Viele Unternehmen haben Erfahrungen in einzelnen agilen Projekten gesammelt, stehen aber vor der Aufgabe, Agilität auch auf Unternehmensebene zu skalieren. Das stellt sie vor große Herausforderungen, die tief greifende Veränderungen mit sich bringen. Am Ende resultiert sie in einer radikalen Veränderung von Strategien, Werten, Strukturen, Prozessen, Arbeitsweisen und schließlich der Unternehmenskultur. Denn Agilität ist deutlich mehr als sich das Etikett "agil" auf sein Moleskine-Management-Buch zu kleben, in der Hoffnung, dass die Werte und Prinzipien dadurch schon irgendwie im Unternehmen Einzug halten werden.
Allein der Gedanke an diese Entwicklungen jagt vielen Verantwortlichen kalte Schauer über den Rücken. "Agilität ja, aber soll sich doch erst einmal die Welt draußen verändern", ist oft noch ein typisches Denkmuster in vielen Betrieben. Fakt ist jedoch, dass sich die Welt da draußen bereits in einem umfassenden Transformationsprozess befindet. Der Grund: Es gilt, sich ständig an einen sich schnell verändernden Markt anzupassen oder vom Markt gefegt zu werden. Nokia lässt grüßen. Die Frage ist, wann und wie man sich dieser Veränderung und Transformation stellt - und nicht ob.
Top-Management muss agile Strutkuren unterstützen
Skalierung und agile Transformation im Großen gelingt dadurch, dass die entstehenden agilen Enklaven in Unternehmen zum geeigneten Zeitpunkt durch das Management gestützt und getragen werden. Die Unterstützung der obersten Führungsebene ist der Schlüssel zu Veränderungen, zur Festlegung der Richtung und zur Abwehr der unvermeidlichen Bedrohungen. Diese Hilfestellung wird anfangs noch nicht so sehr benötigt, aber spätestens dann, wenn die Lawine losgetreten wurde. Wenn sich die Unternehmensspitze jedoch daran macht, "agil" als Blaupause zu implementieren, und die Leute zu mehr Agilität zu zwingen, ist der Wurm schon im Apfel. Wird die agile Veränderung zu sehr von oben getrieben, läuft sie Gefahr, nur als die nächste Befehls- und Steuerungswelle wahrgenommen zu werden. Die Pseudodelegation der Verantwortung nach unten wird im Unternehmenssystem wahrgenommen, und die Ebenen darunter ducken sich weg, bis der nächste Managementtrend als Sau durchs Dorf getrieben wird.
- Vision, Werte und Sinnstiftung als Leitplanken des Erfolgs
Prägen Vision und Werte meinen Arbeitsalltag? Kenne ich meinen Beitrag zum Unternehmenserfolg? Empfinde ich meine Arbeit als sinnstiftend? - Feedback und Fehlerkultur als Grundlage der Zusammenarbeit
Wie schaffen wir mit konstruktivem Feedback mutiges Verhalten? Wie werden Konflikte als Ressource genutzt? Wie werden wir durch eine Fehlerkultur erfolgreicher? - New Leadership ermöglicht starke Teams
Wie entwickeln Führungskräfte High-Performance-Teams? Wie schaffen es die Führungskräfte, Mitarbeiter zu fördern? Wie gelingt es, erfolgreich in virtuellen Teams zu agieren? - Neues disruptives Denken ermöglicht Innovation
Wie werden experimentelle und disruptive Prozesse gelebt, um Innovationen zu fördern? Ist lebenslanges Lernen bei den Mitarbeitern verankert? Wird lösungsorientiertes Denken gefördert?
Theoretisch könnte die agile Transformation also auch von jemandem auf der untersten Unternehmensebene angestoßen werden. Dort besteht jedoch die Schwierigkeit, dass sich diese im Detail des täglichen Geschäfts verliert, nicht gesehen wird, was über die eigene Einheit hinausgeht, und oftmals die organisatorische Vernetzung fehlt, um breitere Unterstützung zu mobilisieren.
In der Konsequenz bedarf die agile Veränderung im Großen also der mittleren Führungsebene als Anstoßfaktor, weil sie sich in einer Position zwischen Topmanagement und operativer Ebene befindet. Oft sind gerade auf diesen Ebenen die Champions unter den Führungskräften angesiedelt, die agile Veränderung als einen Lösungsweg für die heutigen Herausforderungen der Geschäftswelt sehen. Sie sind aus Überzeugung bereit, sich für das agile Gedankengut stark zu machen und für die agile Idee zu kämpfen, egal was passiert.
