Seit mehr als 115 Jahren verfolgt die Knorr-Bremse AG einen Auftrag: Mobilität auf Schiene und Straße sicher, zukunftsfähig und umweltfreundlich zu machen. Der Konzern mit Firmensitz in München ist heute Weltmarktführer für Bremssysteme und ein führender Anbieter weiterer Systeme für Schienen- und Nutzfahrzeuge. Mit rund 29.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind an über 100 Standorten in mehr als 30 Ländern im Einsatz. Weltweit erwirtschaftete der Konzern 2019 in seinen beiden Unternehmensbereichen "Systeme für Schienenfahrzeuge" und "Systeme für Nutzfahrzeuge" einen Umsatz von 6,9 Milliarden Euro.
Die vernetzten Systemlösungen für Schienenfahrzeuge und für Nutzfahrzeuge basieren in Teilen auf gemeinsamen Kerntechnologien, Komponententypen und Materialien. Knorr-Bremse verfügt außerdem über ein breites Spektrum an Patenten, ganzheitlicher Forschung und Erfahrungen. Dies bietet dem Konzern umfassende Möglichkeiten für den Technologie- und Innovationstransfer sowie für Kostensynergien und Skaleneffekte. Auf dieser Basis soll auch künftig die Rolle als Innovator seiner Branchen, der Mobilitäts- und Transporttechnologien vorantreibt, gefestigt werden.
Mehrwert schlägt Technologie
Synergieeffekte, Technologie- und Innovationstransfer sind auch wichtige Stichworte für Andreas Meinzer, Vice President IT Business Process Applications bei der Knorr-Bremse Services GmbH, die für den weltweiten IT-Support der Konzernstandorte zuständig ist. In enger Zusammenarbeit mit speziellen Ansprechpartnern aus den beiden Unternehmensbereichen werden regelmäßig Anforderungen für neue technologische Lösungen aus den einzelnen Bereichen eingeholt sowie neue, zentral entwickelte Anwendungen getestet und ausgerollt. Zu diesem Team gehören Bernhard Winkler, Director Digital Manufacturing in der Division Systeme für Schienenfahrzeuge, und Florian Amann, Team Lead Technology im Bereich Systeme für Nutzfahrzeuge.
"Beide Unternehmenszweige haben vergleichbare Anforderungen und Grundstrukturen, auch wenn im Detail etwa Daten teilweise anders aufbereitet werden", erklärt Meinzer. "Daher konnten wir im Bereich IT Services schon immer Lösungen, die mit dem einen Bereich entwickelt wurden, für andere Unternehmensbereiche adaptieren oder Wünsche und Anregungen auf beide Seiten projizieren. Bei all diesen Synergieeffekten ist uns ein Punkt aber immer wichtig: Es geht vorrangig um den Mehrwert, den eine technologische Lösung für die Unternehmensbereiche generiert, weniger darum, bestimmte Technologien implementieren zu müssen."
Die IT-Applikationswelt von Knorr-Bremse ist stark SAP-geprägt, der Maschinenpark ist zudem sehr groß und heterogen. Im Einsatz ist unter anderem ein ERP-System, jedoch kein übergreifendes MES-System. Daraus ergaben sich bereits vor etwa fünf Jahren etliche Fragen: Etwa, wie die Lücke vom ERP-System zu den Maschinen geschlossen werden kann und wie sich Informationen aus den Maschinen und aus dem SAP-System ziehen und aufbereiten lassen.
Alleine schon die Maschinenanbindung und die Schaffung von Transparenz mit Hilfe von Echtzeitdaten war eine Herausforderung. Der Vernetzungsgrad war sehr niedrig, Vergleichswerte und Kennzahlen wie etwa die Gesamtanlageneffektivität (Overall Equipment Effectiveness, OEE) nicht in standardisierten Systemen vorhanden. Für bestimmte Themen gab es in den Werken erste Lösungen wie etwa IoT-Werkzeuge, aber noch keine umfassenden Technologien. Die Industrie 4.0 war zum damaligen Zeitpunkt erst in der Entwicklung. Die versprochenen Potenziale erschienen auch für Knorr-Bremse sehr groß, doch wie sollten sie gehoben werden?
