Eine Ausrichtung an den Kundenbedürfnissen gilt heute als zentraler „Glaubenssatz“ erfolgreicher Unternehmensführung. Entlang von Trendthemen wie New Work, Agilität und Effizienzsteigerung und dem Dauerbrenner "Einsparungen" fokussieren Unternehmen erfahrungsgemäß jedoch meist auf die eigenen Prozesse – und behaupten gleichzeitig: Nicht die Organisation und angebotenen Services stünden im Mittelpunkt, sondern der Kunde. Die Realität offenbart den (Ziel-)Konflikt: Echte Kundenzentrierung ist selten – doch woran liegt das?
Kundenzentrierung - Wunsch vs. Wirklichkeit
Besonders Banken und Versicherungen stehen mit der Kundenorientierung auf Kriegsfuß – so ein häufiges Vorurteil. Was stimmt: Beide Branchen betreiben ein langjährig gewachsenes und kapitalintensives Business mit wenig „Glamour-Faktor“. Das Online-Geschäft hat in den letzten Jahren stark zugelegt, gleichzeitig werden Kundenberater massiv abgebaut – das erschwert die Bedingungen für echte Kundenzentrierung, bei gleichzeitig niedriger emotionaler Identifikation mit den (digitalen) Services und Produkten.
Wenn zudem die Kommunikation zunehmend über digitale Kanäle läuft, reduziert das die Gelegenheiten für unmittelbares persönliches Feedback der Kunden an den Anbieter beziehungsweise Kundenberater – die Distanz zwischen Anbieter und Kunden wächst. Zumindest Versicherungen haben jedoch über das Agenturgeschäft einen unmittelbaren Draht zum Kunden – und somit Zugang zu seinem direkten Feedback. Denn Innovation im Versicherungssektor gibt es durchaus in Form neuer Ansätze und auch Produkte – auch wenn dies anders aussieht als im Silicon Valley: KI-gestützte Hagelwarnung von dem KFZ-Versicherungsanbieter auf das Smartphone? Bald keine Zukunftsmusik mehr.
Trotzdem sind nicht wenige Kunden unzufrieden mit den angebotenen Leistungen und Services. Wenn Umsatzsteigerungen und die Optimierung von Prozessen als Selbstzweck im unternehmerischen Zentrum stehen, leidet die Customer Experience. Insbesondere Banken verspüren in der Regel wenig Transformationsdruck in Richtung einer stärkeren Customer Centricity, der Kundenfokus bleibe auf der Strecke – so ein häufiger Vorwurf.
Schuld daran sind falsche Anreizsysteme: Wenn Kundennähe nicht auf Top-Management-Ebene verankert und (täglich) vorgelebt wird, besteht wenig Aussicht, die Kundenperspektive in Organisation und Prozesse zu integrieren – und letztlich die Kultur eines Unternehmens konzentriert auf den Kunden auszurichten. Auch eine neu geschaffene Funktion des Chief Customer Officer würde daran wenig ändern: Kundenorientierung lässt sich nicht auslagern, sondern bleibt die Verantwortung eines jeden Einzelnen – angefangen beim CEO bis hin zum Back-Office-Mitarbeiter, der den Kundenkontakt ungefiltert erlebt.
- Boris Bohn, Arithnea
„Auf dem Weg zu einer sehr guten Digital Customer Experience befinden wir uns erst auf den ersten fünf von 100 Metern. Die Firmen haben erkannt, dass es verschiedene Touchpoints für die Ansprache des Kunden gibt. Aber in der konkreten und übergreifenden Ausgestaltung stehen wir noch am Anfang.“ - Christian Schacht, Capgemini
„In Deutschland steht bei vielen Unternehmen der Kunde oft nicht mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt, sondern nur als Käufer und Nutzer eines Produkts, das sie herstellen. Das gilt auch bei digitalen Produkten.“ - Dominik Lorenz, Creditreform Boniversum
„Das Frontend vieler Websites ist ansprechend, der Kunde wird gut geleitet und an die Hand genommen, doch wenn er kaufen will, ist der Bezahlprozess zu kompliziert, oder seine bevorzugte Bezahlart wird nicht unterstützt. Der Besucher bricht ab und wechselt zu einem anderen Anbieter.“ - Orhan Dayioglu, Showpad
„Die deutschen Firmen können sich mittlerweile nicht mehr so stark wie früher durch ihre Produkte differenzieren. DCX hat an Bedeutung gewonnen. Wir müssen vom Monolog weg hin zum Dialog mit den Kunden, um deren Bedürfnisse zu erfahren und dann die passenden Lösungen zu bieten.“ - Vanessa Dommnich, Batten & Company
„Ein ganzheitlicher Ansatz wird für die Kundenbindung im digitalen Zeitalter immer wichtiger. Firmen können ihre Kunden heute dank neuer Technologien über deutlich mehr Kanäle ansprechen. Damit die Kunden eine End-to-End-Experience erhalten, benötigen Firmen unter anderem auch eine bessere Datenbasis, die Integration von Informationen aus CRM, Marketing, ERP oder Controlling sowie Schnittstellen zwischen den Abteilungen sicherstellt.“ - Ralf Wiesmann, Accenture
„Die Kombination von Online- und Offline-Welt ist der Heilige Gral. Wer das hinbekommt, hat gewonnen. Firmen müssen hier agil sein, viele Dinge ausprobieren und Prozesse ändern, wenn sie nicht funktionieren. Die Firmen können damit den Kunden auf seiner Customer Journey viel besser begleiten, lange Wartezeiten bei der Hotline entfallen durch den direkten Kontakt.“ - Jens Thuesen, BSI Business Systems Integration AG
