Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf unseren Alltag? Welche Schlüsselqualifikationen benötigen Unternehmen für die digitale Transformation? Diese und andere Fragen beantworten fünf Experten im Gespräch mit Dr. Oliver Janzen.
Dr. Oliver Janzen:Wie weit sind wir eigentlich mit der Digitalisierung – ist das nicht alles noch Zukunftsmusik?
Dr. Knut Woller, Bereichsleiter Betrieb Systeme, gkv informatik: Industrielle Revolutionen hängen nicht von großen Einzelentwicklungen wie der Dampfmaschine ab, sondern von der Konvergenz verschiedener Technologien, wie man es beispielsweise an der Entwicklung der Fotografie ablesen kann – von der Camera obscura über die Erfindung des Rollfilms bis zum Niedergang der Kamerahersteller. Auch heute stehen wir mitten in einer Konvergenz von unterschiedlichen Technologien. Insofern: Nein, Digitalisierung ist keine Zukunftsmusik, sondern seit Jahren ganz präsente Realität!
Janzen: Wird mit den aktuellen Erwartungen dessen, was auf uns zukommt, nicht übertrieben?
Dr. Knut Woller: Ich denke nicht. Digitalisierung verändert nicht nur das Arbeitsleben und die IT, sondern auch uns Menschen selbst. Computergestützte Design- und Fertigungsverfahren führen in der Medizintechnik von der Krücke zum überlegenen Designer-Körperteil. Bei den Eröffnungsfeiern der letzten Paralympics sahen wir eine junge Athletin mit Unterschenkelprothesen – sie trug ein Kleid aus dem 3-D-Drucker und tanzte Samba mit einem deutschen Industrieroboter. Das ist die Realität, in der wir leben. Das ist heute möglich. Mehr noch: Es ist machbar und industrialisierbar. Algorithmen verändern die Welt – und uns mit.
Harald Wenger, CEO, soffico GmbH: Ich erwarte, dass einer der größten Umbrüche im Rahmen der Digitalisierung im Gesundheitswesen stattfinden wird. Bis dato war der Patient ein reiner Leistungsempfänger. Aber durch die neuen Medien rückt er mehr und mehr in den Mittelpunkt. Patienten werden zu informierten Patienten und dadurch wird sich das Bild des Arztes wesentlich verändern. Dem Arzt müssen zukünftig mehr Informationen zur Verfügung gestellt werden, die sich aus der Geschichte und dem Umfeld des Patienten ergeben. Patienten erzeugen zunehmend Daten – beispielsweise durch die sogenannten Wearables –, die auch in Forschung und Entwicklung genutzt werden können. Die im Gesundheitswesen anstehenden Veränderungen betreffen uns alle, wir sollten uns dessen auch bewusst werden.
Janzen: Unternehmen, die durch Digitalisierung neuen Kundennutzen stiften, gewinnen am Markt – aber was passiert dadurch mit Wertschöpfungsketten und den beteiligten Playern?
Professor Michael Kleinaltenkamp, Freie Universität Berlin: Digitalisierung hat im Wesentlichen zwei Auswirkungen: Zum einen werden Produkte und Dienstleistungen digitalisiert. Diese Entwicklung hat schon vor über 20 Jahren begonnen und ist eigentlich schon abgeschlossen, denn viele Produkte, sei es im Bereich Film, Foto oder Musik, sind schon digitalisiert und werden auch weiterhin in digitalisierter Form angeboten. Und zum anderen ermöglicht es die Digitalisierung, die Koordinationskosten für die Erstellung von Produkten und Dienstleistungen zu senken. Dadurch ergeben sich große Herausforderungen und Auswirkungen auf die Wertschöpfungsstrukturen, weil Wertschöpfungsvolumina von den Konsumgüteranbietern zu Business-to-Business-Anbietern verlagert werden. Gleichzeitig entwickeln sich dadurch aber auch viele neue Geschäftsmöglichkeiten für die Anbieter in diesem Bereich. Diese machen quasi die Koordinationskosten, die bei den Unternehmen auf den verschiedenen Wertschöpfungsstufen anfallen, zu ihren eigenen Produktionskosten. Und mit den dafür eingesetzten Technologien und den von ihnen erbrachten Dienstleistungen können sie neue Geschäfte eröffnen und Chancen am Markt nutzen.
Janzen: Das klingt interessant und nach großen Veränderungen. Können Sie uns ganz konkrete Beispiele hierfür nennen?