Pilotprojekt für Maschinenanbindung
Hier kam zum Tragen, dass der Name PTC kein Unbekannter bei der Knorr-Bremse AG war. So nutzt der Konzern beispielsweise schon länger die PLM-Software Windchill oder die 3D-CAD-Software Creo. Bei einem Besuch des Corporate Experience Center (CXC) von PTC wurde das Knorr-Bremse-Team auf das Thema Smart Connected Operations (SCO) aufmerksam und beschloss die Potenziale der IIoT-Plattform ThingWorx und der Konnektivitätsplattform Kepware zu testen. Die Technologien sollten eine der grundsätzlichen Fragestellungen von Knorr Bremse lösen: Wie lassen sich die Maschinen in den heterogenen Maschinenparks mit zahlreichen älteren und neueren Modellen diverser Hersteller am jeweiligen Standort miteinander verbinden, um sie in ein einheitliches Datenmodell zu überführen und zum Beispiel standardisierte KPIs wie die OEE automatisiert und standortübergreifend erheben zu können?
2016 wurde hierzu ein dreiwöchiges Pilotprojekt als Proof of Concept (PoC) initiiert. Im deutschen Werk Aldersbach und dem ungarischen Kecskemét sollten exemplarisch Werkzeugmaschinen und Montagelinien verbunden werden und Daten liefern. "Wichtig war uns der iterative Ansatz bei solch einem Projekt und eine problemorientierte Herangehensweise", beschreibt Martin Flassak, Solution Architect für Digital Manufacturing der Knorr-Bremse IT, die Anforderungen. "Zudem sollte die Technologie einfach und intuitiv zu bedienen sein, damit wir sie ohne Weiteres selbst anwenden und weiterentwickeln können."
Das Pilotprojekt verlief sehr erfolgreich und bereits im Frühjahr 2017 vernetzte Knorr auf diese Art und Weise als erstes das komplette französische Werk Lisieux. Stand heute wurde diese Implementierung zudem schon in zehn Ländern wie Österreich, England, Tschechien oder Italien ausgerollt, weitere Werke sind in der Umsetzung.
Technologisch gesehen bildete der Schritt für Knorr-Bremse den Durchstich. Mit der Anbindung der Maschinen über die Middleware konnte Knorr-Bremse zentral auf verschiedene SPS-Steuerungen im Werk zugreifen und Produktions- und Prozessdaten sammeln, um diese Informationen für Auswertungen sowie schließlich auch weitere Ausbaustufen auf dem Weg zu einer "smarten Fabrik" zu nutzen. Diese konnten außerdem mit ThingWorx als zentralem Daten-Hub mit Daten aus Windchill oder SAP zusammenfließen.
Pilotprojekt als Grundstein
Wie schnell sich aus einem solchen Pilotprojekt eine Folgeanwendung ergeben kann, zeigt das Beispiel der Knorr-Bremse Tochtergesellschaft Microelettrica Scientifica. Auch die Kollegen aus Mailand waren auf der Suche nach einer Software für eine verbesserte Steuerung der Qualitätskontrolle im Produktionsprozess. Nach ersten gemeinsamen Gesprächen war Flassak und Winkler schnell klar, dass dieser Fall ähnlich gelagert ist. Dem Team gelang es, alle Prozessstufen der Produktfertigung bis hin zum Prüfstand und dem Drucker für die Etiketten sowie Versanddokumente mit ThingWorx soweit zu verketten, dass ein Signal vom Prüfstand automatisch den kompletten Druckprozess auslöst und dem Werker damit grünes Licht für das Verpacken und den Versand des Produkts gibt.
Neben der Reduktion der Fehlerquote hilft diese Prozesssteuerung letztlich auch, die manuellen Aufwände für die Qualitätskontrolle, Dokumentation und Versand signifikant zu reduzieren. Auch diese Lösung wird in mehreren Werken ausgerollt.
