Beim Cloud Computing in Deutschland ist der Knoten geplatzt - wie sehen Sie die Entwicklung, und was hat letztlich den Wandel herbeigeführt?
Axel Rupp: Die Cloud ist definitiv in den Unternehmen angekommen. Das sehen wir gerade im Automotive-Sektor, aber auch anderen Branchen, wie etwa Versicherungen. Meiner Einschätzung nach sind zwei Gründe dafür ausschlaggebend: Erstens sind Marktpenetration und Leistungsfähigkeit der Hyperscaler sowie ihrer Cloud-Plattformen unheimlich stark geworden, man denke nur an die Themen Sicherheit und Innovationskraft. Mit welcher Geschwindigkeit sie neue, komplexe Funktionen, etwa im Analytics- oder KI-Bereich, einführen, ist atemberaubend. Zweitens stecken viele Anwenderunternehmen im Spannungsfeld aus Kostendruck und Zukunftsfähigkeit. Neben der Geschwindigkeit und Agilität, um neue Wettbewerber und Geschäftsmodelle abzuwehren, müssen sie stabil und verlässlich bleiben, denn professionelle Unternehmen sind nun mal nicht im Freestyle unterwegs. In diesem Spannungsfeld der Gegensätze werden die Themen Cloud und insbesondere Cloud Native nach vorne getrieben.
Gehen die Unternehmen inzwischen weiter oder sind sie noch in der Pilotphase?
Rupp: Viele Unternehmen sind inzwischen über Testmigrationen oder das Ausprobieren bei unkritischen Applikationen hinaus. Dies gilt besonders für Konzerne. Schließlich lassen sich die Vorteile nur unzureichend realisieren, wenn halbherzig und ohne Strategie in die Cloud gegangen wird. Der Trend geht aber klar zu Cloud Native. Hier gehören neben der Kerntechnologie auch Themen wie DevOps, CI/CD, Container-Technologien und Microservices auf die Agenda - gerade das Thema DevOps erfordert die Transformation der Organisation, die entsprechend daran angepasst und leistungsfähiger gestaltet werden muss. Alles in allem ist es eine vielschichtige Aufgabe.
Zur Studie "Cloud Native 2020"
"Cloud Native ist weit mehr als die reine Technologie"
In einer aktuellen IDG-Studie zu Cloud Native haben viele Befragte dieses Thema weit oben priorisiert und sich einen überraschend hohen Reifegrad attestiert. Ist die Einschätzung realistisch?
Rupp: Man muss die Situation differenziert betrachten, Cloud Native ist weit mehr als die reine Technologie. Wenn viele Unternehmen sagen, dass sie schon sehr weit sind und viele Projekte machen, bin ich nicht sicher, ob sie das Thema in der Breite vollständig betrachten. Aber ich bin überzeugt, dass die Relevanz von Cloud Native in den Unternehmen angekommen ist und weiter steigen wird. Nach der Phase der ersten Projekte geht es jetzt darum, die gesamtheitliche Transformation in diesem Kontext zu planen und umzusetzen.
Das klingt nach einer gewaltigen Drohkulisse - sind die Organisationen heute überhaupt bereit dafür?
Rupp: Cloud Native bedeutet in der Tat einen großen Wandel, aber Lift & Shift allein ist einfach zu kurz gegriffen - vor allem, wenn Kosteneinsparungen ein zentrales Thema sind. Schließlich wurden die wenigsten Anwendungen für die Cloud gebaut, weshalb sie die Vorteile nur schwer realisieren können. Daher muss Cloud Native hier viel weiter gehen. Das gelingt nur, wenn die Transformation strategisch angegangen wird: Es muss entschieden werden, ob sich die Business-Logik einer Legacy-Applikation in Microservices entwickeln lässt, wie das erreicht wird, welche Skills notwendig sind und wie ein Unternehmen von den Cloud-Native-Funktionalitäten profitieren kann. Security, Analytics, Artificial Intelligence (AI) oder die Dunkelverarbeitung öffnen viele Möglichkeiten für Verbesserungen und auch Beschleunigung.
In der IDG-Studie zeigte sich auch, dass sich die Geschäftsleitung mehr von der Entwicklung verspricht als etwa Befragte von IT-Abteilungen. Wie beurteilen Sie dieses Ergebnis?
Rupp: Dies wäre zumindest ein wichtiger Erfolgsfaktor. Das Thema muss von oben getrieben werden, denn Cloud Native ist kein Buzzword, sondern eine Antwort auf eine Vielzahl von Anforderungen des Business. Und diese müssen vom Management präzise dargestellt werden. Hier geht es um Änderungen am Geschäftsmodell, um neue Märkte, die Fähigkeit zur schnellen Anpassung sowie um innovative Produkte, die innerhalb von Tagen auf dem Markt kommen müssen. Ein Beispiel sind Fintechs und Insurtechs, die mit schnell verfügbaren und skalierbaren Lösungen den großen Playern das Leben schwermachen. Das triggert wiederum deren Technologieerwartungen in kürzere Entwicklungszeiten, höhere Stabilität und einfache Softwarelebenszyklen. Diese Punkte lagen in der Studie in der Erwartungshaltung auch ganz vorn. Cloud Native wird nicht zum Spaß betrieben, sondern weil es Wettbewerbsvorteile ermöglicht.
