Die Digitalisierung ist aktuell das bestimmende Thema, wenn es um die künftige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft geht. Leidenschaftlich diskutiert werden die Risiken und Chancen einer weltumspannenden und alles umfassenden Vernetzung. Fest scheint zu stehen, dass sich vieles grundlegend ändern wird - alle möglichen Waren online zu kaufen, ist nur der Anfang. Und schon der hat es in sich: Verbraucher bestellen zu jeder Zeit und von überall aus, die Anzahl der ausgelieferten Pakete nimmt dramatisch zu - gleiches gilt für die Retouren - und die Einzelhändler in den Innenstädten fürchten um ihre Existenz.
Gerade dieser letzte Aspekt, die disruptive Kraft der Digitalisierung, treibt die Verantwortlichen in den Unternehmen um. Jedenfalls mittlerweile. Denn noch vor zwei bis drei Jahren waren viele Entscheider überzeugt, dass der Digitalisierungskelch an ihnen vorüberzieht, ihr Geschäftsmodell sakrosankt ist. Weit gefehlt - das hat sich mittlerweile herumgesprochen.
Auch die Automobilhersteller haben das begriffen und leiten sukzessive Maßnahmen ein. Greif- und sichtbar wird das vor allem am durchdigitalisierten Fahrzeug, dem Connected Car. Wer sich aber lediglich auf das Produkt fokussiert, greift zu kurz. Entscheidend wird es für die OEM sein, sich klar zu machen, welche Auswirkungen die Digitalisierung insgesamt für das Ökosystem Mobilität haben wird. Exakt prognostizieren lässt sich das heute zwar nicht. Es lohnt sich aber, den Blick auf drei Dimensionen zu richten, auf die sich die Digitalisierung massiv auswirken wird und die ihrerseits Treiber der Digitalisierung sind.
Geschäftsmodelle: Vom Hersteller zum Serviceanbieter
Automobilhersteller verkaufen seit über 100 Jahren Fahrzeuge. Das ist ihr Business. Aber dieses Geschäftsmodell alleine wird über kurz oder lang nicht mehr tragen. Das Auto verliert als Statussymbol an Bedeutung, für immer mehr Menschen zählt eine flexible und bequeme Mobilität - unabhängig vom Verkehrsträger. Und diejenigen, die sich für den Kauf eines Fahrzeugs entscheiden, legen weniger Wert auf einen starken Motor als auf ein hochwertiges Infotainment-System und genügend Schnittstellen für mobile Endgeräte.
Die OEM können auf diesen Wandel mit digitalen Services reagieren, die die neuen Anforderungen der Verbraucher adressieren und so neue Umsatzquellen erschließen. In der Regel wird es sich dabei um Dienste handeln, die nicht einmal gekauft, sondern die regelmäßig beziehungsweise nach Bedarf bezogen werden. Inspirieren lassen können sich die Hersteller bei Telekommunikationsdienstleistern und vor allem bei Streaming-Anbietern wie Spotify oder Netflix. Es muss aber nicht dabei bleiben, nur Inhalte unterschiedlichster Art - vom Musiktitel bis zum Kartenmaterial - über das Auto bereitzustellen. Denkbar sind auch Services, die direkt mit den physischen Komponenten des Fahrzeugs interagieren oder die externe Partner einbeziehen.
Customer Experience: Erlebnis für den Kunden, Erkenntnis für den OEM
Bei den Kunden wandelt sich nicht nur die grundsätzliche Einstellung zum Thema Mobilität. Auch die Markentreue hat in den vergangenen Jahren erheblich abgenommen, was sich so fortsetzen dürfte. Das macht es für die OEM deutlich schwieriger, einmal gewonnene Fahrer zu binden. Hinzu kommt, dass viele Kunden heute extrem hohe Erwartungen an den Dialog mit Unternehmen haben. Unterschiedliche, auch digitale Kanäle nutzen zu können, ist für sie mittlerweile selbstverständlich.
Vor diesem Hintergrund können neue digitale Services dazu beitragen, ein ganzheitliches Kundenerlebnis zu schaffen, dem Kunden zu vermitteln, dass er mehr bekommt als nur ein Auto. Und: Das Connected Car bietet erstmals die Möglichkeit, einen Fahrer individuell und direkt am Ort des Geschehens zu erreichen - und das regelmäßig. Individuell und zielgerichtet kann die Ansprache aber nur dann sein, wenn die OEM über das vernetzte Fahrzeug und die dort genutzten Dienste Daten zum Verhalten des Fahrers sammeln, diese mit innovativen Analyseverfahren auswerten und zu Erkenntnissen verdichten.