Aus dem Pilotprojekt im Jahre 2016, das zunächst die Maschinenkonnektivität herstellen und die automatisierte Berechnung von KPIs wie dem OEE-Wert ermöglichen sollte, ergaben sich Folgeprojekte. Im Bereich der Datensammlung wurden beispielsweise Prozessdaten aus Prüfständen aufgenommen und visualisiert. Darüber hinaus kamen zahlreiche neue Anforderungen auf der Auswertungs- und Optimierungsseite hinzu. Ein Augenmerk liegt etwa auf dem Vergleich der Produktivität einzelner Maschinen sowie ganzer Produktionslinien. Hierzu werden unter anderem die Planungs- und Zyklusdaten aus dem SAP-System mit den tatsächlichen Werten verglichen und auf Optimierungspotenziale untersucht.
Die Produktion der Zukunft
Wie die Zukunft in den Produktionsstandorten von Knorr-Bremse aussehen könnte, zeigt das aktuelle bereichsübergreifende Computer Aided-Production-System-Projekt (CAPS-Projekt), das zusammen mit derm Accenture-Tochter Callisto Integration umgesetzt wird. Ziel ist, CAPS anschließend in 58 Fabriken weltweit auszurollen. So beinhalten die Produktionslinien bei Knorr-Bremse zahlreiche Montagearbeitsplätze, an denen täglich mehrere verschiedene Produkttypen durchlaufen, was mehrfache Umrüstvorgänge mit sich bringt. Damit hier etwa der jeweils richtige Drehmomentschrauber für das Anziehen aller Flansche nach unterschiedlichen Lochmustern korrekt verwendet wird, ist eine visuelle Werker-Führung geplant.
Der Werker wird hierbei Schritt für Schritt durch den Montageprozess geführt, was vor allem neuen Mitarbeitern wesentlich mehr Sicherheit gibt und so die Fehlerquoten reduziert. PLM- und CAD-System stellen dazu Produkt- und Zeichnungsdaten bereit, das SAP-System gibt Stückzahl und Zeit vor. Gleichzeitig liefern die Werkzeuge und Maschinen Messwerte in Echtzeit. Dies ermöglicht einerseits Korrekturen, sollte ein Arbeitsschritt nicht korrekt abgeschlossen sein, andererseits fließen die Werte automatisch in eine Dokumentation ein, die der Qualitätskontrolle dient.
Sollte zudem einer der Konstrukteure etwas am Produktdesign ändern, wird dies direkt über Creo und Windchill MPM Link bis zur Montage durchgesteuert, sodass jederzeit aktuelle Montagedaten vorliegen. "Software für die Werker-Führung gab es bereits am Markt, allerdings waren dies in der Regel Inselsysteme, wie die meisten anderen Monolithen in der Fertigungsindustrie auch", sagt Andreas Koller, Programmleiter CAPS bei Knorr-Bremse. Von CAPS, das im Frühjahr 2019 gestartet wurde, sollen einmal bis zu 5.000 Knorr-Bremse Werker weltweit profitieren.
Hatte die Knorr-Bremse AG noch vor ein paar Jahren kaum Möglichkeiten, Echtzeiteinblick in ihre Produktionsstandorte zu erhalten, hat sich das mit der Einführung einer gemeinsamen globalen Fertigungsplattform stark angenähert. Das Potenzial ist dabei noch längst nicht erschöpft - im Gegenteil. Zahlreiche weitere Einsatzgebiete und Technologien sind denkbar und in den Köpfen der Verantwortlichen von Knorr-Bremse bereits skizziert. Aber alles zu seiner Zeit - damit die Entwicklung so erfolgreich verläuft wie bisher.
"Allein in den ersten eineinhalb Jahren haben wir enorm viel darüber gelernt, was wir sinnvoll umsetzen können und was weniger", erinnert sich Andreas Meinzer. Und damit meint er nicht nur technologische Aspekte - viel wichtiger für den Erfolg von Digitalisierungsprojekten sind die organisatorischen und strukturellen Gegebenheiten, die es zu berücksichtigen gilt. Technologie kann so manche digitale Reise angenehm gestalten. (mb/fm)