ERP-Migration bei ANWR

In 18 Monaten auf SAP S/4HANA

25.08.2022
Von 
Jens Dose ist Editor in Chief von CIO. Seine Kernthemen drehen sich rund um CIOs, ihre IT-Strategien und Digitalisierungsprojekte.
Der Handelsverband ANWR hat sein ERP-System in der SAP-Cloud neu gebaut. CIO Sven Kulikowsky musste dafür einige Probleme mit dem neuen Kernsystem umschiffen.
Sven Kulikowsky ist CIO der ANWR Group.
Sven Kulikowsky ist CIO der ANWR Group.
Foto: ANWR Group

Die ANWR Group ist eine europäische Handelskooperation in den Geschäftsfeldern Schuhe, Sportartikel, Lederwaren und Finanzdienstleistungen. Bis 2018 nutzten die 22 Handelsgesellschaften der Gruppe sowie die Banktochter DZB Bank gemeinsam das ERP-System des Finanzinstituts. Dadurch galten für den Retail-Bereich des Unternehmens auch die Regularien für Finanzbuchhaltung und Controlling im Bankensektor.

Mit der Zeit wurden die Vorgaben für den Finanzsektor strikter, so dass die für die Handelsbranche benötigte Flexibilität nicht mehr gegeben war. "Wir hatten schon einige Jahre vorher begonnen, die IT-Systeme zu trennen, um sowohl die Bank als auch die Handelsgesellschaften besser für die jeweiligen Anforderungen aufzustellen," erinnert sich CIO Sven Kulikowsky. Die ERP-Software war das letzte gemeinsam genutzte System.

Gemeinsam ins Greenfield

Zusammen mit den Geschäftsbereichen Finanzbuchhaltung und Controlling packte die IT-Abteilung 2018 die Migration auf SAP S/4HANA an. Know-how für die Lösungen des Walldorfer Softwarehauses gab es bereits: Das bisherige Kernsystem war ein on-premises betriebenes SAP R/3, das stark angepasst worden war. Die neue Umgebung sollte in einem Greenfield-Ansatz in der Public Cloud von SAP aufgebaut werden. ANWR verfolgt eine Cloud-first-Strategie für neue IT-Projekte, wenn es die geschäftlichen Anforderungen zulassen.

"Die Fachbereiche von Anfang an mit ins Boot zu holen war enorm wichtig," sagt Kulikowsky. Zusammen wurde festgelegt, was die neue Lösung von Anfang an können müsse. In gemeinsamen Workshops bewerteten gemischte Teams aus Fachbereichen und der IT die Fähigkeiten und den Reifegrad der Cloud-Plattform.

Agil mit Ziel

Um den Wechsel zu organisieren, wurde ein Lenkungsausschuss als oberste Steuerungsinstanz gebildet. Darunter formte sich ein Projekt-Board als Steuerungsteam aus Kulikowsky und seinen Pendants aus der Finanzbuchhaltung und dem Controlling, das sich wöchentlich für zwei Stunden mit dem Projektleiter des externen Partners Camelot ITLab abstimmte. Das Team erhielt Input von cross-funktionalen Arbeitsgruppen aus der Belegschaft und externen Beratern, die Probleme bei bestimmten Prozessen besprachen. "So konnten wir unterschiedliche Meinungen schnell übereinanderlegen und Entscheidungen treffen," sagt Kulikowsky. Dadurch hätten Fachbereiche und IT immer an einem Strang gezogen.

Als Ziel formulierte der CIO, bis Ende 2021 alle Systeme auf die neue Umgebung zu migrieren. Der Jahresabschluss 2021 sollte bereits mit S/4HANA erstellt werden und das Geschäftsjahr 2022 ohne die alte Umgebung im Parallelbetrieb starten. Dazu definierte Kulikowsky neun Wellen.

In diesen Phasen arbeiteten die Teams mit agilen Methoden und flexiblen Zeitvorgaben. "Mit dieser Mischung aus Meilensteinen und Sprints haben die Teams ein klares Ziel vor Augen, während wir gleichzeitig Risiken berücksichtigen, die einen festen Zeitplan aus der Bahn geworfen hätten," so der IT-Chef. Entwicklungen dürften auch mal länger dauern, Hauptsache sei, dass am Ende alles passe. Auf den Endtermin hätte sich das nicht ausgewirkt.

