Führungspersönlichkeit

Es gibt einen Führungskräftemangel

07.03.2023
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Sabine Thiemann ist Principal bei der Executive-Search-Boutique i-potentials und verantwortet im Schwerpunkt Suchmandate für CxO-Positionen. Sie ist Leadership-Expertin mit mehr als 20 Jahren Erfahrung in der Besetzung von Top-Führungspositionen. Im Laufe ihrer Karriere hat Sabine Thiemann vorwiegend mit Großunternehmen und internationalen Konzernen zusammengearbeitet. Bei i-potentials berät sie auch Organisationen aus dem transformierenden Mittelstand und Scale-Ups jeweils mit PE-Beteiligung.
In ungewissen Zeiten brauchen Manager nicht nur fachliche Kompetenz, sondern auch starke persönliche Qualitäten. Was reife Führungspersönlichkeiten auszeichnet.
Gefragt sind Führungskräfte, die Organisationen und Teams durch die unsichere Zeit navigieren können.
Gefragt sind Führungskräfte, die Organisationen und Teams durch die unsichere Zeit navigieren können.
Foto: Matej Kastelic - shutterstock.com

Das Jahr 2022 war ein von Krisen gebeuteltes Jahr: Durch anhaltende Lieferketten-Probleme, Krieg, Inflation und Fachkräftemangel manifestierten sich mit Blick auf die ungewisse Zukunft auch in der Führungsebene Unsicherheiten. Für Organisationen, die ohnehin schon ein hohes Maß an Komplexität zu bewältigen haben, erschwert die Rezession das Planen zukünftiger Entwicklungen. Doch was bedeutet zukunftsfähige Führung, wenn niemand absehen kann, wie eben diese Zukunft aussieht? Und wie sollten Organisationen bei der Besetzung vakanter Top-Management-Positionen auf die anhaltenden Unwägbarkeiten reagieren?

Mehr denn je benötigen Führungskräfte in dieser Zeit nicht nur fachliche Kompetenz, sondern insbesondere ein hohes Maß an persönlicher Reife. Während Manager Ressourcen und Prozesse planen und Spezialisten die Aufgaben erledigen, liegt der Fokus des C-Levels auf Strategie und Orientierung. Davon hängen Gestaltungsspielraum und Tätigkeiten von Managern und Spezialisten ab.

Status-Quo-Bewahrer sind out

Welche Auswirkungen haben nun die extremen Unsicherheiten auf Strategie und Orientierung und welche Konsequenzen birgt dies für Führungskräfte? Zunächst einmal muss sich die Strategie danach richten, agil auf Unwägbarkeiten reagieren zu können. Flexibilität ist ein hohes Gut, die letzte Stunde der Status-Quo-Bewahrer hat endgültig geschlagen.

Doch um agil und flexibel zu bleiben, ohne dass Chaos ausbricht, müssen Führungspersönlichkeiten Orientierung geben. Übergeordnete Ziele und das Eintreten für grundsätzliche Prinzipien sind der Türöffner dafür, dass Führungskräfte Kontrolle abgeben und einzelne Mitarbeitende selbst mehr Verantwortung übernehmen können - und Organisationen auf diese Weise flexibler agieren können.

Persönliche Reife

Und eben dieser Mut, Verantwortung abzugeben und seinen Mitarbeitenden zu vertrauen, erfordert persönliche Reife. Denn Führung in unsicheren Zeiten bedeutet mehr denn je auf das Team, statt auf das eigene Ego zu setzen. Es werden nur jene Organisationen die Krise meistern, deren Teams jetzt erst recht an einem Strang ziehen. Um beim Bild zu bleiben: Führung gibt die Richtung vor, in die jeder Einzelne zieht.

