Eine punktuelle Veränderung ist noch kein Wandel und die Vermeidung von Papier und manuellen Tätigkeiten ist noch keine "Digitale Transformation". Professor August-Wilhelm Scheer, der sich seit Jahrzehnten mit der Prozessoptimierung in Unternehmen befasst, empfahl auf der diesjährigen Hannover Messe Industrie (HMI) auf die Frage, ob sich die deutsche Industrie in einem digitalen Wandel befindet, eine gründliche Begriffsklärung.
Denn auch wenn die Begriffe Digitalisierung und Digitale Transformation im alltäglichen Sprachgebrauch häufig synonym verwendet werden, beschreiben sie für den Prozessspezialisten, Wissenschaftler und Unternehmer "zwei grundlegend unterschiedliche Vorgehensweisen". Viele Betriebe behaupteten, sich digital zu transformieren, doch bei genauerem Hinsehen handele es sich häufig lediglich um die digitale Abbildung bestehender Prozesse und eben nicht um eine Transformation des Geschäftsmodells.
Nutzt ein Unternehmen zum Beispiel die Möglichkeit, sämtliche Objekte entlang eines Auftragsprozesses von der Bestellung bis zur Bezahlung und ordnungsgemäßen Verbuchung zu digitalisieren, so wird der gesamte Prozess durch Software automatisiert. Dieser Vorgang der Prozessautomatisierung ist technologiegetrieben und zielt auf Effizienz. "Das ist mit Digitalisierung korrekt beschrieben, schafft durchaus Nutzen und findet allerorten statt."
Transformation ist disruptiv
Eine echte Digitale Transformation hingegen entstehe aus dem Wunsch nach einer besseren Effektivität und wird auf der strukturellen Ebene initiiert, an deren unterer Ebene digitale Prozesse stehen. Scheer: "Der viel umfänglicheren und durch disruptive Veränderungen geprägten Digitalen Transformation eines Unternehmens liegen strategische Überlegungen zugrunde. Moderne Technologie ist nur der Enabler." Es gehe bei Digitaler Transformation also nicht nur um die Frage, ob ein Prozess automatisiert werden könne, sondern darum, ob der Prozess in der aktuellen Form überhaupt noch sinnvoll oder ganz neu zu entwickeln sei.
Im Zuge dessen entständen nicht nur innovative Startups, sondern auch neue Geschäftsbereiche in Traditionsunternehmen, die über das bisherige Produkt- oder Serviceangebot weit hinausgingen oder sich grundlegend davon unterschieden. Die Verfügbarkeit an technologischen Innovationen gebe den Anstoß, Geschäftsmodelle oder Prozesse vollkommen neu zu entwickeln und signifikant zu erweitern.
Bei einem Prozess wie der Auftragserfassung müsse man sich laut Scheer dann grundsätzlichere Fragen stellen: "Ist es nach wie vor zielführend, dass Kunden Bestellinformationen per Fax, E-Mail oder per Post übermitteln?" Es gelte zu entscheiden, ob das noch den Bedürfnissen entspricht. Mit seinem Beratungsunternehmen Scheer GmbH macht er die Erfahrung: "Die Nachfrage des Kunden besteht heute eher nach einer Bestellmöglichkeit aus einer App oder einem Internet-Shop, die neue Wege der direkten Kommunikation eröffnet." Dieser Weg ist nicht durch die verfügbare Technik ausgelöst. "Man löst ein Problem auf neue Art und bedient sich dabei der Technik."
Individuelle Produkte, kürzere Lieferzeiten, höhere Qualität
Scheer, der in den achtziger Jahren als Gründer der IDS Scheer wegweisend an der Entwicklung und Umsetzung von Business Process Management (BPM) beteiligt war, zeigt auf, wie umfassend eine solche Transformation ausfallen kann: "Ein Hersteller von Maschinen braucht nicht nur eine Strategie für seine künftigen intelligenteren Produkte. Er braucht auch eine Smart Factory und ein neues Logistikkonzept. So kann er Anforderungen der Kunden nach individuelleren Produkten, kürzeren Lieferzeiten, transparenter Logistik und hoher Qualitätssicherung erfüllen. Gleichzeitig sollte er neue digitale Dienstleistungen für die Überwachung, Steuerung und Wartung seiner Produkte anbieten."
