Deutschland kann auf Industrie 4.0 nicht mehr verzichten

Industrie 4.0 - Fangt jetzt an!

16.03.2015
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Die Diplom-Informatikerin Dr. Bettina Horster leitet bei der VIVAI Software AG den Bereich Business Development und Consulting und ist außerdem für das Ressort M-Business zuständig. Zuvor war sie als Managerin Business Development bei der VEBA Telecom GmbH für die Bereiche Mobile Value Added Services und Internet Business verantwortlich und arbeitete operativ in vielen Projekten von E-Plus mit. Seit 1999 leitet Dr. Bettina Horster die Kompetenzgruppe Mobile bei eco – Verband der deutschen Internetwirtschaft e. V. Sie ist eine der Pionierinnen für mobile Anwendungen in Deutschland.
Während Industrie 4.0 in aller Munde ist, fühlen sich Anwenderunternehmen überfordert. Doch sollten sie sich nicht abschrecken lassen, sondern einfach loslegen.
Mensch-Roboter-Kooperation in der Audi-Produktion
Mensch-Roboter-Kooperation in der Audi-Produktion
Foto: Audi

Industrie 4.0 bildet den Schwerpunkt vieler Fachartikel, Google findet es auf mehr als 650.000 Seiten und jede Woche gibt es diverse Events zu dem Thema. Nicht zuletzt hat sich die diesjährige CeBIT die digitale Transformation auf die Fahnen geschrieben. Die Öffentlichkeit scheint sich einig, dass Industrie 4.0 die Produktion und Services von Unternehmen revolutionieren wird und nur wer mitmacht, künftigen Anforderungen gewachsen ist. Doch bei den Anwendern kommt das Thema irgendwie nicht voran.

Angst vor Transparenz, Kosten und Komplexität

Industrie 4.0 ist zurzeit noch eine große Vision. Die Basistechnologie M2M-Kommunikation ist aber bereits möglich. Es gibt einige Branchen wie die Logistik, in denen es gar nicht mehr ohne geht und in denen funktionierende Systeme schon weit verbreitet sind. In den meisten anderen Branchen befindet sich die M2M-Kommunikation noch in einem frühen Stadium, aber gerade hier liegt das Potenzial, um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit in den kommenden Jahren zu sichern.

Leider sind die zu nehmenden Hürden dabei sehr hoch. Der größte Deal-Breaker: Bei Industrie 4.0 ist Transparenz geboten und die Marktteilnehmer müssen viele Schnittstellen und Datenstrukturen offen legen, nachdem sie davor alles getan haben, um diese Geschäftsgeheimnisse zu hüten. Davor schrecken aber viele zurück: Sie fürchten Kontrollverlust, wenn sie diese in ein Wertschöpfungsnetz einbinden und dass durch die Freigabe Kern-Know-how an Wettbewerber gelangt. Zudem erfolgt die Kommunikation zu M2M nach wie vor sehr technik- statt nutzenorientiert und zahlreiche rechtliche Fragen können noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden.

M2M-Projekte sind darüber hinaus sehr komplex. Das beginnt mit der Auswahl und Integration der Software und Hardwarekomponenten, über die Auswahl der Kommunikationsnetze und -anbieter bis hin zur Systemintegration und Implementierung der spezifischen Applikationen. Die Vernetzung der Maschinen und Prozesse sorgt für große Datenmengen, die sicher transportiert, gelagert und ausgewertet werden müssen und schon sind die Unternehmen bei Themen wie Cloud und Big Data angelangt.

Und trotz all dieser Hürden gibt es nur eine Lösung: Unternehmen müssen jetzt anfangen! Dabei muss es nicht immer sofort die komplette Digitalisierung und Vernetzung aller Maschinen und Prozesse, sprich die eierlegende Wollmilchsau, sein. Es gibt bereits einfache Anwendungsmöglichkeiten, die sehr effektiv sein können. So ist es manchmal schon hilfreich, wenn Unternehmen beispielsweise die Fehlercodes der Maschinen remote auslesen. Um zu ermitteln, in welchem Bereich die Unternehmen mit M2M beginnen und wie sie die Lösungen profitabel für sich nutzen können, sollten sie mit einem erfahrenen Partner zusammenarbeiten. Einem Lotsen, der durch das M2M-Dickicht führt. Es geht darum, eine Strategie der kleinen und robusten Schritte zu implementieren, an denen die Unternehmen lernen können.

Standardisierung - ein (derzeit) unerfüllter Wunschtraum

Um M2M für die breite Masse nutzbar zu machen, müssen jetzt einfach in den Betriebsablauf zu integrierende Lösungen gefunden werden. Im Bereich Logistik und in der Landwirtschaft wurde das bereits geschafft - andere müssen nun nachziehen. Der Schritt zur Standardisierung ist entscheidend für den Erfolg von Industrie 4.0 - und das auf internationaler Ebene, um den Export zu fördern. Nur durch die Zusammenarbeit im Wettbewerbsumfeld lässt sich die Synchronisation der Prozesse erreichen, die die Industrie 4.0 ausmacht.

Bislang wird das Thema in erster Linie von Telekommunikationsunternehmen vorangetrieben, so dass sich bisherige Standards vor allem auf den TK-Bereich beziehen. Prozesse zu optimieren und zu automatisieren, müssen aber die einzelnen Branchen leisten - sie können sich nicht auf die TK-Unternehmen verlassen, die in der Regel über keine tiefgreifenden Kenntnisse in den einzelnen Branchen verfügen. Deutschland und sein traditionell starker Maschinenbau haben nun die Riesenchance, genau diese Standardisierung voranzutreiben und so eine Schlüsselrolle im Industrie 4.0/M2M-Weltmarkt zu übernehmen.

