteten Personen es zulassen oder ermöglichen. Das bedeutet, dass Manager in einer so strukturierten Organisation der limitierende Faktor sind, da das von ihnen praktizierte Managementmodell auf Kontrolle und Steuerung ausgerichtet ist und nicht auf Förderung, Ermöglichung, Veränderung, Anpassung oder Befähigung. Und diese historisch begründete Situation stellt den zentralen Kritikpunkt hierarchischer Organisstionsstrukturen im Rahmen der digitalen Revolution dar. Die Dynamik des Wirtschaftsumfeldes ausnahmslos aller Unternehmen hat die Grenzen der Leistungsfähigkeit hierarchischer Strukturen sichtbar gemacht und die Notwendigkeit der Entwicklung alternativer Konzepte erzwungen. Der eingangs erwähnte Trend zu selbstorganisierten Kooperationsformen repräsentiert diese Notwendigkeit der Neuentwicklung.
Die Leadership-Alternative
Wie kann nun ein neuentwickeltes Managementmodell in einem selbstorganisierten Unternehmen aussehen? Ist Management hier überhaupt nötig? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns im nächsten Schritt davon trennen, wie Management aktuell überwiegend verstanden und praktiziert wird, und uns darauf konzentrieren, welchen Beitrag Management im Kontext eines Wirtschaftsunternehmens leistet. Für diese Dekonstruktion bedienen wir uns der Systemtheorie und der darin angesiedelten Kybernetik, also der Wissenschaft von der Funktionsweise komplexer Systeme oder, wie Nobert Wiener es 1948 definiert hat, "The control and communication in the animal and the machine".
Was ein komplexes System, wie beispielsweise ein Unternehmen, benötigt, um funktionsfähig zu sein, wurde von Wieners Kollegen Stafford Beer mit dem Viable System Model bereits 1972 beschrieben. Neben der zentralen und operativen Fähigkeit eine Leistung zu erbringen, also beispielsweise die Handwerkskunst des Möbelschreiners, Tische und Schränke zu konstruieren und herzustellen, werden zusätzlich elementare organisatorische Fähigkeiten benötigt, um als Unternehmenssystem überhaupt existieren und sich entwickeln zu können.
Stark vereinfacht ausgedrückt handelt es sich dabei um die folgenden fünf Fähigkeiten.
Sinn stiften, Regeln vereinbaren und deren Einhaltung ermöglichen
Anpassung und Entwicklung bestehender und neuer Fähigkeiten
Rahmenbedingungen und Ressourcen sicherstellen und Risiken vorbeugen
Kommunikation und Koordination nach innen und nach außen ermöglichen
Messen von Leistungsniveau und Leistungsbalance
Noch ein kurzer Exkurs zum Thema Selbstorganisation. Was ist das und welchen Nutzen soll sie stiften? Das ist von der jeweiligen Perspektive abhängig. Aus Sicht des Unternehmers wird die Hoffnung oder Erwartung an Selbstorganisation geknüpft, dass Mitarbeiter eine höhere Leistung in kürzerer Zeit und zu geringeren Kosten erbringen, als es in der traditionell hierarchischen Arbeitsstruktur der Fall war. Wer bei dieser Auslegung nicht aufpasst, landet sehr schnell in derselben Arbeitsverdichtungsfalle, wie es bei klassischen Reorganisationsprogrammen überwiegend das Ziel ist.
Aus der Sicht des Mitarbeiters geht es vor allem darum, Eigeninitiative und Eigenverantwortung über die eigene Arbeitsweise, Arbeitsleitung und die Arbeitsinhalte zurück zu gewinnen. Man könnte es auch als Emanzipation des Mitarbeiters von der Eltern-Kind-Beziehung hierarchischer Unternehmensstrukturen verstehen.
Was beide Perspektiven eint, ist der Begriff der Selbstorganisation. Wobei hier unterschiedliche Definitionen je nach Perspektive genutzt werden. Aus der Sicht des Arbeitsgebers sollen die Mitarbeiter die Umsetzung notwendiger Aufgaben selbst organisieren, die ihnen von einem Vorgesetzten oder einer, neudeutsch auch Business Owner oder Product Owner genannten Machtinstitution, vorgegeben werden.