Wichtig sei es, hierzulande Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Überlegung, Systematik und Zielsetzung der beiden Ansätze, Digitalisierung und Digitale Transformation, grundverschieden sind. "Mit der CD hat die Musikindustrie einst ein digitales Medium geschaffen. Das hat sie nicht daran gehindert, die Digitale Transformation der Branche zu verschlafen." Er appelliert daher dazu, sich nie mit gelungener Digitalisierung zu begnügen, sondern die weitaus größeren Chancen der Digitalen Transformation in den Blick zu nehmen.
Das IoT ist in der Industrieproduktion angekommen
Die deutsche Industrie sei mit dem Konzept Industrie 4.0 früher in die digitale Transformation gestartet als viele europäische Nachbarn, meint der ehemalige Bitkom-Präsident, der bis heute in staatlichen Gremien aktiv ist. "Das Internet of Things (IoT) und auch die Mensch-Maschine-Kommunikation ebenso wie die Maschine-zu-Maschine Kommunikation sind in der hiesigen Industrieproduktion bereits angekommen." Die Datenflut, die entsteht und ausgewertet werden kann, schaffe ganz neue Geschäftsmodelle und Anwendungen. "Dies führt etwa dazu, dass ein Hersteller von Maschinen heute zum Dienstleister wird, der die Maschinenleistung, aber nicht mehr das Gerät verkauft." Die Maschinenwartung verändere sich, weil aufgrund der verfügbaren Daten vorausschauend agiert werden kann.
- Siegfried Wagner, Managing Director bei in-integrierte informationssysteme
„Eine gehypte Technologie erweckt häufig bei Entscheidern überzogene Erwartungshaltungen, die in der Realität nicht alle erfüllt werden können. Das gilt auch für IoT-Technologie. Am Ende hat nur das Erfolg, wofür diese Technologie auch in der Praxis einen Mehrwert bietet, wie etwa durch Kosteneinsparungen, Risikominimierung und zusätzliche Einnahmequellen durch neue Services oder attraktive Businessmodelle. Unternehmensintern lassen sich IoT-Effekte in der Regel schneller realisieren, etwa bei Optimierungen in der Supply Chain, in der Produktion, beim Energieverbrauch und bei der Qualitätssicherung. Das bietet sich auch an, um sich mit dem Thema vertraut zu machen. Wesentlich anspruchsvoller ist der externe nutzbringende Einsatz in eigenen Produkten und Services. Je nach Art der Produkte ist es weder technisch möglich noch zielführend, von diesen Daten einzusammeln, wenn sich daraus keine Mehrwerte generieren lassen. IoT-Projekte erfordern in der Regel nicht nur technische Veränderungen. Um damit wertschöpfend und nachhaltig finanziell erfolgreich zu sein, müssen Firmen auch neue Geschäftsmodelle und dazu passende interne Prozesse konzipieren und umsetzen. Auch an den Vertrieb werden wesentlich höhere Anforderungen gestellt, wenn statt eines Produkts nun ein Service verkauft werden soll. Der Vertrieb muss dazu die Prozesse des Kunden verstehen und ihm den Nutzen klar machen. Hinzu kommt, dass gerade im kommerziellen Bereich Mietmodelle und eine kontinuierliche Datenanbindung an den Servicelieferanten von den Nutzern noch nicht akzeptiert werden. Das wird sich aber nach und nach ändern.“ - Dr. Myriam Jahn, Geschäftsführerin Q-loud, ein Unternehmen der QSC AG