Plötzlich virtuell

Der Startschuss fiel im ersten Quartal 2020, nach vier Wochen kam Corona. "Durch die Ungewissheit im Handel wegen der vielen Lockdowns und Schwierigkeiten in den Lieferketten mussten wir das Projekt stoppen," erinnert sich Kulikowsky. Ein halbes Jahr später nahm das Projektteam die Arbeit an der Migration wieder auf, nun allerdings komplett remote.

"Das war für alle Beteiligten eine neue Erfahrung, aber wir haben das gut gestemmt," so der CIO. Bei früheren Projekten arbeitete das Team auf einer Projektfläche im Büro und tauschte sich eng aus. Das habe sich schnell ins Remote Office übertragen: "Wir haben Microsoft Teams als zentrales Tool eingesetzt, für Wissens- und Dateienaustausch, Konferenzen und Terminabsprachen. Alle Kollegen waren leicht erreichbar und konnten sehr flexibel arbeiten."

Migration in neun Wellen

Nach knapp fünf Monaten wurde am 1. Dezember 2020 der erste Pilot in sechs kleinen Gesellschaften umgesetzt, die keine Schnittstellen zu Personal- oder Buchungssystemen und kleine Buchungskreise hatten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wechselten auf das neue System und lernten es mit den ersten Buchungen kennen.

Die restlichen acht Wellen verteilten sich über das Jahr 2021. Dabei wurden jeweils bis zu vier Gesellschaften auf das neue System umgestellt. Am 22. November 2021 waren alle auf SAP S/4HANA migriert. Nach einigen Anpassungen an Schnittstellen wurde das Projekt am 30. März 2022 für beendet erklärt. "Jetzt geht es darum, Workarounds auszubügeln, Prozesse zu verbessern und Lücken zu schließen," so Kulikowsky. Das Ziel sei möglichst viel Standardisierung.

Fachbereiche überzeugen

Neben den Problemen durch die Coronapandemie bewältigten Kulikowsky und sein Team noch eine Reihe anderer Herausforderungen. In den Fachbereichen und der IT bedeutete das Projekt mehr Arbeit im Tagesgeschäft. "Wenn ein Händler ein Problem hat, muss das schnell gelöst werden, egal, ob wir gerade auf SAP migrieren oder nicht. Diese Doppelbelastung mussten wir ständig managen" so der IT-Chef.

Zudem galt es, die Belegschaft aus den Fachbereichen zu überzeugen. "Nach 20 Jahren im alten System hatten einige Kollegen Schwierigkeiten, sich an die neue Oberfläche und die Prozesse in der Cloud zu gewöhnen," berichtet der CIO. Dazu veranstaltete die Projektleitung wöchentliche Meetings mit den Business Units, um die Abläufe, Fragen und Probleme zu besprechen.

In den Phasen, in denen bestimmte Gesellschaften live gingen, waren die zuständigen Buchhalter bei jedem dieser Treffen dabei. Sie machten auf Spezialthemen oder -anforderungen aufmerksam und halfen dabei, Lösungen zu erarbeiten.

Zudem gab es eine Fehlertracking-Liste, die zweimal pro Woche bearbeitet wurde. Darin sammelte das Team Fragen, Ängste, Sorgen und Anmerkungen, adressierte sie und zeigte Lösungen auf.

Wechselbad SAP-Standards

Ein Hauptanliegen der IT für die neue Landschaft war es, möglichst viel zu standardisieren. "Die Geschäftsbereiche sollten weniger abhängig von der IT werden," so Kulikowsky. Im alten System und vor allem im Retail-Bereich gab es viele Sonderfunktionen. Auch hier nutzte der IT-Chef Workshops mit den Fachbereichen, um herauszufinden, für welche Anforderungen es Standardsoftware von SAP gab.

Knapp 90 Prozent des neuen ERP-Systems läuft mittlerweile auf Standardsoftware. An einigen Stellen gab es Schwierigkeiten mit den Lösungen von SAP, so der CIO.

In ersten Testläufen und Demonstrationen seitens SAP und des Implementierungspartners habe es so ausgesehen, als würden die Cloud-Module für alle Use Cases der ANWR passen. Im Tagesgeschäft merkte das Team um Kulikowsky jedoch, dass die Software einige Probleme bereitete. "Wir haben bei der Auswahl nicht genau genug geprüft, so dass uns erst im laufenden Projekt aufgefallen ist, dass elementare Funktionen nicht rund laufen," so Kulikowsky. Gehaltsabrechnungen etwa konnten nicht nahtlos eingebunden werden.