Professor Michael Kleinaltenkamp: Automobilhersteller bieten heute Fahrzeuge an, die in hohem Maße entsprechend den speziellen Wünschen ihrer Kunden hergestellt werden. Um die zusätzlichen Koordinationskosten, die durch diese Customization verursacht werden, nicht ins Uferlose wachsen zu lassen, wird mittlerweile der überwiegende Anteil der Informationen, die dafür bei den verschiedenen Prozessschritten übertragen werden müssen, in digitaler Form transferiert. Siemens etwa hat bei der Hannover Messe 2008 für die Technologien und Dienstleistungen, die das Unternehmen für die Automobilindustrie anbietet, mit dem Slogan geworben: „Wie lässt sich die Produktion so steuern, dass individuelle Kundenwünsche bezahlbar werden?“
Dipl.-Ing. Gerald Höhne, Ehemals CIO HOMAG und SMA Solar Technology: Ein weiteres Beispiel kann ich aus meiner Tätigkeit bei der HOMAG geben: Die Industrie arbeitet daran, „Losgröße 1“ anbieten zu können. Das heißt: Durch die vernetzte Produktion und durchgängige Digitalisierung der Konfigurations- und Fertigungsprozesse können Kunden ihr Möbelstück online konfigurieren. Es wird dann genau ein Mal in dieser Konfiguration hergestellt. Insbesondere bei den Services erfolgt eine fundamentale Veränderung. Mit der vorausschauenden Wartung werden Ausfallzeiten für die Hersteller weiter reduziert und die Produktionsabläufe gesichert. Hier erkennt man ein weiteres Mal den Nutzen der Technologien IoT, Cloud und Big Data: Mit der Sensorik (IoT) werden die Daten in der Cloud gesammelt und schließlich aufbereitet. Gerade für mittelständische Unternehmen wären die Investitionen dafür zu hoch; dies aber als Service einzukaufen, ist für sie machbar.
Janzen: Welche Schlüsselqualifikation brauchen Unternehmen, um nicht zu den Verlierern der digitalen Transformation zu gehören?
Jürgen Klute, Executive Consultant, DST consulting GmbH: Digitale Transformation betrifft jeden, ist unglaublich schnell und führt zu massiven Änderungen und Umwälzungen. Unternehmen müssen vor allem schnell vergessen – sonst gehen sie unter. Es gibt ein eindrucksvolles Beispiel für den Tod durch zu langsames Vergessen: Das Mann-Gulch-Desaster, das 1949 im US-Bundesstaat Montana 13 Feuerwehrmänner das Leben kostete. In der Analyse des Unglücks stellte sich hinterher heraus, dass die Feuerwehrmänner trotz ihrer guten Ausbildung und der Anweisung, in einer ausweglosen Situation alle Ausrüstung zurückzulassen und nur ihr nacktes Leben zu retten, genau darin versagten: Sie nahmen alles mit – und hatten es nicht geschafft, in der Krise das jahrelang antrainierte Verhalten zu vergessen und schnell umzulernen. Was heißt das für die digitale Transformation und ihre unternehmerischen Spielfelder Führung, Mitarbeiter und Organisation? Vor allem die Führungsmannschaft muss sich im schnellen Vergessen üben und sich in Richtung horizontale Führung, über Organisationen und Unternehmensgrenzen hinweg, entwickeln.
Gerald Höhne: Dem kann ich nur zustimmen: Eine erfolgreiche digitale Transformation beruht auf einer Kulturveränderung in den Unternehmen – Mitarbeiter brauchen in der Zukunft also vollkommen andere Skills, um ihren Rollen gerecht zu werden. Es wird sehr viel mehr Geschäftsprozess-Know-how von ihnen gefordert als bislang. Sie müssen Teams führen können, sie müssen agile Methoden kennen und dürfen nicht mehr nach den Verfahren aus der Vergangenheit arbeiten. Das ist eine der Kernherausforderungen, die wir mit der Kulturveränderung durch diese Transformation auch in die IT überführen müssen.
Janzen: Welche Skills müssen Mitarbeiter in Zukunft mitbringen, worauf müssen Mitarbeiter sich einstellen?
Dr. Knut Woller: Die meisten von uns werden nicht mehr das ganze Leben bei einer Firma arbeiten, denn die Firmen bestehen nicht mehr lange genug, um ein gesamtes Berufsleben darin zu verbringen. Weil auch die Tätigkeiten sich immer schneller verändern, werden sich Phasen des Arbeitens mit Phasen des Lernens lebenslang abwechseln.
Jürgen Klute: Bei den Mitarbeitern braucht es mehr Da Vincis – also Mitarbeiter, die hybride Mehrfachkenntnisse haben, idealerweise eine Kombination aus BWL, Technik und Informatik. Oder in anderen Worten: Ingenieure, die ebenso Businessmodelle entwickeln können. Auch die Organisation muss schnell vergessen können und sich von den alten Organisationsformen verabschieden. Es gilt neue, fluide, flexible Formen anzunehmen, um die Komplexität der digitalen Transformation erfolgreich beherrschen zu können.
Janzen: Was bedeutet dies aus Ihrer Sicht für die IT-Organisationen und die Rolle der CIOs?
Gerald Höhne: Nun, gerade die IT-Leitung hat jetzt die einmalige Chance, sich sehr viel enger mit dem Geschäft, mit dem Business zu vernetzen und dort die Dinge zu gestalten und zu verändern – etwas, was wir schon seit Jahrzehnten fordern. Ich denke, dass die Ausbildung und auch die Akquisition von neuen IT-Mitarbeitern in den nächsten Jahren sehr schwierig werden wird. (haf)