„Beim Thema Internet of Things haben zahlreiche Unternehmen erst einmal die Quick Wins realisiert, mit denen sich schnelle Erfolge und ein schneller Return on Invest eingestellt haben. Jetzt geht es an die komplexeren Themen, an das Überdenken bestehender und Entwickeln neuer Geschäftsmodelle. Hierbei greifen die Unternehmen tief in ihre eigene Organisation ein. Und es gilt, richtungsweisende Entscheidungen zu treffen: Services wie Künstliche Intelligenz oder Predictive Maintenance sind in der Cloud beheimatet. Die Lösungen und die Produkte, die im IoT den Mehrwert der Geräte und Maschinen ausmachen, werden also virtuell. Das ist ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel - auch in der internen Organisation der Unternehmen. Technisch sind eigentlich alle Komponenten vorhanden, um erfolgreiche IoT-Produkte und -Lösungen anbieten zu können. Sowohl IT-seitig als auch bei den Übertragungstechnologien können wir mittlerweile aus dem Vollen schöpfen. Die größte Herausforderung ist es jetzt, diese Technologien richtig zu wählen, einzusetzen und die Organisation auf sie abzustimmen. „Die organisatorische Herausforderung ist daher die wesentlich größere: Mit der Vernetzung werden Geräte und Maschinen intelligent. Die Alleinstellungskriterien der Produkte sind damit nicht nur haptisch, sondern auch virtuell. Ob Kunden dann diese Produkte erwerben, hängt von bislang nicht dagewesenen Faktoren ab. Und das bedeutet auf allen Ebenen des Herstellers einen tiefgreifenden organisatorischen Wandel, der sich von der Entwicklung bis hin zur Vermarktung und den finanztechnischen Prozessen zieht.“ - Marten Schirge, Vice President of Sales bei Device Insight
„Viele Unternehmen setzen den Fokus bei IoT-Projekten auf kurzfristige Erfolge. Neue Geschäftsmodelle wie ´Pay-per-Use´ erfordern häufig Change Management im Unternehmen, das ist langwierig und kostenintensiv. Unternehmen profitieren durch die Digitalisierung bestehender Geschäftsprozesse und das IoT vor allem von der gesteigerten Effizienz, von der Erschließung neuer Kundenpotenziale durch neue und bessere Serviceangebote und von höherer Endkunden-Zufriedenheit. Außerdem erhalten Unternehmen einen direkten Kontakt zu ihrem Kunden. Das IoT ebnet den Weg von der analogen zur digitalen Welt: Vom Maschinenhersteller zum Anbieter digitaler Services. Die Erfolgsquote leidet, da IoT-Projekte häufig von Fachabteilungen direkt umgesetzt werden, ohne vorher das Know-How von Partnern zu integrieren. Das führt oft zu Unsicherheiten und zu Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Zudem führt eine fehlende zentrale IoT-Strategie häufig dazu, dass Fachbereiche Insellösungen aufsetzen und diese wiederum nicht immer zum übergreifenden Unternehmenserfolg beitragen.“ - Jürgen Pollich, Head of Business IoT/M2M bei Telefónica in Deutschland
„Das Internet of Things ist keine einmalige Aufgabe, sondern ein fortlaufender Prozess. Letztlich unterschätzen viele Firmen die Abhängigkeiten und Einflussfaktoren auf den Erfolg eines IoT Projektes. Das kann schnell zu Verzögerungen führen. Hier ist es wichtig, mit Partnern zusammenzuarbeiten die bereits Erfahrungen in IoT-Projekten gesammelt haben. Wir bei Telefónica bieten die notwendige Unterstützung an und haben bereits weltweit viele Projekte begleitet. Um bestehende Wettbewerbsvorteile zu sichern oder zukünftige zu erschließen, ist es wichtig, dass sich Unternehmen früh mit IoT in ihrem spezifischen Setup auseinandersetzen. Denn die dabei gesammelten Erfahrungen, die stark mit den eigenen Unternehmensabläufen und dem eigenen Personal verknüpft sind, lassen sich nicht einfach zukaufen. Mit Blick auf Wettbewerbsvorteile bedeutet dies, dass ein Unternehmen, welches durch einen Konkurrenten, der IoT beispielsweise erfolgreich zur Effizienz-Steigerung einsetzt, in einen nachteilige Position gerät, nicht unmittelbar und durch den Zukauf eines Tools entsprechend nachziehen kann. Aus meiner Sicht ist daher die frühzeitige aktive und fokussierte Auseinandersetzung mit dem Internet of Things für Firmen alternativlos.“ - Jan Rodig, CEO / Managing Partner, tresmo GmbH