Insgesamt waren etwa 35 interne und ein Dutzend externe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an dem Projekt beteiligt. Sie haben rund 35 Schnittstellen zwischen SAP und anderen Systemen gebaut. "Vor allem die Anbindung des Personalmanagementsystems HCM an S/4 ist eine Katastrophe," sagt der CIO. Standardintegrationen aus dem alten System seien im neuen nicht mehr vorhanden, so dass kritische Informationen nicht in die Cloud übertragen werden. So seien Rechnungen etwa ohne Rechnungsdatum importiert worden oder das SAP-System habe gesetzliche Anforderungen an die Finanzbuchhaltung nicht in den Prozessen abgebildet.

"Einige SAP-Lösungen haben sich mit den eigenen Cloudschnittstellen schwergetan. In dem Fall wäre es genauso aufwändig gewesen, eine Nicht-SAP-Lösung anzubinden," sagt Kulikowsky. Dagegen sei die Integration der Sales-und-Service-Cloud C4C in HANA sehr einfach verlaufen. Das deute darauf hin, dass die Walldorfer in HCM nicht mehr investierten, obwohl das Produkt bei vielen Unternehmen noch im Einsatz sei. Dadurch leide die Kundenfreundlichkeit.

Zudem hapere es bei der Performance. Außerhalb der Testumgebungen breche die Leistung einiger Cloud-Apps oft ein. "Unsere Belegschaft ist mittlerweile eine Nutzererfahrung wie zuhause gewohnt und hat damit höhere Ansprüche an die Lösungen im Office," so der IT-Chef. Breche die Performance im laufenden Betrieb ein, habe die Konzern-IT wenig Einfluss. Dann sei man auf SAP angewiesen.

Platz für Neues

Trotzdem sieht Kulikowsky bereits die Vorteile der Migration. So ist etwa der Zahlungsverkehr schlanker geworden: "Den Prozess, um einen Kontoauszug einzulesen, haben wir automatisiert, so dass die Kollegen ihn nicht mehr eintippen müssen. Das spart Zeit." Alle Buchhalter nutzen nun ein einziges System ohne Sonderlösungen. Das verschafft der IT mehr Zeit für Innovationen. Zusätzliche Entwicklungen ließen sich ohne das alte Banksystem einfacher und schneller realisieren.

Im nächsten Schritt will Kulikowsky etwa die Datenqualität verbessern. Die neuen Prozesse konsolidieren die eingehenden Informationen automatisch über Schnittstellen. Allerdings gebe es dort noch einige Fehler, so dass Ungenauigkeiten aus den Quellsystemen in das Cloud-ERP übertragen würden.

Es werde aber noch eine Weile dauern, bis der volle Umfang der Verbesserungen sichtbar ist, so der IT-Chef. "Die neuen Abläufe gehen zwar schneller, aber die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen Zeit, um sich einzuarbeiten und alte Pfade zu verlassen."

Klare Linie und Vertrauen

Für Kulikowsky war es in dem ehrgeizigen Projekt erfolgsentscheidend, eng mit den Fachbereichen zusammenzuarbeiten. "Das war kein reines IT- oder Fachbereichsprojekt, sondern eine gemeinsame Anstrengung," so der CIO. "Alle Beteiligten kannten die Anforderungen und mögliche Hindernisse von Anfang an."

Zudem hätten alle eine klare Vorstellung vom Zielzustand gehabt und auch von den Prioritäten während des Projekts. "Wir hatten drei Maßgaben von den Business Units: Rechnungen bezahlen und stellen sowie die Steuervoranmeldung müssen unbedingt permanent funktionieren," erklärt Kulikowsky. Das habe das Projektteam stets leisten können.

Des Weiteren pocht der IT-Chef auf Vertrauen zum eigenen Team: "Die Experten machen das! Klar muss der Zeitdruck aufrechterhalten werden, aber wenn ein Kollege unsicher ist, ob wir tatsächlich mit etwas live gehen können, nehmen wir das Risiko auf und planen zwei Wochen mehr ein."

Beim nächsten Großprojekt will der CIO mehr kommunizieren und den Informationsaustausch verbessern.: "Der Flurfunk unter den Kollegen fiel durch die virtuelle Arbeit weg, das haben wir unterschätzt." Für die Zukunft denke er über ein hybrides Modell nach: Zwei bis drei Tage im Office, der Rest in Telearbeit. "So hätten wir zum einen den nötigen Austausch, zum anderen könnten die Kollegen konzentriert und ungestört zu Hause arbeiten."