Die Champions berücksichtigen sieben Erfolgsfaktoren zur Skalierung des agilen Gedankenguts im Unternehmen:
1. Dringlichkeit
Agilität um der Agilität Willen wird nicht erfolgreich sein. Es bedarf deshalb eines Anlasses. Dabei geht es nicht nur um die Herausforderungen des täglichen Geschäfts, die mit Hilfe agiler Arbeitsweisen verändert werden. Es dreht sich vielmehr auch um die Themen dahinter, die sich ganz plötzlich und immer schneller ergeben. Im Zentrum stehen Antworten auf die folgenden Fragen:
Was wollen Sie verändern?
Was ist der Grund, für den Sie sich ändern wollen?
Welche Werte und welchen Nutzen wollen Sie schaffen?
Was sind die Schwächen, die Sie beseitigen möchten?
Welche Möglichkeiten werden dadurch geschaffen?
Was passiert in der Geschäftswelt, das Sie zu Veränderungen zwingt?
Beantworten Sie die Fragen, um einen Anlass für die agile Transformation zu schaffen.
2. Interdisziplinarität
Agile Transformation ist durch ein Kontinuum an Kooperation und Collaboration gekennzeichnet. Um erfolgreich zu sein, müssen Sie deshalb ein interdisziplinäres Team bilden - ein Team, das Willen, Fähigkeiten, Ressourcen sowie die Bereitschaft hat, Verantwortung für eine oder mehrere Aufgaben zu übernehmen. Das Team muss agile Elemente kennen und anwenden lernen und in seine Arbeitsweise integrieren. Dies gelingt meist nur durch Unterstützung und Impulse von außen. Der Grund: Teams, die bisher viele Weisungen erhielten, haben anfangs Schwierigkeiten, das richtige Maß an Selbstorganisation und Selbstverantwortung zu finden, das agile Vorgehensweisen fordern.
3. Vision
Worauf arbeitet ein Team hin? Auf eine Veränderungsvision, ein Ziel. Ansonsten gibt es kein funktionierendes Team. Ohne ein greifbares Ziel hätte ein Team keine klare Vorstellung davon, wie es zu erreichen ist. Und wenn es kein Gefühl der Dringlichkeit gibt, würde es nicht die erforderliche Zeit und Mühe aufbringen, um das Ziel zu erreichen. Deshalb ist es wichtig für Sie, Vision und Ziel mit Ihrem Team zu teilen. Sobald dies der Fall ist, übergeben Sie die Verantwortung dafür in das Team. Autonomie, Flexibilität und die Fähigkeit, schnell zu reagieren, ist das, was Sie erreichen wollen.
- Der Über-Versprecher
Speziell in Situationen, in denen immenser Druck herrscht, neigen manche Mitarbeiter dazu, alle möglichen, absurden Versprechungen zu machen. Entweder um Aufmerksamkeit zu erringen oder um dem Vorgesetzten beziehungsweise dem Management zu gefallen. Versprechungen machen ist immer einfach, aber wenn das Mega-Projekt dann eben nicht in den versprochenen zweieinhalb Wochen abgeschlossen ist, ist das ungünstig. <br><br/> Alexander Maasik empfiehlt: "Wenn es ein Teammitglied gibt, das am laufenden Band falsche Versprechungen gibt, von denen bereits vorher klar ist, dass sie unmöglich einzuhalten sind, sollten Sie seine Worte nicht mehr für bare Münze nehmen. Wenn Sie können, verlängern Sie den Zeitrahmen und/oder erhöhen Sie Budget oder Ressourceneinsatz, um Engpässe in anderen Bereichen kompensieren zu können." - Der Verantwortungsschieber
Dann gibt es diese Kollegen, die das Collaboration-Prinzip der geteilten Verantwortung auf ihre ganz eigene Weise interpretieren. Getreu dem Motto: "Die anderen werden es schon richten." Experte Maasik rät in einem solchen Fall dazu, dem betreffenden Mitarbeiter eine definierte Rolle und spezifizierte Verantwortlichkeiten im Team zuzuweisen. Alternativ könnten Sie den Verantwortungsschieber auch fragen, ob es Bereiche gibt, die ihn besonders interessieren. Eventuell könnten Sie so seine Leistungs-Leidenschaft neu entflammen. <br><br/> "Manchmal können Sie solche Leute motivieren, indem Sie ihnen Führungsverantwortung übertragen oder ihnen die Verantwortung für ein bestimmtes Gebiet/Thema übertragen, das ihnen am Herzen liegt. Sollte betreffender Kollege allerdings für ausschweifende Arbeitsunlust bekannt sein, hilft unglücklicherweise nur, ihn (oder sie) im Auge zu behalten und sich wenn nötig an höhere Instanzen zu wenden." - Der Fremdfeder-Connoisseur