Reife Führung bedeutet aber auch, sich nicht vor schwierigen Entscheidungen zu drücken. Es sind Persönlichkeiten gefragt, die Verantwortung übernehmen, auch wenn niemand von uns in die Glaskugel blicken kann. Unentbehrlich dafür, um Mitarbeitende und Teams an seiner Seite zu wissen, ist zudem ein Maximum an Transparenz und Ehrlichkeit. Jede Entscheidung aufrichtig zu kommunizieren und die eigenen Motive und Beweggründe zu nennen. Diese Ehrlichkeit geht so weit, dass Organisationen das Risiko in Kauf nehmen, einzelne Mitarbeiter zu verlieren, wenn sie sich nicht mit den Kernprinzipien einer Organisation identifizieren können.

Ehrlichkeit, Empathie und Vertrauen in seine Mitmenschen sind daher längst keine "soften Skills" mehr, sondern zentrale Persönlichkeitsmerkmale zukunftsfähiger Führung. Schlussendlich streben alle Menschen einer Organisation nach dem gleichen Ziel: Die Krise als Chance zu begreifen.

Reife Führungspersönlichkeiten gelingt es, auch in außergewöhnlichen Drucksituationen ihr eigenes Ego zugunsten des kollektiven Erfolgs hinten anzustellen. Statt auf ihren eigenen Status zu schauen, haben sie das große Ganze im Blick. Ihr Denken und Handeln ist geprägt von dem Willen, permanent weiterlernen zu wollen und dem Wissen, nicht alles kontrollieren zu können.

Wie identifizieren Unternehmen solche Führungskräfte?

Während im Besetzungsprozess von Management-Positionen Case Studies, Persönlichkeitstests und kognitive Leistungstests noch Usus sind, ist die Professionalisierung des Besetzungsverfahrens auf Ebene der Vorstände und Geschäftsführer seltener. Dies ist sicherlich zum einen auch dem Umstand geschuldet, dass trotz Rezession und Inflation nicht nur ein Fachkräftemangel, sondern auch ein Führungskräftemangel besteht und sich der Trend zum Kandidatenmarkt manifestiert hat.

Hinzu kommt der signifikante Einfluss des persönlichen Netzwerkes gepaart mit dem (Irr-)Glauben, durch die genannten Instrumente vermeintliche "Lieblingskandidaten" zu verprellen. All das führt dazu, dass diagnostische Verfahren und rationale, strukturierte Auswahlprozesse einem informellen "Durchwinken" von Neuzugängen weichen.

Thomas-Prinzip

Mit teils drastischen Folgen: Je höher die zu besetzende Position, desto größer die Tragweite der Besetzung. Und wenn nach dem Thomas-Prinzip der Thomas mit dem anderen Thomas ein kurzes Interview unter vier Augen führt, steigt nicht unbedingt die Wahrscheinlichkeit, dass die Führungspersönlichkeit dem Anforderungsprofil entspricht. Erst recht nicht angesichts der immensen Herausforderung, die uns unsichere Zeiten stellen.

Spätestens die aktuelle Krise sollte daher den Entscheiderinnen und Entscheidern endgültig die Augen öffnen. Analog zu den häufig schon strukturierten Best Practices für Besetzungsprozesse auf zweiter und dritter Führungsebene sollten auch auf Vorstandsebene Case Studies und kompetenzbasierte Interviews angewandt und gegebenenfalls durch kognitive Leistungstests und Persönlichkeitstests ergänzt werden.

Unternehmen, die das gesamte Spektrum an diagnostischen Tools einsetzen, erhöhen die Chance, dass Kandidaten den Anforderungen eines Vorstandsposten gewachsen sind und dazu beitragen, Organisationen und Teams durch die unsichere Zeit zu navigieren.

Bei einem näheren Blick erübrigt sich auch die Furcht, Kandidaten zu verprellen: Denn ein solcher Besetzungsprozess gibt überdies auch wertvolles Feedback für Kandidaten selbst: über den eigenen Entwicklungsstand, ihre Persönlichkeit, was ihnen gegebenenfalls noch fehlt, um eine angestrebte Position erfüllen zu können und wo sie im Sinne ihrer eigenen reflektierten Entwicklung Zeit investieren sollten.