Ein Beispiel aus der Praxis

Fortschritt unerwünscht

13.04.2016
Von 
Gudrun Happich ist seit rund 20 Jahren Führungskräfte-Coach sowie Sparringspartnerin für Top-Manager und Leistungsträger in Schlüsselpositionen. Die Diplom-Biologin und Inhaberin des Galileo Instituts für Human Excellence blickt selbst auf langjährige Führungserfahrung zurück und war unter anderem als Geschäftsführerin verantwortlich für mehr als 1.000 Mitarbeiter im DACH-Raum. Gudrun Happich ist Autorin mehrerer Bücher.
Was ist nur in vielen Unternehmen los? In ihrer Außenkommunikation preisen sie moderne Führung, Offenheit und flache Hierarchien. Intern werden Führungskräfte, die genau das umsetzen wollen, mit allen Mitteln torpediert.

In meinen Führungskräftecoachings begegnen mir in letzter Zeit verstärkt frustrierte Leader. Vor Jahren haben sie ihre Karriere begonnen, waren und sind erfolgreich. Aufgebrochen mit modernen Führungsidealen beißen sie sich allerdings spätestens auf der oberen Führungsebene an der Realität die Zähne aus. Wer ihre Erzählungen hört, muss zu dem Schluss kommen: An der Spitze vieler Unternehmen sitzt ein Persönlichkeitstypus, der jede Entwicklung und damit auch jeden Fortschritt ablehnt und fürchtet.

Gute Ideen zu Veränderungen stoßen nicht bei allen Firmenleitern auf Zuspruch.
Gute Ideen zu Veränderungen stoßen nicht bei allen Firmenleitern auf Zuspruch.
Foto: Gustavo Frazao-Shutterstock.com

Stellvertretend für viele andere Beispiele sind folgende Erfahrungen einer Klientin in der IT-Branche. Sie zeigen, dass moderne Lösungen selbst dort torpediert werden, wo sie sich schon erfolgreich in der Praxis bewiesen haben.

Ein internationales IT-Unternehmen klagte über eine hohe Mitarbeiterfluktuation und schlechte Zahlen. Eine Klientin von mir wurde zur Leiterin des Standorts Deutschlands berufen. Frau K. ist eine hochintelligente, sehr moderne Macherin. Althergebrachte Hierarchien und Prozesse warf sie kurzerhand über den Haufen. Stattdessen setzte sie auf ein Miteinander in selbstorganisierten Einheiten, kurze Kommunikationswege und Transparenz. Sie schaffte es so innerhalb eines Jahres den Umsatz um 20 Prozent zu steigern und den Mitarbeiterweggang auf null zurückzufahren.

Statt Lob folgt Bestrafung

Die normale Reaktion darauf wäre gewesen: "Toll! Wie haben Sie das gemacht? Vielleicht ist das auf alle unsere Standorte übertragbar."
Wissen Sie, was stattdessen passiert ist?
Die Frau wurde kaltgestellt. Man zahlte sie ein Jahr weiter, ohne dass sie ihren Arbeitsplatz betreten durfte. Am Ende wurde es so hingedreht, dass sich auch unter ihrer Leitung die Zahlen nicht wesentlich verbessert hätten - was nach der einjährigen Absenz auch nicht mehr der Fall war. Was ist hier passiert? Warum wurde eine Führungskraft entlassen, welche die viel zitierten modernen Führungsideale lebte und damit auch noch erfolgreich war?

Angst und Misstrauen

Ich bewege mich hier im Reich der Spekulation.
Zum einen denke ich, dass meine Klientin den anderen Standorten einen Spiegel vorgehalten hat: "Wenn die das schafft, dann müssten wir das auch schaffen können." Statt nun den Schritt in Richtung Veränderung zu gehen, wurde der Wandel in Person von Frau K. einfach kaltgestellt.

Ich vermute, dass der Antrieb hinter diesem Verhalten Angst ist. Angst vor dem Verlust der eigenen Position, vor der Zukunft, vor Veränderung. Sie nährt sich vom Misstrauen: Gegenüber den Mitarbeitern, gegenüber den Kollegen, möglicherweise auch gegenüber der eigenen Fähigkeit, sich auf Neues einzulassen. Ich kann Unternehmenslenkern nur dringend raten, sich derartige Verhaltensmuster genau anzuschauen und sie Schritt für Schritt zu ändern. Sonst werden sie ihre besten Leistungsträger verlieren und den Anschluss an die Zukunft verpassen.

Was betroffene Leader tun können

Frau K. hat nach diesem Erlebnis beschlossen, sich selbstständig zu machen. Zunächst arbeitete sie eine Zeit als Beraterin, dann gründete sie ein eigenes Unternehmen. Und tatsächlich - auch hier funktioniert ihr moderner Ansatz, das Institut floriert.

Selbstständigkeit ist ein Weg, der für manche, sicher aber nicht für alle, richtig ist. Viele Führungskräfte fühlen sich ihrem Arbeitgeber allen Schwierigkeiten zum Trotz verbunden. Eine Möglichkeit ist es, sich innerhalb des Unternehmens mit Gleichgesinnten zu vernetzen, Allianzen zu schmieden, politisch zu taktieren und so Schritt für Schritt sozusagen eine "Revolution von innen" zu beginnen.

Ist dies nicht möglich, kann ein Arbeitgeberwechsel die einzige Alternative zur Anpassung sein. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass in einem anderen Unternehmen nicht per se bessere Rahmenbedingungen herrschen. Also gilt es genau zu prüfen: Oft sind es die kleineren und mittelständischen Firmen, die Werte wie Vertrauen, Offenheit und Selbstorganisation nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis leben. (bw)