Es ist nur menschlich, nach Wertschätzung und Anerkennung zu streben. Aber einige Menschen übertreiben das in einem Ausmaß, dass sie fast schon selbst daran glauben, wenn sie sich fälschlicherweise die Erfolge anderer zuschreiben. <br><br/> Maasik: "Leider nimmt der Enthusiasmus dieser Leute rasant ab, wenn es darum geht, die Verantwortung für Misserfolge zu übernehmen. Um solchen Entwicklungen entgegenzuwirken, empfiehlt es sich, genau festzuhalten, wer für welchen Part der Projektarbeit zuständig ist. So können auch alle Beteiligten sehen, wer welchen Beitrag leistet. Sollte jemand auf das Einheimsen von Lorbeeren bestehen, stellen Sie sicher, dass derjenige auch im Fall des Misserfolgs sein Fett abbekommt." - Der Makel-Magnat
Nicht führt die Team-Moral schneller und geradliniger in den Abgrund, als einer, der ständig nur kritisiert, auf Fehler "hinweist" oder sich über jeden Aspekt eines Projekts nur beschwert. Egal, ob es um Zuständigkeiten, Workloads oder die Strategie geht, der Makel-Magnat hat einfach immer was zu meckern. <br><br/> "Dieses Verhalten ist absolutes Gift für das Teamwork. Diese Leute verbringen mehr Zeit damit, sich zu beschweren, als mit der Erfüllung ihrer Aufgaben. Der beste Weg solche Menschen zu handlen: 1. Ignorieren Sie das Gemecker, 2. Geben Sie ihm so viel Verantwortung, dass er (oder sie) keine Zeit mehr hat rumzujammern." - Der Aussteiger
Manche Leute arbeiten besser alleine. Ist auch gar kein Problem. Außer es handelt sich um Personen, die in Team-Projekte eingebunden sind. Dann könnte jemand, der Anweisungen aus Prinzip ignoriert und affin für Alleingänge ist, das ganze Projekt auf's Spiel setzen. <br><br/> Deswegen empfiehlt auch Alexander Maasik, solche Leute lieber aufs "Abstellgleis" zu befördern: "Finden Sie einen Bereich im Projekt, an dem ein solcher Mitarbeiter alleine arbeiten oder sich selbst verwirklichen kann. So holen Sie das Maximum an Produktivität aus diesem Kollegen heraus und stellen gleichzeitig sicher, dass der Rest des Teams intakt bleibt."
4. Transparenz
Die erste große Veränderung in Richtung Agilität ist die konsequente Ausrichtung auf das Erzielen von konkreten Ergebnissen. Viele Unternehmen beschäftigten sich auf allen Ebenen viel zu lange mit Dingen, die lange unklar bleiben oder das Geschäft nicht wirklich voranbringen. Solche Entwicklungen müssen gestoppt werden. Das Erste, um was sich ein Team deshalb typischerweise Gedanken machen muss, ist der Nutzen, den es schaffen will und wie er transparent gemacht werden kann. Deshalb ist das Messen und Analysieren der erreichten Ergebnisse ein wichtiger Aspekt. Auch die einfachste Nutzenanalyse hilft, Ideen zu verbessern und die Teamarbeit zu schärfen.
5. Unterstützung
Im Allgemeinen scheitern sogar gut geplante agile Transformationen wegen offensichtlicher Hindernisse, wie zum Beispiel Linienhierarchien, Einweg-Kommunikation, Mangel an benötigten Ressourcen etc. Es können auch die bislang gelebten Kommunikations- und Genehmigungsprozesse selbst sein, die Entscheidungen verzögern. Jede Verzögerung ist direkt proportional zum Verlust von Zeit und Geld. Der Schlüssel zur Beschleunigung des Prozesses liegt deshalb in der schnellstmöglichen Beseitigung von Barrieren - nicht in deren Aussitzen. Barrieren können auch kleine Dinge sein, wie zum Beispiel das Fehlen geeigneter Räumlichkeiten, in denen das Team agil arbeiten kann. Sorgen Sie deshalb für die erforderliche Unterstützung, um Barrieren möglichst schnell zu beseitigen.
