Im Jahr 2019 wurde von der EU der European Accessibility Act (EAA) verabschiedet. Der Kern der Richtlinie: Digitale Produkte und Räume wie den Onlinehandel für Menschen unabhängig von ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten zugänglich machen - das heißt, Teilhabe soll auch im virtuellen Raum möglich sein.
Für die Umsetzung der Maßnahmen des EAA haben die Mitgliedsstaaten bis zum 28.06.2022 Zeit - dann müssen die Vorschriften Teil des nationalen Rechts sein. In Deutschland sind sie bereits seit Juli 2021 im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verankert. Allerdings müssen Onlineshops das Gesetz erst ab dem 28. Juni 2025 anwenden. Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigen oder einem Jahresumsatz von höchstens zwei Millionen Euro sind von der Regelung ausgenommen.
Einen neuen Kundenkreis gewinnen
Obwohl die für Privatunternehmen verpflichtende Umsetzung noch drei Jahre entfernt und nicht für alle bindend ist, lohnt es sich für Onlinehändler bereits jetzt, einen Blick auf die Maßnahmen zu werfen. Fast jeder zehnte Deutsche ist laut Statistischem Bundesamt schwerbehindert. Ein Kundenkreis, der daher nicht nur aus ethischen Gründen berücksichtigt werden sollte. Die Maßnahmen tragen außerdem dazu bei, dass die Customer Journey auch für viele andere Kunden vereinfacht wird - was wiederum Kaufabbrüche reduziert und die Konversion erhöht.
Damit Kunden im Onlineshop ihren Einkauf abschließen, müssen sie mit dem Check Out vor allem den letzten Schritt der Customer Journey rasch und einfach durchführen können. Smarte Lösungen setzen sich daher beim Bezahlprozess besonders schnell durch und zeigen dem Handel so frühzeitig auf, welche Trends das Shoppingerlebnis der Kunden zukünftig beeinflussen werden. Doch mit Blick auf die Barrierefreiheit muss sich auch der Check Out noch deutlich verbessern, um für alle Menschen zugänglich zu sein.
Ein Kaufabschluss für Alle
Ob ein Onlineshop barrierefrei ist, lässt sich besonders gut anhand der international anerkannten Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) testen. Sie definieren, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit Webinhalte als barrierefrei gelten - sprich von Nutzern mit motorischen, kognitiven, visuellen und auditiven Einschränkungen problemlos verwendet werden können. Zu den Punkten gehören unter anderem: Die Tastaturbedienbarkeit, das Zwei-Sinne-Prinzip und der Farbkontrast der jeweiligen Seite.
Eine 2020 erschienene Schweizer Studie (PDF) der Stiftung "Zugang für alle", die Onlineshops anhand der WCAGs bewertet, zeigt: 34 Prozent der getesteten Webshops schließen aufgrund ihrer Gestaltung Menschen mit Behinderung von einer Nutzung vollständig aus. Lediglich knapp ein Viertel der Shops sind gut zugänglich.
Vergleichbar geht die Studie des Unternehmens Sapera-Studios von 2021 vor. Zwanzig der größten deutschen E-Commerce Shops werden dabei mithilfe der WCAGs unter die Lupe genommen. Auch hier wird deutlich, dass es in Sachen Barrierefreiheit dringenden Nachholbedarf gibt. So waren nur sieben der zwanzig getesteten Webauftritte Screenreader-tauglich. Bei einem Screenreader handelt es sich um eine Bildschirmvorlese-Software für blinde und sehbehinderte Menschen. Sie gibt die auf dem Bildschirm sichtbaren Bedienelemente und Text entweder akustisch durch Sprachsynthese oder taktil durch eine Braillezeile wieder.