„Häufig kann der Kunde online kein Feedback hinterlassen. Diese No-Reply-Mentalität muss weg. Viele Firmen vergessen zudem die Integration der digitalen Kanäle. Ohne eine Verknüpfung von Daten weiß der Mitarbeiter im Online-Chat nichts über die Historie des Kunden und was ihn gerade bewegt.“ - Frank Sinde, Damovo
„Die Zusammenführung der einzelnen Kanäle funktioniert nur unzureichend. Es gibt kaum fertige Schnittstellen. Da Firmen viel selbst programmieren müssen, werden die Projekte sehr teuer und dauern lange in der Umsetzung. Um wirklich gute DCX zu erhalten, müssen Firmen die Mitarbeiter mitnehmen und deren Mindset auf Kundenorientierung umpolen. Customer Experience funktioniert nur mit Employee Experience, sprich der Akzeptanz bei den Mitarbeitern.“ - Jürgen Spieß, SHE
„Firmen brauchen einen hohen Speed am Markt und müssen insbesondere im Frontend agil sein, um schnell auf Kundenbedürfnisse reagieren zu können. Hier besteht oft eine Diskrepanz zwischen den internen ERP- oder Bestandsführungssystemen mit langen Release-Zyklen und modernen Microservices. Bei der Integration müssen die Anwender eine gute Balance finden.“
Customer Centricity - den Kunden ins Unternehmen holen
Um die Kultur der Customer Centricity langfristig in die Unternehmensabläufe zu integrieren, muss auch die Unternehmensleitung nach "draußen auf die Straße" und in die Interaktion mit dem Kunden treten – denn sonst bleibt ihnen diese Perspektive fremd. Je näher der Kontakt der Vorstandsetage zum Kunden und je glaubhafter das Erfordernis einer konsequenten Kundenorientierung nach innen kommuniziert wird (nach Möglichkeit im Rahmen eines Change-Prozesses mit begleitendem Projekt-Marketing), desto schneller gelingt es, Kundenzentrierung langfristig in die Unternehmenskultur hineinzutragen und permanent zu verankern.
Das nachahmenswerte Beispiel einer internationalen Modemarke zeigt, wie im Alltag die unternehmerische Aufmerksamkeit erfolgreich auf die Belange von Kunden (zurück-)gelenkt wird: In jedem Meeting-Raum des Headquarter wurden Bilder von Kunden angebracht mit dem Ziel, die einzelnen Sitzungen vor allem im Licht der Frage abzuhalten: „Welchen nachhaltigen Wert stiften unsere Produkte für unsere Kunden?“
Das klassische und in der Regel langfristig orientierte Unternehmertum von KMUs und Familienunternehmen lebt es vor: Der Kunde ist der wichtigste „Shareholder“, denn letztlich zahlt er den Lohn eines jeden Mitarbeitenden. Seine Perspektive zählt daher abteilungsübergreifend für den Unternehmenserfolg. Kundenorientierung messbar zu machen und entsprechende Incentive-Modelle zu entwickeln wären die logischen nächsten Schritte in die richtige Richtung: Warum nicht Kundenkontakt und unternehmerische Initiative in die Leistungsbeurteilung von Mitarbeitenden übernehmen – und in der Folge dann auch finanziell honorieren?
Voraussetzung hierfür ist jedoch die Etablierung von Kennzahlen, die eine Messbarkeit der Performance des Kundenmanagements herstellen. Für ein nachhaltig erfolgreiches Kundenmanagement ist es außerdem zwingend erforderlich, auch die Perspektive und Anforderungen der Mitarbeitenden an der Kundenschnittstelle zu berücksichtigen und bestmögliche Rahmenbedingungen für kundenfreundliche Beratungs- und Serviceprozesse zu schaffen.
Der Kundenzentrierungs-Lackmustest
Die verantwortlichen Führungskräfte stehen aktuell vor der Aufgabe, organisatorisch und mental die Weichen für Customer Centricity zu stellen. Das schließt konkret auch die Einführung technischer Lösungen für das Kundenbeziehungsmanagement mit ein. Eine intelligente Automatisierung von Hintergrundprozessen sorgt nicht nur für Effizienzgewinne, sondern schafft die Datengrundlage zur Beantwortung der richtigen Fragen: „Welche Bedürfnisse hat der Kunde in seiner aktuellen Lebenssituation, welche Services benötigt er – und über welchen Kanal, beziehungsweise zu welchem Zeitpunkt sollten wir ihm welche Angebote unterbreiten?“.
Zudem gilt es sich darüber im Klaren zu sein: „Will der Kunde zu diesem Thema überhaupt beraten werden?“ Je konsequenter diese Fragen gestellt und Kundenzentrierung im Unternehmen umgesetzt wird, desto schneller und besser läuft auch der kulturelle Verankerungsprozess – denn Kundenorientierung braucht zwei Dinge: das richtige Mindset und Zeit. Damit das gelingt, müssen Meilensteine gesetzt und Erfolge intern kommuniziert und gefeiert werden.
Denn eines ist auch klar: Smarte Technologien bilden zwar eine notwendige Voraussetzung für langfristige Kundenbeziehungen; aber erst die Bereitschaft, sich aus der Warte des Kunden zu seinem Vorteil mit den Lösungen auseinanderzusetzen und Silodenken über Bord zu werfen, sorgen für echte Kundenzentrierung. Wer das konsequent umsetzt, wird feststellen: Kundenzentrierung ist ein zentraler Treiber für Innovation – und Unternehmen, die intern ein innovationsfreundliches Klima schaffen, gewinnen Wettbewerbsvorteile, die der Markt gern honoriert. (mb/fm)