6. Geschwindigkeit
Oft ist es einfacher, ein neues Veränderungsvorhaben zu starten, als ein laufendes abzuschließen oder für eine gewisse Zeit zu unterbrechen. Der Grund liegt in der menschlichen Natur: Wer etwas Neues anpackt, zeigt Entschlossenheit und Initiative, zwei Eigenschaften, die insbesondere auf Managementebene geschätzt werden, weil sie nervöse Führungskräfte beruhigen. Die Gefahr bei dieser Art von Aktivismus ist, einen Teufelskreis in Gang zu setzen, der in einer "Verstopfung" endet. Die Versuchung liegt nahe, im Sinne von viel hilft viel, eine möglichst große Zahl von Veränderungsinitiativen parallel zu starten. Der parallele Beginn vieler Veränderungen und gegebenenfalls noch die Verteilung der gleichen Ressourcen darauf sorgen in der Regel dafür, dass das System sich mehr und mehr mit sich selbst beschäftigt. Die Erarbeitung verzögert sich.
Genau von diesem Fehler rät die Kanban-Fluss-Philosophie ab: Parallele Tätigkeiten von ein und demselben Team oder von ein und derselben Person werden weitestgehend vermieden: Alle Veränderungen richten sich an den Kapazitäten aus. Die Engpässe entscheiden den Durchsatz. Daraus folgt, dass ein neues Vorhaben erst dann gestartet werden kann, wenn ein Team sein Thema beendet hat oder eine Repriorisierung stattgefunden hat. Die passenden Veränderungen sind "viral" - sie breiten sich ohne Anordnung aus. Achten Sie sich deshalb auf die Geschwindigkeit - dauert es zu lange, ist es ein Zeichen, dass die Zeit vielleicht noch nicht reif ist.
7. Skalierung
Stellen Sie sicher, dass die Erfolge des Teams oder der Teams für das ganze Unternehmen so sichtbar wie möglich sind und wenigstens mit kleinen Gesten gefeiert werden. Erfolgsstorys und das Feiern von Erfolgen hat bei der Veränderungsarbeit eine große psychologische Wirkung. Es generiert einen Pull-Effekt, in dem andere die agilen Veränderungen nachahmen. Jeder Erfolg scheint eine Gruppe leidenschaftlicher Evangelisten zu schaffen, die es kaum erwarten können, anderen in der Organisation zu erzählen, wie gut Agilität funktioniert. Ein Erfolg kann es auch sein, den aktuellen Fehlschlag zu feiern. Unternehmen wie Amazon oder Google führen zum Beispiel sogenannte Fuck-up-Nights durch. Darin berichten Teams über gescheiterte Projekte und ihre Erfahrungen. So können andere davon lernen und vermeiden weitere Fehlschläge.
Die für die agile Transformation erforderliche intellektuelle Energie wird durch kognitive Vielfalt und Interaktionen von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Sichtweisen auf die Welt erzeugt. Dies setzt Erfahrung im agilen Management jenseits der Anwendung von Scrum in Projekten voraus.
Gleichzeitig ist es ebenso gefährlich, externen Ratschlägen sklavisch und dogmatisch zu folgen und sich die Veränderung von anderen diktieren zu lassen. Externe Beratung muss deshalb entgegengenommen, evaluiert und an die lokalen Bedürfnisse angepasst werden. Die Dinge werden nicht einfach so gemacht, weil Außenstehende das sagen, sondern weil sie für diesen Kontext sinnvoll sind. Im Prozess der Anpassung werden Veränderungen in Besitz genommen und in den Alltag integriert.
Auf einen einfachen Nenner gebracht: Wenn Sie die obigen Erfolgsfaktoren im Hinterkopf haben, können Sie herausfinden, wie die agile Transformation im großen Ganzen in Ihrem Unternehmen aussehen kann - oder Sie fragen jemanden, der sich damit auskennt.
Viele Verantwortliche werden oft vom langsamen Tempo der Veränderung entmutigt. Dazu kommen Schwierigkeiten und Rückschläge, die bei der agilen Transformation auftreten. Wenn wir uns andere tief greifende organisatorische Veränderungen im Laufe der Geschichte ansehen, die eine große Anzahl von Menschen betreffen, können wir plausibel argumentieren, dass die agile Bewegung seit 2001 ziemlich schnell voranschreitet. Bereits heute haben Firmen wie Apple, Amazon oder Google Agilität in ihre DNA integriert und damit Industriegiganten des 20. Jahrhunderts von den Spitzenplätzen als größten Organisationen der Welt verdrängt. Es ist also Zeit, damit anzufangen.