Wie lange wird es dauern, bis eine traditionelle Organisation Cloud Native agieren kann? Sind drei Jahre realistisch?
Rupp: Das wäre ein klassischer Denkfehler. Cloud Native ist nicht im Wasserfallmodell umzusetzen und kommt nach drei Jahren mit der fertigen Lösung. Sie brauchen alle Komponenten von der Strategie über die Umsetzungsplanung bis zu den technischen Grundlagen - und die richtigen Leute für die neue Welt. Die Entwicklung läuft schrittweise ab, denn der Markt ist volatil, und der Benefit muss sich umgehend einstellen. Stichwort: Minimum Viable Product. Der Aggressivität des Umfelds kann nur begegnet werden, indem die Anforderungen sehr schnell umgesetzt werden, und dafür ist Cloud Native der Enabler. Das gilt für neue Applikationen, aber auch für das Mindset des Unternehmens und seiner Softwareentwicklung. Alle Rollen müssen daran arbeiten, dass das Kundenerlebnis optimal ist und der Wettbewerbsvorteil ausgespielt wird.
"Ein Innovationscenter ist ein guter Ansatz"
Bei den Methoden zur Umsetzung liegt das Innovation Center laut Studie vorn, Top-down und Bottom-up halten sich die Waage. Welchen Weg favorisieren Sie?
Rupp: Pauschal lässt sich das nicht sagen. Ein Center of Excellence oder Innovationscenter ist ein guter Ansatz. Ich möchte aber dringend davon abraten, dass es danach in der IT-Organisation unterschiedliche Bereiche gibt. Meiner Einschätzung nach ist das Konzept der 2-Speed-IT - "die" und "wir" - nachweislich gescheitert. Es geht vielmehr darum, bedarfsgerecht die Agilität in die Bereiche zu bringen. Der CIO hat hierbei eine sehr wichtige Rolle, um die Entwicklung entschlossen nach vorne zu treiben. Dies betrifft sowohl die Technologie als auch die Organisation und deren Abläufe.
Welche Folgen hat das für die Mitarbeiter und ihre Kompetenzen?
Rupp: Das bestehende Team 1:1 in die neue Welt zu transformieren ist Wunschdenken. Gefragt sind additive neue Skills und Ideen vom Markt, denn mit der richtigen Mischung tut man sich leichter, diese Transformation durchzuführen. Schließlich kann man Cloud Native nicht an allen Stellen und über Nacht umsetzen, dafür gibt es zu viel Legacy in den Unternehmen. Aber tendenziell gilt: Skills und Tätigkeiten werden sich weiter verändern, weil der Wettbewerbsdruck und die Geschwindigkeit nicht nachlassen.
Wie entwickelt sich denn die IT-Organisation im Zuge der Transformation - bleibt es eine Abteilung, oder diffundiert sie in die Fachbereiche?
Rupp: Ich sehe die IT nach wie vor als eine Organisation. Die Studie hat auch gezeigt, dass sie Vorreiter bei Cloud Native ist und das Thema fast immer über ihren Tisch geht. Das wird auch in Zukunft so sein, denn DevOps und Automation, Security und Skalierbarkeit sind IT-Fähigkeiten, die mit Business-Logik kombiniert werden. Allerdings wird sich auch die IT-Organisation umstellen - sowie das Verhältnis ihrer internen und externen Wertschöpfung. Der Service-Mesh-Gedanke beispielsweise tritt immer weiter in den Vordergrund, IT-Services müssen für das Business einfach zur Verfügung stehen. Ein Lösungsansatz ist beispielsweise Infrastructure as a Code, wo Server und Netze virtualisiert oder als Software in der Cloud definiert sind. Der Ansatz muss hierbei sein, dass sich Developer schwerpunktmäßig um die Realisierung der Business Logik kümmern sollen und weniger um die Infrastruktur oder Basisdienste. Damit schließt sich der Kreis: Die Cloud treibt die Entwicklung an, aber sie öffnet auch attraktive und oftmals sogar notwendige Lösungswege.
Zur Studie "Cloud Native 2020"
Studiensteckbrief
Herausgeber: COMPUTERWOCHE, CIO, TecChannel und ChannelPartner
Exlusiver Studienpartner: Deloitte GmbH
Grundgesamtheit: Oberste (IT-)Verantwortliche von Unternehmen in der D-A-CH-Region: strategische (IT-)Entscheider im C-Level-Bereich und in den Fachbereichen (LoBs), IT-Entscheider und IT-Spezialisten aus dem IT-Bereich
Teilnehmergenerierung: Stichprobenziehung in der IT-Entscheider-Datenbank von IDG Business Media; persönliche E-Mail-Einladungen zur Umfrage
Gesamtstichprobe: 374 abgeschlossene und qualifizierte Interviews
Untersuchungszeitraum: 20. Januar bis 27. Januar 2020
Methode: Online-Umfrage (CAWI)
Fragebogenentwicklung: IDG Research Services in Abstimmung mit den Studienpartnern
Durchführung: IDG Research Services