- Der Sportdirektor eines Vereins
Der Sportdirektor eines Vereins stellt den Kader zusammen und gestaltet die Spiel- und Terminpläne für Wettkämpfe und Trainings. Er instruiert Talentscouts, kauft Spieler ein und stellt Bewegungsfreiheit für erforderliche Transfers sicher. Sein Ziel: Menschen zu finden und zu binden, die die Weiterentwicklung des Unternehmens konstant antreiben. Er erweitert die Suchkriterien für die Rekrutierung, stellt Mitarbeiter mit verschiedensten Hintergründen ein und ermöglicht Familien- und altersgerechte Arbeitszeitmodelle. - Führung in der Digitalisierung
Die Studie "Die Haltung entscheidet. Neue Führungspraxis für die digitale Welt" stammt von LEAD (Mercator Capacity Building Center for Leadership & Advocacy) in Kooperation mit der Unternehmensberatung Company Companions sowie der School of Public Policy (Central European University, Budapest) und dem Center for Leadership and Values in Society (Universität St. Gallen). Die Autoren empfehlen acht Rollen als Orientierungshilfen. - Die Landschaftsgärtnerin
Die Landschaftsgärtnerin gestaltet und pflegt Grünanlagen. Sie versteht das gesamte Ökosystem und weiß, wann welche Pflanzen im Jahreszeitenwechsel an welcher Stelle ihre Wirkung entfalten und wie alles zusammenspielt. Ihr Ziel: Das Unternehmen langfristig auf zustellen, wenn Krise und Veränderung zum Normalfall geworden sind. Sie ermöglicht schnelles „Prototyping“, geht unkonventionelle Partnerschaften ein und bricht Silos mittels heterogener, cross-funktionaler Teams auf. - Die Seismologin
Die Seismologin muss wissen, wo die Erde beben könnte. Dafür analysiert sie Daten, registriert feinste Erschütterungen und erkennt Spannungen frühzeitig. Sie erliegt aber nicht der Illusion, die Zukunft genau vorhersagen zu können. Ihr Ziel: Grundlagen für gute Entscheidungen in einer unübersichtlichen Welt zu schaffen. Sie etabliert „Situation Rooms“ zur Entwicklung von Handlungsstrategien, greift über digitale Plattformen auf verborgenes Wissen zu und schult ihre Intuition als zusätzliche "Datenquelle". - Der Zen-Schüler
Der Zen-Schüler ist in Ausbildung und Vorbereitung. Er lernt, reflektiert und prüft sich selbst. Achtsamkeit, Mitgefühl und Offenheit sind seine Tugenden, er pflegt eine disziplinierte (spirituelle) Praxis. Sein Ziel: Das finden, woran er sich festhalten kann, wenn sich alle an ihm festhalten. Er nutzt Coaching- und Mentoring-Programme, schafft physische Räume für den Ausgleich und richtet den Blick nach innen. - Der DJ
Der Discjockey bringt mit seiner Musik die Menschen zum Tanzen. Er setzt einen Rahmen, der motiviert, anregt und gemeinsame Energie erzeugt. Zugleich hat er ein offenes Ohr für Anregungen und sensible Antennen für das richtige Stück im richtigen Moment. Sein Ziel: Eine Kultur der Zugewandtheit zu schaffen – aber mit dem Fokus auf Ergebnisorientierung. Dafür baut er Empathie als Führungskompetenz auf, schafft Räume, in denen Menschen gerne arbeiten, und agiert als Vorbild für Zugewandtheit und Leistungsorientierung. - Die Intendantin eines Theaters
Die Intendantin eines Theaters wählt die Stücke für die Aufführung aus. Sie entwickelt den roten Faden und prägt die gesellschaftliche Wirkungskraft ihres Hauses. Die Künstler und deren Expertise bindet sie dabei ein. Ihr Ziel: in Zeiten großer Unsicherheit und Unplanbarkeit Orientierung zu geben. Über ein „Strategy Board“ schafft sie die Voraussetzung für Richtungsentscheidungen schaffen, erhöht mittels interaktiver Beteiligungsformen die Einigkeit über die Richtung – und hat den Mut zu klaren Ansage in der Krise. - Die Trainerin
Die Trainerin leitet eine Mannschaft taktisch, technisch und konditionell an. Sie bestimmt Trainingsablauf, Mannschaftsaufstellung und Strategie. Sie muss für Misserfolge geradestehen, Erfolge lässt sie ihrem Team. Ihr Ziel: Die Mitarbeiter zu mehr Verantwortungsübernahme zu befähigen. Dafür entwickelt sie über zeitgemäße Lernformate Kompetenzen entwickeln, baut gegenseitiges Vertrauen auf und führt Anreize zur Übernahme von Verantwortung ein. - Der Blogger
Der Blogger kommentiert Geschehnisse – zugespitzt, aufrüttelnd und meist aus einer persönlichen Sichtweise. Er will die Welt verstehen, erklären und übersetzen. Er lebt vom direkten Feedback der Leser. Sein Ziel: Veränderungsbereitschaft in die DNA des Unternehmens zu schreiben. Er kaskadiert die Geschichte der Veränderung in die Firma, moderiert gemeinsame Lernprozesse und gibt sichtbare Veränderungsanstöße.