Operative Prozesse: Interne und externe Abläufe durchdigitalisiert
Bei OEM werden schon heute enorm viele operative Prozesse durch IT unterstützt beziehungsweise überhaupt erst ermöglicht. Durch die Digitalisierung wird deren Anzahl massiv zunehmen. Das betrifft zum einen die internen Abläufe - Stichwort Industrie 4.0. Durch die Vernetzung der Fahrzeuge kommen aber auch externe operative Prozesse hinzu. Diese lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen. Zum einen sind das Prozesse, die solche Services abbilden, die ein Fahrer unmittelbar steuert oder zumindest direkt mitbekommt. Zum anderen geht es um Prozesse zu Diensten, die im Hintergrund ablaufen. Gemeint ist damit die gesamte Kommunikation eines Fahrzeugs mit seiner Umwelt - etwa mit der Verkehrsinfrastruktur oder mit anderen Fahrzeugen. Solche Car-to-x-Services sorgen etwa für einen optimierten Verkehrsfluss innerhalb einer Stadt oder für eine Reduzierung von Unfällen.
Große Herausforderungen für das IT-Service-Management
Der Blick auf diese drei Dimensionen macht deutlich: Es werden in Zukunft zahlreiche digitale Dienste samt IT-basierter Prozesse im Ökosystem Mobilität entstehen. Und diese müssen von den OEM im Rahmen des IT-Service-Managements organisiert werden. Dabei stellt nicht nur die erhebliche Anzahl eine neue Herausforderung dar. Zwei weitere Aspekte, die bislang eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben, gewinnen immens an Bedeutung. Erstens müssen sich die IT-Abteilungen darauf einstellen, dass ihre Arbeit in vielen Fällen unmittelbar von den Kunden wahrgenommen wird. Die hier erreichte Qualität wird damit zu einem neuen Faktor, der den Erfolg des gesamten Unternehmens beeinflusst. IT-Services machen künftig einen Unterschied. Und zweitens sind mit den digitalen Diensten sicherheitsrelevante Themen eng verknüpft. Das reicht vom Schutz der persönlichen Daten der Fahrer bis zur Minimierung des Unfallrisikos - hier ergeben sich dann auch Fragen zur Haftung.
- ITSM
ITSM steht als Kürzel für IT-Service-Management. Wikipedia definiert ITSM als „Gesamtheit von Maßnahmen und Methoden, die nötig sind, um die bestmögliche Unterstützung von Geschäftsprozessen (GP) durch die IT-Organisation zu erreichen“. ITSM beschreibe insofern den Wandel der Informationstechnik zur Kunden- und Serviceorientierung. Das ist soweit eine nachvollziehbare und gängige Definition, aber keineswegs die einzige. Eine andere findet sich im Glossar der aktuellen Version ITIL 2011. Demnach meint ITSM die Implementierung und das Management von qualitativen IT-Services, die den Anforderungen des Business genügen. - ITIL
ITIL – Kürzel für IT Infrastructure Library – wurde ursprünglich seit den 1980er-Jahren von einer britischen Regierungsbehörde entwickelt. Die bis 1998 vorliegenden Dokumente der Sammlung von vordefinierten und standardisierten Prozessen, Funktionen und Rollen wurden nachträglich zur Version 1 erkoren. Bis 2003 lag Version 2 vor. 2007 folgte eine dritte Version, die als ITIL V3 bekannt wurde. Diese wurde bis 2011 aktualisiert und unter dem Namen „ITIL 2011 Edition“ veröffentlicht. Es handelt sich dabei um die bisher aktuellste Version der Best Practice-Sammlung, die jeweils an die individuellen Voraussetzungen des Anwender-Unternehmens angepasst werden muss. - Change Management
Durch eine Reduzierung von Vorfällen und Problemen bei Veränderungen ergeben sich im Ideal direkte positive finanzielle Effekte. Zu den Vorteilen zählen außerdem ein bessere Steuerung von Veränderungen und eine verbesserte Zusammenarbeit über Teamgrenzen hinweg, was mit einer verbesserten Risiko- und Folgenbewertung von Veränderungen einhergeht. - Incident Management
Das Incident Management umfasst Ereignisse, die ein ordentliches Erbringen des Services gefährden, stören oder unmöglich machen. Das Ziel ist es, die gewünschte Servicequalität so schnell wie möglich wiederherzustellen. Die geschäftlichen Auswirkungen von Vorfällen sollen minimiert werden. - Service Desk
"Der einzige Kontaktpunkt zwischen dem Service Provider und den Usern“, definiert ITIL 2011. "Ein typisches Service Desk managt Incidents und Service-Anfragen und übernimmt außerdem die Kommunikation mit den Nutzern." Ein Service Desk soll dabei helfen, immer Sinne einer maximalen Business-Produktivität Probleme schneller zu beheben und die IT-Ressourcen optimal einzusetzen.