„Prozessoptimierungen und Effizienz-getriebene IoT-Projekte sind wichtig. Sie haben den Charme, dass sich ihr ROI in der Regel vergleichsweise einfach kalkulieren lässt. Bei smarten Produkten und IoT-Geschäftsmodellen sind die Business Cases oft vager, dennoch entscheiden diese Projekte aus meiner Sicht die Zukunft der deutschen Volkswirtschaft. Da sollte noch deutlich mehr passieren! Die stark steigende Anzahl von IoT-Projekten deckt sich absolut mit dem, was wir am Markt sehen. Beim Projekterfolg muss man vorsichtig sein - einerseits wurden bereits `Low-hanging fruits´ geerntet, andererseits experimentieren viele Firmen auch zunehmend und probieren auch mal was aus. Das würde ich nicht überbewerten.“ - Christian Förg, VP Sales Industries EUNO, Alcatel-Lucent Enterprise
„Der übergeordnete Business Treiber bleibt die Transformation der Unternehmen hin zu Digital Business. Hierbei spielen wiederum sichere ‚IoT-enabling infrastructure‘ sowie Big Data Analytics eine herausragende Rolle.“
Scheer ist sich nicht zuletzt angesichts der Fülle der auf der HMI vorgestellten Lösungen sicher: "Wenn wir es nun bei der künstlichen Intelligenz schaffen, aus der Phase der Forschung und Pilotierung in konkrete, monetarisierbare Anwendungen zu kommen, und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, dann werden wir weiterhin in der Champions League der Digitalen Transformation spielen." Scheer hält es dabei für möglich, dass Unternehmen, "wie wir sie heute kennen und die erst seit wenigen hundert Jahren existieren", in manchen Bereichen durch Marktplatzorganisationen verdrängt werden.
In solchen Organisationen werden Ressourcen projektbezogen und kurzfristig zusammengezogen. "Das Internet erleichtert die Koordination auch weit entfernter Beteiligter. Insofern können sich Unternehmen zum Beispiel verändern, indem sie um ihren Kern herum eine Freelancer-Organisation aufbauen, um ad hoc auf zusätzlich benötigte Ressourcen zugreifen zu können."
Obwohl die deutsche Automobilindustrie oft als zu behäbig dargestellt wird, sieht er gerade dort den klaren Willen zur Transformation, zum Beispiel bei VW. Das Unternehmen startet gerade in Hamburg mit seiner Tochter Moia ein groß angelegtes Pilotprojekt, um mit E-Bussen für eine bessere Mobilität in Städten zu sorgen. "Und wer hätte noch vor ein paar Monaten gedacht, dass ein deutscher Traditionskonzern den Weg in die Cloud gehen würde, um dort alle Beteiligten des Autobaus, des Vertriebs, der Wartung, der Kundenbetreuung und die Kunden selbst miteinander zu vernetzen?" Allerdings hätte er sich gewünscht, "dass dieses Industrie-4.0.-Projekt maßgeblich von deutschen Partnern gestemmt würde."
Es benötige strategisches Denken, Wissen über neue digitale Konzepte, Methoden und Technologien sowie Mut: "Es ist schwierig, alte, bisher erfolgreiche Geschäftsmodelle in Frage zu stellen und hinter uns zu lassen. Aber genau darum geht es."