Führung und der Umgang mit Überraschungen
Aus der gegenüberliegenden, zweiten Perspektive sollen die notwendigen Arbeiten von den Mitarbeitern selbst festgelegt werden, da sie sich selbst als fachlich kompetente Instanz definieren, die alleine in der Lage ist zu beurteilen, welche Anforderungen wie umzusetzen sind. Dies soll durch Methoden zur selbstorganisierten Kollaboration unterstützt werden. Der Product Owner ist in diesem Kontext lediglich als Repräsentant und Sprecher der zu berücksichtigenden Marktanforderungen oder Kundenbedürfnisse zu verstehen.
So plausibel beide Perspektiven auch erscheinen mögen, mit Selbstorganisation hat keine von ihnen etwas zu tun. Selbstorganisation stellt die Fähigkeit eines komplexen Systems dar, nach dem Einwirken dynamischer Einflüsse zielgerichtet und unmittelbar eine Ordnung herzustellen oder wiederherzustellen. Stellen Sie sich beispielweise vor, dass ein Team von Produktentwicklern (also ein komplexes System) in einer Pharmafirma feststellt, dass zwei ihrer wichtigsten Pharmakologen zum Wettbewerber wechseln und dieser auch noch ein Patent angemeldet hat, das ihre eigene Entwicklungsarbeit überflüssig macht.
Das sind dynamische, also unvorhersehbare Einflüsse, die die bestehende Ordnung des Systems beeinflussen, vielleicht sogar erschüttern. Das Phänomen der Selbstorganisation, wie Heinz von Förster diese Fähigkeit von Systemen genannt hat, erkennen Sie nun darin, ob das Team in der Lage ist, eine neue Ordnung zu finden und seine Arbeit entweder auf ein alternatives Produkt zu verlagern oder eine andere, die auftretende Dynamik kompensierende Strategie zu entwickeln und umzusetzen.
Die Frage ist, wie schafft es unser gebeuteltes Pharma-Team von Produktentwicklungsexperten, in möglichst kurzer Zeit eine neue Ordnung herzustellen? Und an dieser Stelle lade ich alle Manager und all jene, die es mal werden wollen, ein, das Team mit den folgenden Fragen zu unterstützen, die ihnen vielleicht schon bekannt vorkommen:
Ist der Sinn unserer Arbeit noch gegeben oder müssen wir diesen an die neue Situation anpassen? Und welche Vereinbarungen müssen wir untereinander treffen, damit wir weiterhin handlungsfähig sind oder wieder werden?
Welche Fähigkeiten und Kenntnisse müssen wir aufbauen oder anpassen, um der neuen Situation zu entsprechen? Wie sieht unsere Strategie und unsere taktischen Maßnahmen zur weiteren Vorgehensweise aus?
Welche Rahmenbedingungen benötigen wir, um dem definierten Sinn unsers Handelns gerecht zu werden, unsere Fähigkeiten zu entwickeln und die Strategie umzusetzen?
Welche Kommunikationsinhalte und -wege müssen wir nutzen oder etablieren, um die nach innen und mit unserer Umwelt im Austausch zu bleiben und in welcher Form koordinieren wir unser Vorgehen?
Mit welchen Kennzahlen können wir den Fortschritt unserer Vorgehensweise messen und nötigen Anpassungsbedarfe unserer Überlegungen erkennen?
Management treibt Selbstorganisation
Ich hoffe, die kleine Gedankenreise in die Geschichte des Management, hierarchischer Organisationsstrukturen und die Dynamik einer digitalisierten Wirtschaft haben eine Idee davon vermitteln können, wie unabdingbar und existenziell die Fähigkeit des Managements in einem Unternehmen ist. Und ich hoffe auch, dass das notwendige Selbstverständnis von Menschen skizziert werden konnte, das notwendig ist, um durch Management Selbstorganisation zu ermöglichen.
Das Resultat der Kombination beider Aspekte führt zu vielfältigen Effekten. Der Unternehmer erhält endlich das, was eine agile Organisation darstellt, der Mitarbeit einen Arbeitsplatz, für den er sich endlich wieder engagieren kann, da seine Expertise und seine Person gewürdigt werden. Und der Manager hat hoffentlich einen Weg gefunden, sich aus der irrationalen Autorität seines Machtstatus zur rationalen Autorität einer zukunftsweisenden und sinnstiftenden Managementkompetenz zu entwickeln. Die starre Form des aus der Zeit gefallenen Machtmanagers kann so durch eine zeitgemäße und liquide Form des Promoters von Selbstorganisation transformiert werden, wie ich sie unter dem Begriff Liquid Lead oder Liquid Leadership verstehe. (hk/fm)