Heute ist kaum eine IT-Abteilung für diese gewaltige Aufgabe gerüstet - wie sollte sie auch. Für die Automobilhersteller ist es aber dringend erforderlich, die Transformation ihres IT-Service-Managements möglichst bald auf den Weg zu bringen. Hilfreich ist dafür, sich an den in der Information Technology Infrastructure Library (ITIL) definierten Prozessen zu orientieren:
Service-Strategy-Prozesse: Zunächst geht es für die OEM darum, sich einen Überblick zu verschaffen, welche Services intern wie extern bereits angeboten werden und welche Dienste in welcher Form in Zukunft angeboten werden sollen. Maßgeblich für diese Entscheidung ist die Unternehmens- und die daraus abgeleitete Produktstrategie - besonders hinsichtlich neuer Geschäftsmodelle und der Customer Experience. Einfließen sollten hier natürlich auch Erkenntnisse dazu, welche Services die Kunden in den Fahrzeugen überhaupt wünschen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist eine mit einem Zeitplan hinterlegte Servicestrategie, die klar beschreibt, welche Services aktuell betrieben werden, in welche neuen Services in Zukunft investiert werden soll und welche Services künftig außer Kraft gesetzt werden müssen. Dabei beschränken sich die IT-Services nicht nur auf die Software, sondern umfassen auch alle damit zusammenhängenden Komponenten - in Bezug auf die Abläufe in der realen Welt, die technische und die physikalische Infrastruktur.
Service-Design-Prozesse: Anschließend muss für jeden einzelnen Service definiert werden, welche Anforderungen dieser erfüllen soll - funktional und nicht-funktional (formale Anforderungen wie Anzahl der Transaktionen, Sicherheitskonzept, Servicezeiten, Wartungsfenster etc.) - und wie er zu realisieren ist. Aktuell denken die OEM hier noch sehr traditionell. Für jede Servicekategorie wird nur ein Dienst angeboten. Es spricht vieles dafür, dass sich das in Zukunft ändert und die Hersteller eine breitere Palette an Services zur Verfügung stellen, bei denen sich Funktionen zum Teil bewusst überschneiden. Der Fahrer erhält damit die Möglichkeit, sich für den Dienst zu entscheiden, der am besten zu seinem Bedarf passt. Möglich ist dabei auch, Services von Drittanbietern einzubinden.
Service-Transition-Prozesse: Die eigenen Dienste und möglicherweise auch die Dienste von externen Anbietern müssen irgendwie in das Connected Car gebracht werden. Für die OEM stellt sich also die Frage, wie sie Services ausrollen sollen. Naheliegend ist, Fahrzeuge schon in der Fertigung mit Basisdiensten auszustatten. Das wird aber nicht genügen, weil in kurzen Zyklen neue Services hinzukommen und weil installierte Services immer wieder aktualisiert werden müssen. Vermutlich werden viele der Dienste als Apps realisiert. Insofern bietet es sich an, diese Apps auf einer Plattform anzubieten. Hier lassen sich auch problemlos die Anwendungen von Drittanbietern bereitstellen. Über eine solche Plattform können Apps dann mühelos ins Auto heruntergeladen, dort installiert und aktualisiert werden.
Service-Operation-Prozesse: Sind die Dienste einmal im Fahrzeug, muss von den OEM sichergestellt werden, dass diese stets reibungslos funktionieren. Das betrifft zum einen die Apps selbst, insbesondere dann, wenn sicherheitsrelevante Aspekte eine Rolle spielen. Das betrifft aber auch die Kommunikation mit den Fahrern, die Unterstützung beim Umgang mit einem Dienst haben. OEM müssen also das Change und Incident Management deutlich ausweiten und Service Level Agreements für den Dialog mit den Kunden definieren.
Continual-Service-Improvement-Prozesse (CSI): Die Qualität der erbrachten Services wird künftig mit über den Erfolg der Fahrzeughersteller entscheiden. Deshalb ist es entscheidend, das IT-Service-Management nicht nur einmal aufzubauen, sondern kontinuierlich zu verbessern und an sich wandelnde Rahmenbedingungen anzupassen. Die Prozesse des IT-Service-Managements müssen also regelmäßig Reviews unterzogen und evaluiert werden. Dies schließt ein, die Bereiche zu identifizieren, in denen die Kennzahlen-Ziele nicht erreicht wurden. Außerdem werden regelmäßige Benchmarkings, Audits, Maturity Assessments und Service Reviews durchgeführt. Ausgehend von den Ergebnissen der Prozess-Evaluierungen und Service Reviews werden konkrete Initiativen zur Verbesserung von Prozessen und Services definiert. Die Umsetzung der Initiativen wird kontinuierlich überwacht. (sh)