Was es als Händler beim barrierefreien Check Out zu beachten gilt
Bei einem Großteil der getesteten Shops stellten die Schweizer Studienmacher fest, dass Menschen, die auf einen Screenreader angewiesen sind, den Kaufprozess nicht abschließen konnten - was unnötige Kaufabbrüche zur Folge hat. Dabei lassen sich die meisten Funktionen vom PSP (Payment Service Provider) des Händlers einfach umsetzen: So müssen die Eingabefelder der Bezahlseite eindeutig und klar beschriftet sein - was auch den Einkauf der übrigen Kundinnen und Kunden erleichtert und beschleunigt. Außerdem sollten Feld und zugehöriger Text im Backend verknüpft werden.
Sind bestimmte Felder verpflichtend, ist dies in vielen Shops ausschließlich visuell gekennzeichnet. Und auch bei Fehlermeldungen leuchtet das Eingabefeld nur rot auf - für Sehbehinderte wird es unmöglich, sich den schönen Pullover, der im Warenkorb liegt, zu kaufen. Damit der Check Out Screenreader-tauglich ist, sollten also entsprechende Codes ins Formular eingebettet werden. Sie sorgen dafür, dass Pflichtfelder nicht nur durch ein Sternchen als solche erkennbar sind, sondern der Screenreader stattdessen "erforderlich" vorliest oder es in eine Braillezeile übersetzt - 2-Sinne-Prinzip erfüllt.
Der unsichtbare Check Out
Mit den kleinen Logos von Visa oder PayPal sollen die Kunden im Check Out direkt erkennen können, welche Zahlarten zur Auswahl stehen. Doch wie soll das funktionieren, wenn sie die Bildchen nicht oder kaum sehen können? Auch für diesen Fall gibt es eine simple Lösung: Um für den Screenreader erkennbar zu sein, braucht es einen Alternativtext, der zum Beispiel unter dem Bild steht. Eine kleine Veränderung, die ganz einfach für mehr Teilhabe sorgt.
Bei einer Sehbehinderung sind die Betroffenen außerdem oft auf den High Contrast Mode angewiesen. Er ermöglicht es, die Bildschirmfarben anzupassen, damit Inhalte besser sichtbar werden. Ist der Check Out darauf nicht ausgelegt, werden Eingabefelder und Logos unsichtbar - das Bezahlen wird zur Unmöglichkeit.
Tastaturbedienbarkeit - Ein Check Out ohne Mausklick
Besonders Menschen mit motorischen Einschränkungen sind beim Onlineeinkauf auf ihre Tastatur angewiesen. Das bedeutet für den Webshop: Alle Inhalte, die die Kunden interaktiv nutzen, müssen ohne Maus ausschließlich mit der Tastatur bedienbar sein. Außerdem sollte der Kunde im Check Out klar erkennen können, in welchem Feld des Formulars er sich befindet - zum Beispiel, indem das Element visuell hervorgehoben wird.
Bei einem der Onlineshops, die die Schweizer Studie testete, endet die Customer Journey im Warenkorb: Tastaturnutzer kommen nicht bis zur Bezahlseite, da das Drücken der Tabulatortaste nicht weiterführt. Ein deprimierendes Erlebnis, das sowohl zum Kaufabbruch führt als auch den Shop für zukünftige Einkäufe unattraktiv macht - ein Kundenkreis, der gerne im Web einkauft, geht auf dem Weg zum Check Out verloren.
Im E-Commerce gibt es zwar keine zu kleinen Gänge und es muss auch keine unhandliche Einkaufstasche getragen werden, doch dennoch begegnen Menschen mit Behinderung während der virtuellen Shoppingtour immer wieder Barrieren. Beim Check Out lassen sich viele davon mit ein paar Programmierungsänderungen einfach beheben. Hinzu kommt, dass Händler damit ohne großen Aufwand neue und treue Kunden gewinnen und auch für die übrigen Shopper die Customer Journey einfacher machen: Das neue Handy landet also nicht nur im Einkaufskorb des Onlineshops, sondern schließlich auch bei mehr Menschen in der Hosentasche - Teilhabe und Konversion erhöht. (fm)