Doch Standards zu finden, ist ein langwieriger Prozess. Einzelne Marktteilnehmer können wenig ausrichten, außer gemeinsam mit ihren Branchenverbänden Aktivitäten einzufordern. Gerade kleine und mittelständische Unternehmen sollten aber nicht die Ausrede verwenden, dass sie abwarten müssen, bis sich Gremien, Branchenverbände oder Weltmarktführer geeinigt haben. Eine interessante Alternative bilden branchenweise Integrationsplattformen für die intelligente Vernetzung von Prozessen durch transparente offene Zusammenarbeit. Dann ist die Umsetzung von M2M für die einzelnen Unternehmen nicht mehr so schwer.

Telekommunikationsanbieter, Softwarehäuser und Hersteller sind dabei, solche Plattformen zu entwickeln. Aber am besten geeignet als Betreiber solcher Plattformen sind neutrale Software- und Systemintegratoren, um einen Interessenausgleich der verschiedenen Hersteller, Dienstleister und Anwender zu schaffen. Sie fungieren als "Trusted Player" in der Mitte, die die Daten zuverlässig ver- und entschlüsseln, sicher lagern und ausschließlich nach Nutzervorgaben verteilen, ohne geschäftsentscheidende Parameter offenzulegen. Sie aggregieren die Datenstrukturen und Kernprozesse, sodass sie technisch interoperabel sind und sich keine Rückschlüsse auf Umsetzungswege und Lösungen ziehen lassen.

Damit Industrie 4.0 auch im Mittelstand vorankommt, sind Anreize zur Standardisierung der Basistechnologien und Fördergelder notwendig. Leuchtturmprojekte müssen Erfahrungen sammeln, um Lösungen für die Hürden zu finden, die Komplexität zu reduzieren und neue Ansätze im Bereich der Vertrauensbildung auszuloten.

Auf dem Weg zur Servicegesellschaft

Gerade der Maschinenbau scheint oft noch nicht bereit, den Weg "Industrie 4.0" zu gehen. Viele Unternehmen haben den Sprung vom Produktunternehmen zum Servicelieferant noch nicht vollzogen. Dabei gibt es in Deutschland im Maschinenbau viele Weltmarktführer, die die Führungsrolle nur behalten, wenn die Produkte effizienter, effektiver und nachhaltiger sind als die Konkurrenz aus Schwellenländern. Da die meisten Maschinen technologisch bereits ausgereizt sind, müssen selbst bislang internetferne Unternehmen physische und digitale Produkte zu intelligenten Services bündeln und sich dadurch differenzieren. Wie im IT-Umfeld bereits geschehen, vollzieht sich auch in der Industrie ein Paradigmenwechsel hin zur Servicegesellschaft.

Der Kunde wünscht sich jederzeit, einfach skalierbare und ständig neue Serviceangebote. Er möchte flexible prozessübergreifende Services, die Zeit und Ressourcen optimal einsetzen, wie automatische Softwareupdates über die Luftschnittstelle, die automatische Dokumentation von Betriebsdaten im ERP-System, Electronic Fencing, Predictive Maintenance oder "Pay as you Drive"-Versicherungen.
Auch der Hersteller profitiert, denn mit den Services kann er über den gesamten Lebenszyklus seines Produktes Kontakt zum Anwender halten, wodurch die Wertschöpfung nicht wie bislang mit dem Verkauf endet. Er erhält nun zahlreiche Informationen über seine Maschinen, in die er vorher keinen Einblick hatte. So kann er genau sehen, welche Softwarereleases aufgespielt wurden, welche Funktionen wie häufig verwendet wurden, wie sich der Verschleiß einzelner Teile entwickelt und wo regelmäßig Überbelastungen entstehen. Diese Erkenntnisse kann er bei der künftigen Produktentwicklung berücksichtigen und besser auf die Bedürfnisse seiner Kunden eingehen.

Daten werden zum wertvollen Gut, das vermarktet werden kann und sollte: Sie sind kein Nebenprodukt, sondern so wichtig wie das eigentliche Produkt. Neben der Optimierung eigener Produktionsschritte und Prozesse, sind diese auch für andere Marktteilnehmer interessant. Sowohl Hersteller als auch Händler und Dienstleister könnten diese kontrolliert nutzen, um wiederum ihre Angebote zu erweitern/zu verbessern.

Langfristige Garantien notwendig

Hinzu kommt eine weitere riesige Herausforderung: In der IT-Branche werden die Halbwertszeiten immer kürzer. Technik ist schnell veraltet, Software wird nicht länger unterstützt. Für den Kunden ist es auf der einen Seite sehr komfortabel, wenn er etwa seine Heizung per Handy steuern kann. Aber was passiert, wenn nach zwei Jahren die Software inkompatibel zum neuen Smartphone ist? Oder wenn der Hersteller kein Update mehr bereitstellt und eine Maschine dadurch nicht länger einsatzbereit ist?

Hersteller müssen nicht mehr nur Garantien für die Hardware der Geräte und Maschinen abgeben. Auch Softwareupdates und Bugfixes für die Steuerungseinheiten müssen während der durchschnittlichen Nutzungsdauer gewährleistet sein. Nur mit verlässlichen Zusagen kann der Kunde den Einsatz einer Werkzeugmaschine auf 30 Jahre planen. Viele Konsumenten freuen sich über die neuen Funktionen, da sie aber im Alltag Geräte ohne langfristige Wartungsverträge einsetzen, sollten entsprechende Update-Garantien zum Kaufkriterium werden.

Im Moment befinden wir uns in einer Experimentalphase und auf dem Weg gibt es noch jede Menge Chancen, aber auch Risiken zu entdecken. Eines ist jedoch sicher: Deutschland kann auf Industrie 4.0/M2M-Kommunikation künftig nicht mehr verzichten. (bw)